Als der Arzt Raymond Carver mitteilte, er hätte nur noch wenige Monate, wusste er, es blieb nur noch Zeit für Gedichte. In ihnen findet sich alles aus seinen Stories wieder: die unerwarteten Wendungen, die Lakonie. Der Leser ist gebannt von der Aufmerksamkeit und Gelassenheit, mit der Carver den Lauf der Welt betrachtet.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Staunend über Carvers Verskunst lässt dieser Band Nico Bleutge zurück. Den nahen Tod des Autors spürt er zwar zwischen den Zeilen, doch von Wehleid keine Spur. Dafür von Liebe, sinnlich, dunkel und schwer, mit bisweilen melancholischen Bildern, etwa: "Die Zeit ist ein Silberlöwe". Intensiv findet Bleutge die Stücke, erzählerisch dem Unsäglichen nachspürend, dem Jenseits, der Abendluft, der Liebsten im Schlaf. Wenn Carver Gedichte von Milosz und Tanströmer unter die eigenen mischt, empfindet der Rezensent das als folgerichtig, wie Echos oder Kommentare zu Carvers Texten. Dass die Originaltexte im Band fehlen, kann Bleutge nur verschmerzen, da die Übertragungen von Helmut Frielinghaus ihm so kongenial erscheinen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2013Polarstern
des Lebens
Der für seine Storys bekannte
Raymond Carver als Lyriker
Das Wort Liebe ist ein tückisches Ding. Obwohl ein allgemeiner Begriff, versucht es etwas ganz und gar Flüchtiges und Besonderes zu fassen. Der 1988 verstorbene amerikanische Schriftsteller Raymond Carver ließ sich von diesem Paradox nicht schrecken. Bei ihm füllt sich das Wort im Nu mit Sinnlichkeit, wird dunkel, schwer – schüttelt sich sogar. Und fängt an zu wachsen und zu zittern, bis es loskriecht und sich „zuckend / durch diese Seiten bewegt“.
Gedichte waren für Raymond Carver ständige Begleiter. Ihnen verdankte er die Berührung mit der Literatur, seinen „Polarstern“ für das eigene Leben, wie er es in einem kleinen Essay genannt hat. Und Verse las er an beinahe jedem Tag. Gedichte standen aber auch, bei aller Liebe zur Form der Erzählung, am Anfang seines eigenen Schreibens. „Winter Insomnia“ heißt einer der ersten Bände, der schon etwas von Carvers Faible für die Erlebniswelten zwischen Wachen und Schlaf andeutet. Als im Jahr 1987 eine schwere Krebserkrankung ausbrach, tauchte er noch einmal ein in die „Sommernebel“ der Lyrik. So entstand eine Sammlung von intensiven Stücken, die an die frühen Verse anschließt und in der es Carver doch gelingt, das Gedicht mit seiner Idee vom Erzählen anzureichern.
Immer wieder sucht er Momente oder Erscheinungen auf, die das kaum Greifbare spürbar werden lassen. Und in denen die Welt durchlässig wird für das, was er die „andere Seite“ nennt. Es ist jene eigenartige Sphäre, die den Raum der Imagination ebenso meinen kann wie das Jenseits des Lebens. Ein bloßer Schimmer in der Abendluft, Dinge, kurz vor dem Verschwinden – oder die Liebste im Schlaf, wie sie sich „regt und atmet und / wieder schläft, // Teil dieser Welt, und doch / Teil jener“.
Bei so viel Lust an der Kraft von „zwei Welten“ mag es kaum verwundern, dass sich Carver nicht mit den eigenen Texten begnügt. Er mischt sie mit Gedichten von Czeslaw Milosz, Jaroslav Seifert oder Tomas Tranströmer – und vor allem: mit kurzen Stellen aus Erzählungen von Anton Tschechow. Diese fremden Stimmen bilden Echos und Kommentare zu Carvers Zeilen, manchmal erscheinen sie auch wie die fehlenden Teile in einem Zyklus. Wenn Tranströmer die „fünfzehn Sekunden Kampf in der Hölle“ beschreibt, als er beim Aufwachen nicht mehr wusste, wer er war, oder Tschechow von all den „Einzelheiten dieses seltsamen, stürmischen Tages“ spricht, leuchten Momente von Carvers eigener Poetik auf.
Es ist kein Zufall, dass Carver ausgerechnet einen Erzähler am häufigsten in seine Sammlung holt. Einen solchen zudem, der schimmernde Bilder entwirft und mit den Lücken zwischen diesen Bildern spielt. Carver selbst spinnt oft lange Erzählgedichte, die in freien Rhythmen Kindheitsszenen oder Liebesgeschichten auffalten. All dieses „Durcheinander aus den Tiefen der Erinnerung“ gewinnt seine imaginative Kraft aber nicht nur aus den erzählten Details, sondern auch aus Dingen, Zusammenhängen, Resten von Geschichten, die das Gedicht nur aufscheinen lässt. So gleichen die Verse nicht selten jenem Köder, von dem es heißt: „Er tauchte auf, dann / verschwand er, dann war er noch einmal zu sehen, / glitt an der Oberfläche dahin, tauchte wieder unter“.
Überhaupt sind es Motive wie das Angeln, der Fisch oder das Boot, die sich durch den ganzen Band ziehen, hier in einem Vers über die Liebe, dort in einem Dinggedicht. Dabei gelingt es Carver, den nahenden Tod zwischen den Zeilen auftauchen zu lassen, ohne in Rührseligkeit zu enden. Es hat seine traurige Ironie, dass Helmut Frielinghaus, Carvers langjähriger Übersetzer, während der Arbeit an den Gedichten selber schwer erkrankte und nur ein halbes Jahr nach Abschluss seiner Übertragung starb. Bisweilen wünschte man sich, der Verlag hätte den deutschen Gedichten die englischen an die Seite gestellt, um als Leser vergleichen zu können. Doch auch ohne den Blick auf die Originale wird klar, wie gut es Frielinghaus geschafft hat, Carvers ganz eigenen Rhythmus oder seinen gekonnt flapsigen Ton ins Deutsche zu überführen.
„Die Zeit ist ein Silberlöwe“, heißt es einmal nicht ohne melancholischen Beiklang. In der wenigen Zeit, die ihm bis zu seinem Tod im August 1988 noch blieb, vermochte es Carver, aus beinahe allem ein Gedicht zu machen, aus „zerrupft / aussehenden Vögeln“, aus Fensterblicken, ja sogar aus den Notizzetteln, die er in den Taschen des Bademantels fand. Eines der schönsten Gedichte erzählt von einem Paar, das zwei Kammerjäger kommen lässt, um in ihrem Haus all die Bienen, Hornissen und Wespen zu töten, die gleichermaßen zur „Plage“ und zum Schrecken geworden sind. Wie es Carver dabei gelingt, noch im Rascheln und Schaben der Insektenflügel hinter der Wand den Akt des Tötens fühlbar zu machen, ist eine Kunst für sich. Als Leser bleibt man ebenso staunend zurück wie jener Junge aus Carvers Erinnerung, der den Vater gerade mit einer fremden Frau überrascht hat: „verwundert über / die gestotterten Silben, die Wörter, die haften blieben“.
NICO BLEUTGE
Raymond Carver: Ein neuer Pfad zum Wasserfall. Gedichte. Aus dem Englischen von Helmut Frielinghaus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 149 Seiten, 18,99 Euro.
Es ist von tragischer Ironie,
dass der kongeniale Übersetzer
nach diesem Band verstarb
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des Lebens
Der für seine Storys bekannte
Raymond Carver als Lyriker
Das Wort Liebe ist ein tückisches Ding. Obwohl ein allgemeiner Begriff, versucht es etwas ganz und gar Flüchtiges und Besonderes zu fassen. Der 1988 verstorbene amerikanische Schriftsteller Raymond Carver ließ sich von diesem Paradox nicht schrecken. Bei ihm füllt sich das Wort im Nu mit Sinnlichkeit, wird dunkel, schwer – schüttelt sich sogar. Und fängt an zu wachsen und zu zittern, bis es loskriecht und sich „zuckend / durch diese Seiten bewegt“.
Gedichte waren für Raymond Carver ständige Begleiter. Ihnen verdankte er die Berührung mit der Literatur, seinen „Polarstern“ für das eigene Leben, wie er es in einem kleinen Essay genannt hat. Und Verse las er an beinahe jedem Tag. Gedichte standen aber auch, bei aller Liebe zur Form der Erzählung, am Anfang seines eigenen Schreibens. „Winter Insomnia“ heißt einer der ersten Bände, der schon etwas von Carvers Faible für die Erlebniswelten zwischen Wachen und Schlaf andeutet. Als im Jahr 1987 eine schwere Krebserkrankung ausbrach, tauchte er noch einmal ein in die „Sommernebel“ der Lyrik. So entstand eine Sammlung von intensiven Stücken, die an die frühen Verse anschließt und in der es Carver doch gelingt, das Gedicht mit seiner Idee vom Erzählen anzureichern.
Immer wieder sucht er Momente oder Erscheinungen auf, die das kaum Greifbare spürbar werden lassen. Und in denen die Welt durchlässig wird für das, was er die „andere Seite“ nennt. Es ist jene eigenartige Sphäre, die den Raum der Imagination ebenso meinen kann wie das Jenseits des Lebens. Ein bloßer Schimmer in der Abendluft, Dinge, kurz vor dem Verschwinden – oder die Liebste im Schlaf, wie sie sich „regt und atmet und / wieder schläft, // Teil dieser Welt, und doch / Teil jener“.
Bei so viel Lust an der Kraft von „zwei Welten“ mag es kaum verwundern, dass sich Carver nicht mit den eigenen Texten begnügt. Er mischt sie mit Gedichten von Czeslaw Milosz, Jaroslav Seifert oder Tomas Tranströmer – und vor allem: mit kurzen Stellen aus Erzählungen von Anton Tschechow. Diese fremden Stimmen bilden Echos und Kommentare zu Carvers Zeilen, manchmal erscheinen sie auch wie die fehlenden Teile in einem Zyklus. Wenn Tranströmer die „fünfzehn Sekunden Kampf in der Hölle“ beschreibt, als er beim Aufwachen nicht mehr wusste, wer er war, oder Tschechow von all den „Einzelheiten dieses seltsamen, stürmischen Tages“ spricht, leuchten Momente von Carvers eigener Poetik auf.
Es ist kein Zufall, dass Carver ausgerechnet einen Erzähler am häufigsten in seine Sammlung holt. Einen solchen zudem, der schimmernde Bilder entwirft und mit den Lücken zwischen diesen Bildern spielt. Carver selbst spinnt oft lange Erzählgedichte, die in freien Rhythmen Kindheitsszenen oder Liebesgeschichten auffalten. All dieses „Durcheinander aus den Tiefen der Erinnerung“ gewinnt seine imaginative Kraft aber nicht nur aus den erzählten Details, sondern auch aus Dingen, Zusammenhängen, Resten von Geschichten, die das Gedicht nur aufscheinen lässt. So gleichen die Verse nicht selten jenem Köder, von dem es heißt: „Er tauchte auf, dann / verschwand er, dann war er noch einmal zu sehen, / glitt an der Oberfläche dahin, tauchte wieder unter“.
Überhaupt sind es Motive wie das Angeln, der Fisch oder das Boot, die sich durch den ganzen Band ziehen, hier in einem Vers über die Liebe, dort in einem Dinggedicht. Dabei gelingt es Carver, den nahenden Tod zwischen den Zeilen auftauchen zu lassen, ohne in Rührseligkeit zu enden. Es hat seine traurige Ironie, dass Helmut Frielinghaus, Carvers langjähriger Übersetzer, während der Arbeit an den Gedichten selber schwer erkrankte und nur ein halbes Jahr nach Abschluss seiner Übertragung starb. Bisweilen wünschte man sich, der Verlag hätte den deutschen Gedichten die englischen an die Seite gestellt, um als Leser vergleichen zu können. Doch auch ohne den Blick auf die Originale wird klar, wie gut es Frielinghaus geschafft hat, Carvers ganz eigenen Rhythmus oder seinen gekonnt flapsigen Ton ins Deutsche zu überführen.
„Die Zeit ist ein Silberlöwe“, heißt es einmal nicht ohne melancholischen Beiklang. In der wenigen Zeit, die ihm bis zu seinem Tod im August 1988 noch blieb, vermochte es Carver, aus beinahe allem ein Gedicht zu machen, aus „zerrupft / aussehenden Vögeln“, aus Fensterblicken, ja sogar aus den Notizzetteln, die er in den Taschen des Bademantels fand. Eines der schönsten Gedichte erzählt von einem Paar, das zwei Kammerjäger kommen lässt, um in ihrem Haus all die Bienen, Hornissen und Wespen zu töten, die gleichermaßen zur „Plage“ und zum Schrecken geworden sind. Wie es Carver dabei gelingt, noch im Rascheln und Schaben der Insektenflügel hinter der Wand den Akt des Tötens fühlbar zu machen, ist eine Kunst für sich. Als Leser bleibt man ebenso staunend zurück wie jener Junge aus Carvers Erinnerung, der den Vater gerade mit einer fremden Frau überrascht hat: „verwundert über / die gestotterten Silben, die Wörter, die haften blieben“.
NICO BLEUTGE
Raymond Carver: Ein neuer Pfad zum Wasserfall. Gedichte. Aus dem Englischen von Helmut Frielinghaus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 149 Seiten, 18,99 Euro.
Es ist von tragischer Ironie,
dass der kongeniale Übersetzer
nach diesem Band verstarb
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auch ohne die Originale wird klar, wie gut Helmut Frielinghaus Carvers flapsigen Ton ins Deutsche geholt hat Nico Bleutge Stuttgarter Zeitung 20130920