1962 erschien Strukturwandel der Öffentlichkeit, Jürgen Habermas' erstes Buch. In sozialhistorischer und begriffsgeschichtlicher Perspektive profiliert er darin einen Begriff von Öffentlichkeit, der dieser einen Platz zwischen Zivilgesellschaft und politischem System zuweist. Der Strukturwandel reihte sich alsbald ein unter die großen Klassiker der Soziologie des 20. Jahrhunderts und hat eine breite Forschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften angeregt. Und auch Habermas selbst hat sich in späteren Arbeiten immer wieder mit der Rolle der Öffentlichkeit für die Bestandssicherung des demokratischen Gemeinwesens beschäftigt. Angesichts einer durch die Digitalisierung veränderten Medienstruktur und der Krise der Demokratie kehrt er nun erneut zu diesem Thema zurück.
Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle Massenmedien - maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels - zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen. Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung.
Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle Massenmedien - maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels - zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen. Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Peter Neumann hält das neue Buch von Jürgen Habermas für ein Ereignis. Der bereits veröffentlichte Aufsatz zusammen mit einem Interview und einem weiteren Essay lässt sich laut Neumann an Habermas' 60 Jahre alte Einlassungen zum Strukturwandel anschließen. Dass sich inzwischen allerhand verändert hat, ist Neumann klar. Ort des neuen Strukturwandels, erkennt er gemeinsam mit dem Autor, sind die digitalen Plattformen; durch sie sieht Habermas die Demokratie gefährdet. Für Neumann ein "theoriepolitisches Ereignis" insofern, als der Autor jetzt genau jene Institutionen als Trutzburgen der demokratischen Öffentlichkeit erkennt, gegen die er und die Frankfurter Schule dereinst ideologiekritisch zu Felde zogen. Wer Habermas einmal mehr in seiner liebsten Rolle als "Mahner und Warner" erleben möchte, ist hier richtig, meint Neumann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2022Arbeit am Phantomschmerz
Jürgen Habermas diagnostiziert Folgen von Internet und sozialen Medien für die Demokratie und vermeidet dabei die Frage nach der tatsächlichen Aufgeklärtheit des politischen Publikums.
Jürgen Habermas hält einen neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit fest. 1962 hatte er seine Habilitationsschrift unter diesem Titel vorgelegt und damit auch schon sein auflagenstärkstes Buch geschrieben. 1990 hat er in einem Vorwort kommentiert, was inzwischen an Forschung zu seinem Thema vorgelegt worden war: zum Verfall der ursprünglich aufklärerisch gemeinten, bürgerlichen Öffentlichkeit durch die Dominanz von Privatinteressen an Massenmedien. Jetzt buchstabiert er in einem langen Aufsatz die politischen Folgen aus, die das Internet und seine Plattformen für die Demokratie haben sollen. Keine guten.
Für Habermas ist es die wichtigste Aufgabe der Öffentlichkeit, zur demokratischen Willensbildung in Verfassungsstaaten beizutragen. Dem kann etwas abgewinnen, wer den politischen Teil einer Tageszeitung liest oder von den Talkshows im Fernsehen nicht loskommt. Kunden eines Bahnhofskiosks hingegen würde auffallen, wie gering hier der Umfang der zum politischen Nachdenken einladenden Publikationen ist, etwa im Vergleich zu den Ratgebern (Essen, Wohnen, Kleidung, Finanzen, Freizeitsport) und der bloßen Unterhaltung (True Crime, Krankheiten und Heiraten der Stars oder des Adels). Im Fernsehen haben die Abteilungen für Spaß und Spannung jeden Niveaus das Heft ebenfalls in der Hand. Die Talkshow ist keine ideale Sprechsituation.
Insofern müsste die Funktion der Öffentlichkeit allgemeiner gefasst werden, sollen durch sie nicht nur der Leser und Autor Habermas sowie seinesgleichen, sondern auch die Angehörigen des Otto Normalpublikums angesprochen sein. Habermas konzediert das, zieht aber keine Folgerungen daraus.
Er hält fest, der "Konsum" von gedruckten Zeitungen sei drastisch eingebrochen. Damit geht er darüber hinweg, dass auch ein Großteil der mittels des Internets gelesenen Texte aus jenen Zeitungen stammt. Ohne die Lage schönzureden, wird man also zwischen Papierlesern, Lesern überhaupt und den jungen Lesern unterscheiden müssen, die sich vor allem in dem bewegen, was Habermas die "halböffentliche, fragmentierte und in sich kreisende Kommunikation" der sogenannten sozialen Medien nennt.
Habermas stellt sich vor, dass Politik in der Verwirklichung von moralisch gerechtfertigten Ansprüchen besteht. Etwas ist menschen- oder verfassungsrechtlich versprochen, die Realisierung solcher Versprechen wird eingeklagt. Das Debattieren über politische Fragen macht dabei die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer an solchen Debatten wett. Sie können sich auf wenig einigen, aber immerhin darauf, dass diskutiert werden muss. Insofern gibt es zwei Bedingungen für die Annehmbarkeit politischer Entscheidungen in einer säkularen Demokratie: Einbeziehung aller in die Verfahren (Wahlen, Verwaltungsgerichtsprozesse) und der Entscheidung vorausliegende Beratung, in der die "Kraft der Gründe" um rationaler Ergebnisse willen vorgeschaltet ist. Sie soll unter anderem in der Öffentlichkeit stattfinden, in den Massenmedien.
Wie es empirisch um die Aufgeklärtheit des politischen Publikums bestellt ist, dem geht Habermas nicht nach. Die Öffentlichkeit ist für Habermas die gedachte Arena, in der nicht Entscheidungen getroffen, sondern Gründe für Entscheidungen artikuliert werden. Sie eröffnet im besten Fall ein Spektrum möglicher Gesichtspunkte zu einer Frage, das Bürgern ermöglicht, sich ihre Meinung zu bilden. Die Öffentlichkeit bereitet, so verstanden, Wahlen und Parlamentsdebatten vor. Der Diskurs verbessert dabei die Meinungen, weil er sie argumentativem Druck aussetzt. Die Bürger wiederum fassen Vertrauen in diesen Prozess, wenn sie sehen, dass die Politik berücksichtigt, was im Diskurs vorgetragen wurde.
Doch dem ist nicht so, Habermas sagt es selbst. Die Bürger sind nach Habermas nicht nur Staatsbürger, sondern auch - fast meint man, Hannah Arendt zu hören - Gesellschaftsbürger, die sich für Politik nur in zweiter Linie oder gar nicht interessieren. Die Bürgerschaft ist nur begrenzt "aktiv". Dem entspricht das erwähnte Angebot des Bahnhofskiosks, aber auch jenes im Internet. Öffentlichkeit heißt hier viel Musik, Tutorials für Kochen und Sexualität (Pornographie) und Heimwerkertum, heißt Influencer, Prominenzbeobachtung, Vorträge über Aktien, Hafermilch und Heidegger. Ein großes Durcheinander also, das nur zufällig eine Überschneidungszone mit gerade anstehenden politischen Fragen besitzt.
Habermas ist fast gezwungen, hierin die "Entpolitisierung" einer anfangs und in ihrem Wesenskern politisch gemeinten Öffentlichkeit zu erkennen. Das ist ein wenig so, als definiere man Fußball historisch als Arbeitersport und werfe dem gegenwärtig praktizierten dann vor, er sei "entproletarisiert". Für das Verständnis der Massenmedien ist dieser Phantomschmerz nicht ergiebig. Er führt Habermas in anderen Beiträgen auch ganz folgerichtig zu Forderungen wie der nach einer staatlichen Subvention von Zeitungen und eventuell sogar, da wir eine europäische Demokratie haben, ihrer Übersetzung in fremde Sprachen. Denn nur so könnte es zu einer entsprechend europäischen Öffentlichkeit kommen. Allerdings ist der Zeitpunkt gerade ungünstig, sich von einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung der gesamten Öffentlichkeit größere Aufklärungsgewinne zu versprechen.
Die Sorge, die Habermas artikuliert, ist die über eine Medienwelt, in der überwiegend halbprivate, unprofessionelle Mitteilungen eine Rolle spielen, in der also der Diskurs über kollektiv bedeutungsvolle Fragen formlos geworden ist und keine Zentren mehr besitzt, die Qualität kontrollieren würden. In einer schönen Wendung hält Habermas fest, der Buchdruck habe alle zu potentiellen Lesern gemacht, aber wie lange habe es gedauert, bis alle lesen gelernt hätten? Das Internet gibt es seit 1991, Google seit 1998, Twitter seit 2006 und Instagram seit 2010. Es ist also für die Erwartung, dass alle schreiben können, noch zu früh. JÜRGEN KAUBE
Jürgen Habermas: "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 108 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jürgen Habermas diagnostiziert Folgen von Internet und sozialen Medien für die Demokratie und vermeidet dabei die Frage nach der tatsächlichen Aufgeklärtheit des politischen Publikums.
Jürgen Habermas hält einen neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit fest. 1962 hatte er seine Habilitationsschrift unter diesem Titel vorgelegt und damit auch schon sein auflagenstärkstes Buch geschrieben. 1990 hat er in einem Vorwort kommentiert, was inzwischen an Forschung zu seinem Thema vorgelegt worden war: zum Verfall der ursprünglich aufklärerisch gemeinten, bürgerlichen Öffentlichkeit durch die Dominanz von Privatinteressen an Massenmedien. Jetzt buchstabiert er in einem langen Aufsatz die politischen Folgen aus, die das Internet und seine Plattformen für die Demokratie haben sollen. Keine guten.
Für Habermas ist es die wichtigste Aufgabe der Öffentlichkeit, zur demokratischen Willensbildung in Verfassungsstaaten beizutragen. Dem kann etwas abgewinnen, wer den politischen Teil einer Tageszeitung liest oder von den Talkshows im Fernsehen nicht loskommt. Kunden eines Bahnhofskiosks hingegen würde auffallen, wie gering hier der Umfang der zum politischen Nachdenken einladenden Publikationen ist, etwa im Vergleich zu den Ratgebern (Essen, Wohnen, Kleidung, Finanzen, Freizeitsport) und der bloßen Unterhaltung (True Crime, Krankheiten und Heiraten der Stars oder des Adels). Im Fernsehen haben die Abteilungen für Spaß und Spannung jeden Niveaus das Heft ebenfalls in der Hand. Die Talkshow ist keine ideale Sprechsituation.
Insofern müsste die Funktion der Öffentlichkeit allgemeiner gefasst werden, sollen durch sie nicht nur der Leser und Autor Habermas sowie seinesgleichen, sondern auch die Angehörigen des Otto Normalpublikums angesprochen sein. Habermas konzediert das, zieht aber keine Folgerungen daraus.
Er hält fest, der "Konsum" von gedruckten Zeitungen sei drastisch eingebrochen. Damit geht er darüber hinweg, dass auch ein Großteil der mittels des Internets gelesenen Texte aus jenen Zeitungen stammt. Ohne die Lage schönzureden, wird man also zwischen Papierlesern, Lesern überhaupt und den jungen Lesern unterscheiden müssen, die sich vor allem in dem bewegen, was Habermas die "halböffentliche, fragmentierte und in sich kreisende Kommunikation" der sogenannten sozialen Medien nennt.
Habermas stellt sich vor, dass Politik in der Verwirklichung von moralisch gerechtfertigten Ansprüchen besteht. Etwas ist menschen- oder verfassungsrechtlich versprochen, die Realisierung solcher Versprechen wird eingeklagt. Das Debattieren über politische Fragen macht dabei die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer an solchen Debatten wett. Sie können sich auf wenig einigen, aber immerhin darauf, dass diskutiert werden muss. Insofern gibt es zwei Bedingungen für die Annehmbarkeit politischer Entscheidungen in einer säkularen Demokratie: Einbeziehung aller in die Verfahren (Wahlen, Verwaltungsgerichtsprozesse) und der Entscheidung vorausliegende Beratung, in der die "Kraft der Gründe" um rationaler Ergebnisse willen vorgeschaltet ist. Sie soll unter anderem in der Öffentlichkeit stattfinden, in den Massenmedien.
Wie es empirisch um die Aufgeklärtheit des politischen Publikums bestellt ist, dem geht Habermas nicht nach. Die Öffentlichkeit ist für Habermas die gedachte Arena, in der nicht Entscheidungen getroffen, sondern Gründe für Entscheidungen artikuliert werden. Sie eröffnet im besten Fall ein Spektrum möglicher Gesichtspunkte zu einer Frage, das Bürgern ermöglicht, sich ihre Meinung zu bilden. Die Öffentlichkeit bereitet, so verstanden, Wahlen und Parlamentsdebatten vor. Der Diskurs verbessert dabei die Meinungen, weil er sie argumentativem Druck aussetzt. Die Bürger wiederum fassen Vertrauen in diesen Prozess, wenn sie sehen, dass die Politik berücksichtigt, was im Diskurs vorgetragen wurde.
Doch dem ist nicht so, Habermas sagt es selbst. Die Bürger sind nach Habermas nicht nur Staatsbürger, sondern auch - fast meint man, Hannah Arendt zu hören - Gesellschaftsbürger, die sich für Politik nur in zweiter Linie oder gar nicht interessieren. Die Bürgerschaft ist nur begrenzt "aktiv". Dem entspricht das erwähnte Angebot des Bahnhofskiosks, aber auch jenes im Internet. Öffentlichkeit heißt hier viel Musik, Tutorials für Kochen und Sexualität (Pornographie) und Heimwerkertum, heißt Influencer, Prominenzbeobachtung, Vorträge über Aktien, Hafermilch und Heidegger. Ein großes Durcheinander also, das nur zufällig eine Überschneidungszone mit gerade anstehenden politischen Fragen besitzt.
Habermas ist fast gezwungen, hierin die "Entpolitisierung" einer anfangs und in ihrem Wesenskern politisch gemeinten Öffentlichkeit zu erkennen. Das ist ein wenig so, als definiere man Fußball historisch als Arbeitersport und werfe dem gegenwärtig praktizierten dann vor, er sei "entproletarisiert". Für das Verständnis der Massenmedien ist dieser Phantomschmerz nicht ergiebig. Er führt Habermas in anderen Beiträgen auch ganz folgerichtig zu Forderungen wie der nach einer staatlichen Subvention von Zeitungen und eventuell sogar, da wir eine europäische Demokratie haben, ihrer Übersetzung in fremde Sprachen. Denn nur so könnte es zu einer entsprechend europäischen Öffentlichkeit kommen. Allerdings ist der Zeitpunkt gerade ungünstig, sich von einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung der gesamten Öffentlichkeit größere Aufklärungsgewinne zu versprechen.
Die Sorge, die Habermas artikuliert, ist die über eine Medienwelt, in der überwiegend halbprivate, unprofessionelle Mitteilungen eine Rolle spielen, in der also der Diskurs über kollektiv bedeutungsvolle Fragen formlos geworden ist und keine Zentren mehr besitzt, die Qualität kontrollieren würden. In einer schönen Wendung hält Habermas fest, der Buchdruck habe alle zu potentiellen Lesern gemacht, aber wie lange habe es gedauert, bis alle lesen gelernt hätten? Das Internet gibt es seit 1991, Google seit 1998, Twitter seit 2006 und Instagram seit 2010. Es ist also für die Erwartung, dass alle schreiben können, noch zu früh. JÜRGEN KAUBE
Jürgen Habermas: "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 108 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Man muss diesen medialen Blickrichtungswechsel bei Habermas als theoriepolitisches Ereignis betrachten ...« Peter Neumann DIE ZEIT 20220922