In seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der Sprache, dem Denken und der Geistesgeschichte Chinas stellte sich dem Sinologen Jean François Billeter mehr und mehr die Frage, was uns befähigen könnte, sowohl das Gemeinsame als auch das Verschiedene beider Welten deutlicher zu sehen und zu verstehen. Er fragt sich unter anderem, ob sich eine Auffassung des menschlichen Subjektes finden ließe, die den gemeinsamen Grund, auf dem beide Traditionen notwendigerweise stehen, zugänglich machen könnte. Ein Paradigma ist ein erster Versuch, eine solche Auffassung des Subjektes nicht nur als hermeneutisches Hilfsmittel zur Erkundung Chinas zu nutzen, sondern als einen selbstständigen philosophischen Ansatz darzulegen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2017Wie unscheinbar doch das Denken beginnt
Am Ende des Geistes der Körper, aber am Ende des Körpers der Geist: François Billeter erkundet sich und Zhuangzi
Ein Professor sitzt im Café und spürt, wie in ihm, der frei von allen Verpflichtungen etwas geistesabwesend den Gesprächen der anderen Gäste lauscht, allmählich das "souveräne Wohlbefinden" hochkommt, in dem sich regelmäßig eine Leere einstellt und dann fast immer auch eine Idee. So unscheinbar, so alltäglich beginnt diese erstaunliche, staunenswerte Meditation des Genfer Sinologen Jean François Billeter.
Die Entstehung der Gedanken aus einem bestimmten körperlichen Zustand der Leere, die er an sich feststellt, hat weitreichende Konsequenzen. "Bei körperlichen Bewegungen und Arbeiten beobachte man die Seele, bei inneren Gemütsbewegungen und Tätigkeiten den Körper", zitiert Billeter Novalis, um dann noch darüber hinauszugehen und die Trennung der Sphären ganz hinter sich zu lassen. Unter "Körper" versteht er die "Gesamtheit der nicht bewussten Aktivität", der es gelinge, nicht bloß Beobachtungen, sondern auch physische Bewegungen, sei es das Einschenken eines Glas Wassers oder das Spielen einer Violinsonate, zu koordinieren und damit am Ende "natürlich werden zu lassen, was anfangs künstlich war". Billeter nennt diesen Vorgang "Integrierung".
Es sind da also grundsätzliche Fragen der Erkenntnistheorie im Spiel, und man könnte leicht annehmen, dass sich das Büchlein daran verhebt. Doch es ist gerade seine Pointe, dass sich das Schwergewichtige auflöst, wenn man sich nicht vom Selbstlauf der Gedanken zu Systemen und Konstruktionen verleiten lässt, sondern immer wieder die Rückbindung an die winzigsten menschlichen Selbstwahrnehmungen sucht, mit denen das Denken beginnt.
Das kleine Buch ist eine einzige intellektuelle Ermunterung, sich an das zu halten, was man selbst beobachten kann. Von sich persönlich bekennt der Autor, der bis 1999 einen Lehrstuhl für Sinologie in Genf innehatte, bevor er sich ganz aufs Bücherschreiben verlegte, dass er die erste Hälfte seines Lebens damit zugebracht habe, die Ideen anderer auszuprobieren, bis er sich auf die eigenen Wahrnehmungen konzentrierte und diese sich allmählich zu einem eigenen Denken zusammensetzten. So vollführt der Essay eine Kreisbewegung, bei der das eine zwanglos in das andere übergeht: die Beobachtung, wie die eigenen Beobachtungen zustande kommen, in die Überlegung, wie sich das so entstehende Denken zum eigenen Leben verhält, die Erwägung, wie gerade in dieser skrupulös genau bestimmten Subjektivität etwas Allgemeingültiges liegt, in die Schilderung, wie daraus schließlich das kleine Buch geworden ist, das vor dem Leser liegt.
Schon ist man wieder am Anfang, im Café, dem "Ort, wo die Dinge beginnen". Seinen Ansatz und das Buch nennt Billeter unter maximaler Verletzung der Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie "Ein Paradigma" (in Deutschland ist wahrscheinlich nur der Matthes & Seitz Verlag souverän genug, einen solchen Titel zu übernehmen). Ein untergründiger Clou dieses Paradigmas ist nun, dass es, so vollständig und programmatisch es sich aus der eigenen Erfahrung ableitet, zugleich mit der Sicht des alten chinesischen Philosophen Zhuangzi übereinkommt, dem Billeter großartige, im selben deutschen Verlag erschienenen Studien gewidmet hat.
Von Zhuangzi stammt die folgenreiche Forderung, sich mit dem "unendlich Nahen und fast Unmittelbaren" zu beschäftigen, das den meisten Denkern entgehe, und auch die Weigerung, das Bewusstsein und den Intellekt vom Körper zu isolieren - eine in Zeiten wachsenden Vertrauens auf künstliche Intelligenz vielleicht besonders wertvolle Perspektive. En passant gelingt dem Sinologen so der Nachweis, dass auch Einsichten aus einem nicht-westlichen Kulturkreis universell sein können und dass es nicht des Umwegs des Kulturvergleichs oder der Kultursynthese bedarf, um das zu zeigen.
Einen allgemeingültigen Anspruch erhebt nicht zuletzt Zhuangzis Einsicht, dass die durch die menschliche Integrierungsleistung, insbesondere die Sprache, geschaffenen Welten keineswegs die Wirklichkeit als Ganze abdecken und daher nicht als Rechtfertigung für ideologische Kriege missbraucht werden dürfen. "Wenn der Mensch schläft", zitiert Billeter Zhuangzi, "sind seine Geister geballt. Wenn er erwacht, öffnet er sich der Außenwelt, klammert sich an das, was er wahrnimmt, und lässt sich daher täglich in vergebliche Kämpfe verwickeln." Daran, dass das nicht als Relativismus zu verstehen ist, hängt die ganze untergründige Spannung dieses Buchs, das der eigenen Einsicht gerade deshalb so viel Bedeutung beimisst, weil sie Anteil an einer umfassenderen, von ihr selbst nie vollständig zu erreichenden Realität hat.
An einer Stelle schildert Billeter, wie sehr ihn seit einer Begegnung als Gymnasiast der Bildhauer Alberto Giacometti beeindruckt hat: "Er versuchte unablässig, das wirklich Wirkliche wiederzugeben: die Wirkung, die die Präsenz einer Person, Mann oder Frau, in Wirklichkeit auf uns hat." Besser lässt sich diese höchst anregende Selbstbetrachtung nicht zusammenfassen.
MARK SIEMONS
Jean François Billeter: "Ein Paradigma".
Aus dem Französischen von Tim Traskalik. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 118 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Am Ende des Geistes der Körper, aber am Ende des Körpers der Geist: François Billeter erkundet sich und Zhuangzi
Ein Professor sitzt im Café und spürt, wie in ihm, der frei von allen Verpflichtungen etwas geistesabwesend den Gesprächen der anderen Gäste lauscht, allmählich das "souveräne Wohlbefinden" hochkommt, in dem sich regelmäßig eine Leere einstellt und dann fast immer auch eine Idee. So unscheinbar, so alltäglich beginnt diese erstaunliche, staunenswerte Meditation des Genfer Sinologen Jean François Billeter.
Die Entstehung der Gedanken aus einem bestimmten körperlichen Zustand der Leere, die er an sich feststellt, hat weitreichende Konsequenzen. "Bei körperlichen Bewegungen und Arbeiten beobachte man die Seele, bei inneren Gemütsbewegungen und Tätigkeiten den Körper", zitiert Billeter Novalis, um dann noch darüber hinauszugehen und die Trennung der Sphären ganz hinter sich zu lassen. Unter "Körper" versteht er die "Gesamtheit der nicht bewussten Aktivität", der es gelinge, nicht bloß Beobachtungen, sondern auch physische Bewegungen, sei es das Einschenken eines Glas Wassers oder das Spielen einer Violinsonate, zu koordinieren und damit am Ende "natürlich werden zu lassen, was anfangs künstlich war". Billeter nennt diesen Vorgang "Integrierung".
Es sind da also grundsätzliche Fragen der Erkenntnistheorie im Spiel, und man könnte leicht annehmen, dass sich das Büchlein daran verhebt. Doch es ist gerade seine Pointe, dass sich das Schwergewichtige auflöst, wenn man sich nicht vom Selbstlauf der Gedanken zu Systemen und Konstruktionen verleiten lässt, sondern immer wieder die Rückbindung an die winzigsten menschlichen Selbstwahrnehmungen sucht, mit denen das Denken beginnt.
Das kleine Buch ist eine einzige intellektuelle Ermunterung, sich an das zu halten, was man selbst beobachten kann. Von sich persönlich bekennt der Autor, der bis 1999 einen Lehrstuhl für Sinologie in Genf innehatte, bevor er sich ganz aufs Bücherschreiben verlegte, dass er die erste Hälfte seines Lebens damit zugebracht habe, die Ideen anderer auszuprobieren, bis er sich auf die eigenen Wahrnehmungen konzentrierte und diese sich allmählich zu einem eigenen Denken zusammensetzten. So vollführt der Essay eine Kreisbewegung, bei der das eine zwanglos in das andere übergeht: die Beobachtung, wie die eigenen Beobachtungen zustande kommen, in die Überlegung, wie sich das so entstehende Denken zum eigenen Leben verhält, die Erwägung, wie gerade in dieser skrupulös genau bestimmten Subjektivität etwas Allgemeingültiges liegt, in die Schilderung, wie daraus schließlich das kleine Buch geworden ist, das vor dem Leser liegt.
Schon ist man wieder am Anfang, im Café, dem "Ort, wo die Dinge beginnen". Seinen Ansatz und das Buch nennt Billeter unter maximaler Verletzung der Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie "Ein Paradigma" (in Deutschland ist wahrscheinlich nur der Matthes & Seitz Verlag souverän genug, einen solchen Titel zu übernehmen). Ein untergründiger Clou dieses Paradigmas ist nun, dass es, so vollständig und programmatisch es sich aus der eigenen Erfahrung ableitet, zugleich mit der Sicht des alten chinesischen Philosophen Zhuangzi übereinkommt, dem Billeter großartige, im selben deutschen Verlag erschienenen Studien gewidmet hat.
Von Zhuangzi stammt die folgenreiche Forderung, sich mit dem "unendlich Nahen und fast Unmittelbaren" zu beschäftigen, das den meisten Denkern entgehe, und auch die Weigerung, das Bewusstsein und den Intellekt vom Körper zu isolieren - eine in Zeiten wachsenden Vertrauens auf künstliche Intelligenz vielleicht besonders wertvolle Perspektive. En passant gelingt dem Sinologen so der Nachweis, dass auch Einsichten aus einem nicht-westlichen Kulturkreis universell sein können und dass es nicht des Umwegs des Kulturvergleichs oder der Kultursynthese bedarf, um das zu zeigen.
Einen allgemeingültigen Anspruch erhebt nicht zuletzt Zhuangzis Einsicht, dass die durch die menschliche Integrierungsleistung, insbesondere die Sprache, geschaffenen Welten keineswegs die Wirklichkeit als Ganze abdecken und daher nicht als Rechtfertigung für ideologische Kriege missbraucht werden dürfen. "Wenn der Mensch schläft", zitiert Billeter Zhuangzi, "sind seine Geister geballt. Wenn er erwacht, öffnet er sich der Außenwelt, klammert sich an das, was er wahrnimmt, und lässt sich daher täglich in vergebliche Kämpfe verwickeln." Daran, dass das nicht als Relativismus zu verstehen ist, hängt die ganze untergründige Spannung dieses Buchs, das der eigenen Einsicht gerade deshalb so viel Bedeutung beimisst, weil sie Anteil an einer umfassenderen, von ihr selbst nie vollständig zu erreichenden Realität hat.
An einer Stelle schildert Billeter, wie sehr ihn seit einer Begegnung als Gymnasiast der Bildhauer Alberto Giacometti beeindruckt hat: "Er versuchte unablässig, das wirklich Wirkliche wiederzugeben: die Wirkung, die die Präsenz einer Person, Mann oder Frau, in Wirklichkeit auf uns hat." Besser lässt sich diese höchst anregende Selbstbetrachtung nicht zusammenfassen.
MARK SIEMONS
Jean François Billeter: "Ein Paradigma".
Aus dem Französischen von Tim Traskalik. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 118 S., br., 14,- [Euro].
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