Eine Stadt in Aufruhr – Joanne K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall
Nach dem Welterfolg Harry Potter erscheint nun ihr erster Roman für Erwachsene: Joanne K. Rowlings "Ein plötzlicher Todesfall" steht der Geschichte über den Zauberschüler Harry in nichts nach. Der Kriminalroman ist spannend und berührend zugleich!
Die Einwohner der Kleinstadt Pagford sind entsetzt über den plötzlichen Tod von Barry Fairweather, der mit Anfang vierzig plötzlich stirbt. Die englische Stadt scheint auf den ersten Blick ruhig und friedlich zu sein, eine Stadt, der Aufregung fremd ist. Doch Schein ist nicht Sein: Hinter der schönen Fassade verbirgt sich Krieg zwischen den Armen und Reichen, Kindern und Eltern, Schülern und Lehrern sowie Frauen und Ehemännern. Mit Barrys Tod wird wieder ein Sitz im Gemeinderat frei – und die Schlacht beginnt. Wer wird den mit Leidenschaft geführten Wahlkampf gewinnen, der voller unerwarteter Offenbarungen steckt?
Nach dem Welterfolg Harry Potter erscheint nun ihr erster Roman für Erwachsene: Joanne K. Rowlings "Ein plötzlicher Todesfall" steht der Geschichte über den Zauberschüler Harry in nichts nach. Der Kriminalroman ist spannend und berührend zugleich!
Die Einwohner der Kleinstadt Pagford sind entsetzt über den plötzlichen Tod von Barry Fairweather, der mit Anfang vierzig plötzlich stirbt. Die englische Stadt scheint auf den ersten Blick ruhig und friedlich zu sein, eine Stadt, der Aufregung fremd ist. Doch Schein ist nicht Sein: Hinter der schönen Fassade verbirgt sich Krieg zwischen den Armen und Reichen, Kindern und Eltern, Schülern und Lehrern sowie Frauen und Ehemännern. Mit Barrys Tod wird wieder ein Sitz im Gemeinderat frei – und die Schlacht beginnt. Wer wird den mit Leidenschaft geführten Wahlkampf gewinnen, der voller unerwarteter Offenbarungen steckt?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2012Die giftigen Wonnen der Gewöhnlichkeit
Endlich können wir lesen, woran Joanne K. Rowling fünf Jahre lang geschrieben hat - am dunklen Zwilling ihrer "Harry Potter"-Bücher. Ihr neuer Roman "Ein plötzlicher Todesfall" aber setzt nicht auf Helden und Abenteuer. Es geht um die politische Botschaft.
Dieser Roman ist in jeder Hinsicht eine Überraschung. Dass Joanne K. Rowling, die phänomenale Schöpferin von "Harry Potter", aus innerer, nicht äußerer Notwendigkeit heraus schreibt, war jedem ihrer Leser klar. Aber dass ihr erstes Nach-"Potter"-Buch die Verbindung zu ihrem bisherigen Werk so entschieden kappen würde, war nicht zu erwarten gewesen.
Dabei lässt sich in "Ein plötzlicher Todesfall" durchaus der erwachsene, dunkle Zwilling von "Harry Potter" erkennen. Mit dem fiktiven Örtchen Pagford im Südwesten Englands erschafft Rowling erneut einen in sich geschlossenen Kosmos. Diesmal jedoch ist er nicht ihrer Phantasie entsprungen. Vielmehr handelt es sich um ein Mikromodell der britischen Gesellschaft und ihrer Probleme. Wo "Harry Potter" eine Feier menschlicher Tugenden war, Mut, Treue und Freundschaft, ist dies ein Wimmelbild all jener Eigenschaften, die das Miteinander schwierig machen, von Aggression, Neid, Verzweiflung, Borniertheit, Heuchelei und Selbstsucht.
"Ein plötzlicher Todesfall" ist ein Roman ohne Hauptfigur; Barry Fairbrother, der einzig rundweg sympathische Charakter, stirbt nach zweieinhalb Seiten. Sein Tod durch ein Aneurysma setzt eine fatale Kette von Ereignissen in Gang, denn Barry war Mitglied des Gemeinderats von Pagford, und nun muss die Leerstelle durch eine Wahl rasch gefüllt werden. Denn viele Bürger von Pagford wittern eine historische Chance: Sie wollen das Schandmal der Sozialsiedlung Fields, die sich vor ihren Toren breitgemacht hat, loswerden und die Verantwortung an die benachbarte Stadt Yarvil zurückgeben. Fairbrother, der in Fields geboren war, hatte sich mit Erfolg um die Integration der Siedlung bemüht. Insofern ist sein plötzlicher Tod für seine Gegner ein Glücksfall.
Um die Fülle der Figuren und ihre Beziehungen zueinander einigermaßen zu ordnen, wünscht man sich eine Überblickstafel, doch Rowling scheint entschlossen, es ihren Lesern diesmal schwerzumachen. Von Haushalt zu Haushalt wandert ihr Blick, und anhand der jeweiligen Reaktionen auf die Nachricht von Barry Fairbrothers Tod präsentiert sie uns ihre exemplarische englische Kleinstadt.
Eine Überblickstafel wäre hilfreich
Da sind zunächst die Familien der drei Männer, die sich im Laufe des Buches um Barrys Sitz im Gemeinderat bewerben wollen: Simon Price, gewalttätiger Ehemann von Ruth und verhasster Vater von Andrew und Paul, macht am liebsten krumme Geschäfte. Auch Colin Wall, stellvertretender Schulleiter der Gesamtschule Winterdown, von den Schülern wegen seiner peniblen Art "Pingel" gerufen, hat etwas zu verbergen. Seine Frau Tessa leitet die Beratungsstelle der Schule, sein Sohn Stuart, genannt "Fats", ist der beste Freund von Andrew Price. Die beiden Sechzehnjährigen haben vor allem zwei Themen: Sex und die Wut auf ihre Väter. Dritter Kandidat ist Miles Mollison, ein gutsituierter Anwalt und Familienvater. Seine Frau Samantha ist Inhaberin eines schlechtgehenden Dessousgeschäfts; eine Frau, für deren Sehnsüchte und wogenden Busen Pagford zu klein ist, zumal dort auch ihre ungeliebten Schwiegereltern leben. Miles' Vater Howard führt das Feinkostgeschäft des Ortes als dessen heimliche Machtzentrale; seine Frau Shirley, die oberste Klatschtante von Pagford, arbeitet ehrenamtlich im Krankenhaus, wie es Wohlstandsehefrauen eben gut ansteht.
Dieser kleinbürgerlichen Mittelstandshölle gegenüber stehen die Weedons, die in Armut und völliger Verwahrlosung in Fields leben: die drogenabhängige Mutter Terri, die früher anschaffen ging, hat den Entzug wieder nicht geschafft. Darum bleibt es ihrer Tochter Krystal überlassen, einer Klassenkameradin von Andrew und Fats, sich um den vierjährigen Robbie zu kümmern. Krystal ist die heimliche Heldin des Buches; ein Mädchen, das gar nicht anders kann, als die Gewalt und Rohheit, mit der es aufgewachsen ist, weiterzugeben; die sich, weil ihr Körper ihr nichts bedeutet, widerstandslos von den Jungs befummeln lässt. Doch Krystal tut alles, damit ihr kleiner Bruder nicht wieder in eine Pflegefamilie muss, sie ist mutig und hilfsbereit und als Sportlerin ein Naturtalent. Rowling zeichnet Krystal als Opfer der Ungnade der Geburt; einzig Barry Fairbrother hatte sie nicht als Abschaum abgestempelt, sondern sich um sie bemüht. Für die übrige Mittelklasse Pagfords aber ist das soziale Gewissen etwas, das man mit Schecks für weit entfernte Ungerechtigkeiten beruhigt, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.
Diejenigen, die diese Einstellung auszubaden haben, sind ihre Kinder. Den Jugendlichen gilt das eigentliche Augenmerk der Autorin: neben Andrew, Fats und Krystal auch Sukhvinder Jawanda, deren pakistanischstämmige Eltern Ärzte im Krankenhaus und daher respektierte Pagforder sind und deren Mutter Barrys Verbündete im Gemeinderat war. Doch je weiter die Gräben zwischen den Fraktionen aufbrechen, umso deutlicher wird, dass auch vermeintlich gelungene Integration nah an einem Abgrund an Vorurteilen und Rassismus stattfindet, der jederzeit aufbrechen kann. Alle Teenager des Romans leiden unter dem Unverständnis ihrer Eltern, drei von ihnen so sehr, dass sie sich den Pranger Internet als anonymen Verbündeten gegen ihre Väter und Mütter zunutze machen.
Zwar spielt in "Harry Potter" der Kampf zwischen "reinblütigen" Zauberern und Muggelgeborenen eine wichtige Rolle, doch lässt sich das Internat Hogwarts mit seinen Schülern aus allen Schichten daneben durchaus als Musterschule für gelungene Integration erleben. In "Ein plötzlicher Todesfall" hingegen scheint J. K. Rowling ein desolates Großbritannien in erster Linie bevölkert zu sehen von Familien wie Harrys schrecklichen Verwandten, den Dursleys. Zwar ist in dieser politischen Familienaufstellung fast jede Gruppierung vertreten, doch die Wurzel aller Probleme bildet der bornierte, selbstgefällige Mittelstand mit seiner Doppelmoral. Viele Übel werden thematisiert: schlechte Ernährung, Fettleibigkeit, Drogenkonsum, Alkoholismus, Prostitution.
Dem Buch hätte es allerdings gutgetan, wenn J. K. Rowling Handlung und Figuren nicht gar so offensichtlich in den Dienst ihrer politischen Aussage gestellt hätte. Romane, die das Leben des Proletariats derart realistisch und mitreißend darstellen, dass daraus für den Leser eine gesellschaftliche Forderung erwächst, haben in Großbritannien seit Elizabeth Gaskell, William Makepeace Thackeray und Charles Dickens, George Eliot und Thomas Hardy eine große Tradition. Werke, die diese fortsetzen, waren zuletzt Romane wie "Brick Road" von Monica Ali über das Londoner Leben von Einwanderern aus Bangladesch, "Paula Spencer", das erschütternde Porträt einer Alkoholikerin des Iren Roddy Doyle, Chris Cleaves "Little Bee" über eine nigerianische Asylbewerberin oder "Die Lügen meines Vaters", John Burnsides Erinnerung an eine schottische Kindheit am untersten Ende der Gesellschaft.
Stereotype stören die Erzählung
Dass J. K. Rowlings neuer Roman nicht als eines der großen sozialkritischen Werke in die Literaturgeschichte eingehen wird, liegt an seinen erzählerischen Schwächen. Nicht nur ist "Ein plötzlicher Todesfall" extrem langatmig geraten, sondern die Autorin begeht einen schwerwiegenden Fehler, den man ihr nach "Harry Potter" niemals zugetraut hätte: nichts überlässt sie der Vorstellung des Lesers. Stattdessen verliert sich der Roman in einem Übermaß an Beschreibungen. Nicht genug damit, dass Pagford in seiner Postkartenidylle ermüdend oft beschrieben wird, auch Fields wird so häufig wie stereotyp vor Augen geführt: "schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht, hier und da vernagelte Fenster, Satellitenschüsseln und überwucherte Grasflächen". Die eigentliche Geschichte um die zum Klassenkampf hochkochende Gemeinderatswahl wird regelrecht zugemüllt mit lauter irrelevanten Details. Hinzu kommen etliche ärgerliche Wiederholungen wie diese: "Shirley arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus; sie hatte ein starkes Interesse an allem Medizinischen entwickelt, seit sie im Kreiskrankenhaus South West angefangen hatte." Dafür haben die beiden Übersetzerinnen Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol, die die undankbare Aufgabe hatten, die knapp sechshundert Seiten in vier Wochen und noch dazu eingeschlossen in den Londoner Verlagsräumen von Little, Brown ins Deutsche zu bringen, tatsächlich Entsprechungen für die vielen Idiome der Figuren gefunden, wenngleich Charakterisierung und Abgrenzung mittels gesprochener Sprache im Original viel deutlicher wird.
Immerhin behält Rowling, die nicht umsonst mit "Harry Potter" über sieben Bände und fünfzehn Jahre hinweg eine eigene Welt schuf, in der kein Detail und keine Begebenheit zufällig waren, auch diesmal alle Erzählstränge in der Hand und führt sie schließlich in einem so dramatischen wie verstörenden Finale zusammen, das zumindest teilweise mit dem mühsamen Lese-Weg dahin versöhnt. Dennoch ist das Buch eine Enttäuschung.
Über die Beweggründe zu spekulieren ist so müßig wie unliterarisch. Dass die Autorin ihre Popularität nutzen wollte, um möglichst viele Menschen für Missstände selbst in Wohlfahrtsstaaten zu sensibilisieren, ist allemal legitim. Womöglich hofft sie, die mit "Harry Potter" Millionen nicht nur jugendlicher Leser neu für das Buch gewonnen hat, darauf, damit jene gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen, die in der Regel mit Literatur wenig am Hut haben. Doch ungeübte Leser dürften diesen Roman ohne Helden und markanten Plot als anstrengend empfinden. Vor allem hat J. K. Rowling mit ihrer zornigen Stereotypisierung der britischen Mittel- und Unterschicht ein erzählerisches Gesetz missachtet, mit einer fatalen Wirkung, die im Roman sogar benannt wird: "Er schien die ungeheure Wandlungsfähigkeit der menschlichen Natur nicht zu begreifen, nicht zu erkennen, dass hinter jedem unscheinbaren Gesicht ein wildes, einzigartiges Zwischenreich lag wie sein eigenes."
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich können wir lesen, woran Joanne K. Rowling fünf Jahre lang geschrieben hat - am dunklen Zwilling ihrer "Harry Potter"-Bücher. Ihr neuer Roman "Ein plötzlicher Todesfall" aber setzt nicht auf Helden und Abenteuer. Es geht um die politische Botschaft.
Dieser Roman ist in jeder Hinsicht eine Überraschung. Dass Joanne K. Rowling, die phänomenale Schöpferin von "Harry Potter", aus innerer, nicht äußerer Notwendigkeit heraus schreibt, war jedem ihrer Leser klar. Aber dass ihr erstes Nach-"Potter"-Buch die Verbindung zu ihrem bisherigen Werk so entschieden kappen würde, war nicht zu erwarten gewesen.
Dabei lässt sich in "Ein plötzlicher Todesfall" durchaus der erwachsene, dunkle Zwilling von "Harry Potter" erkennen. Mit dem fiktiven Örtchen Pagford im Südwesten Englands erschafft Rowling erneut einen in sich geschlossenen Kosmos. Diesmal jedoch ist er nicht ihrer Phantasie entsprungen. Vielmehr handelt es sich um ein Mikromodell der britischen Gesellschaft und ihrer Probleme. Wo "Harry Potter" eine Feier menschlicher Tugenden war, Mut, Treue und Freundschaft, ist dies ein Wimmelbild all jener Eigenschaften, die das Miteinander schwierig machen, von Aggression, Neid, Verzweiflung, Borniertheit, Heuchelei und Selbstsucht.
"Ein plötzlicher Todesfall" ist ein Roman ohne Hauptfigur; Barry Fairbrother, der einzig rundweg sympathische Charakter, stirbt nach zweieinhalb Seiten. Sein Tod durch ein Aneurysma setzt eine fatale Kette von Ereignissen in Gang, denn Barry war Mitglied des Gemeinderats von Pagford, und nun muss die Leerstelle durch eine Wahl rasch gefüllt werden. Denn viele Bürger von Pagford wittern eine historische Chance: Sie wollen das Schandmal der Sozialsiedlung Fields, die sich vor ihren Toren breitgemacht hat, loswerden und die Verantwortung an die benachbarte Stadt Yarvil zurückgeben. Fairbrother, der in Fields geboren war, hatte sich mit Erfolg um die Integration der Siedlung bemüht. Insofern ist sein plötzlicher Tod für seine Gegner ein Glücksfall.
Um die Fülle der Figuren und ihre Beziehungen zueinander einigermaßen zu ordnen, wünscht man sich eine Überblickstafel, doch Rowling scheint entschlossen, es ihren Lesern diesmal schwerzumachen. Von Haushalt zu Haushalt wandert ihr Blick, und anhand der jeweiligen Reaktionen auf die Nachricht von Barry Fairbrothers Tod präsentiert sie uns ihre exemplarische englische Kleinstadt.
Eine Überblickstafel wäre hilfreich
Da sind zunächst die Familien der drei Männer, die sich im Laufe des Buches um Barrys Sitz im Gemeinderat bewerben wollen: Simon Price, gewalttätiger Ehemann von Ruth und verhasster Vater von Andrew und Paul, macht am liebsten krumme Geschäfte. Auch Colin Wall, stellvertretender Schulleiter der Gesamtschule Winterdown, von den Schülern wegen seiner peniblen Art "Pingel" gerufen, hat etwas zu verbergen. Seine Frau Tessa leitet die Beratungsstelle der Schule, sein Sohn Stuart, genannt "Fats", ist der beste Freund von Andrew Price. Die beiden Sechzehnjährigen haben vor allem zwei Themen: Sex und die Wut auf ihre Väter. Dritter Kandidat ist Miles Mollison, ein gutsituierter Anwalt und Familienvater. Seine Frau Samantha ist Inhaberin eines schlechtgehenden Dessousgeschäfts; eine Frau, für deren Sehnsüchte und wogenden Busen Pagford zu klein ist, zumal dort auch ihre ungeliebten Schwiegereltern leben. Miles' Vater Howard führt das Feinkostgeschäft des Ortes als dessen heimliche Machtzentrale; seine Frau Shirley, die oberste Klatschtante von Pagford, arbeitet ehrenamtlich im Krankenhaus, wie es Wohlstandsehefrauen eben gut ansteht.
Dieser kleinbürgerlichen Mittelstandshölle gegenüber stehen die Weedons, die in Armut und völliger Verwahrlosung in Fields leben: die drogenabhängige Mutter Terri, die früher anschaffen ging, hat den Entzug wieder nicht geschafft. Darum bleibt es ihrer Tochter Krystal überlassen, einer Klassenkameradin von Andrew und Fats, sich um den vierjährigen Robbie zu kümmern. Krystal ist die heimliche Heldin des Buches; ein Mädchen, das gar nicht anders kann, als die Gewalt und Rohheit, mit der es aufgewachsen ist, weiterzugeben; die sich, weil ihr Körper ihr nichts bedeutet, widerstandslos von den Jungs befummeln lässt. Doch Krystal tut alles, damit ihr kleiner Bruder nicht wieder in eine Pflegefamilie muss, sie ist mutig und hilfsbereit und als Sportlerin ein Naturtalent. Rowling zeichnet Krystal als Opfer der Ungnade der Geburt; einzig Barry Fairbrother hatte sie nicht als Abschaum abgestempelt, sondern sich um sie bemüht. Für die übrige Mittelklasse Pagfords aber ist das soziale Gewissen etwas, das man mit Schecks für weit entfernte Ungerechtigkeiten beruhigt, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.
Diejenigen, die diese Einstellung auszubaden haben, sind ihre Kinder. Den Jugendlichen gilt das eigentliche Augenmerk der Autorin: neben Andrew, Fats und Krystal auch Sukhvinder Jawanda, deren pakistanischstämmige Eltern Ärzte im Krankenhaus und daher respektierte Pagforder sind und deren Mutter Barrys Verbündete im Gemeinderat war. Doch je weiter die Gräben zwischen den Fraktionen aufbrechen, umso deutlicher wird, dass auch vermeintlich gelungene Integration nah an einem Abgrund an Vorurteilen und Rassismus stattfindet, der jederzeit aufbrechen kann. Alle Teenager des Romans leiden unter dem Unverständnis ihrer Eltern, drei von ihnen so sehr, dass sie sich den Pranger Internet als anonymen Verbündeten gegen ihre Väter und Mütter zunutze machen.
Zwar spielt in "Harry Potter" der Kampf zwischen "reinblütigen" Zauberern und Muggelgeborenen eine wichtige Rolle, doch lässt sich das Internat Hogwarts mit seinen Schülern aus allen Schichten daneben durchaus als Musterschule für gelungene Integration erleben. In "Ein plötzlicher Todesfall" hingegen scheint J. K. Rowling ein desolates Großbritannien in erster Linie bevölkert zu sehen von Familien wie Harrys schrecklichen Verwandten, den Dursleys. Zwar ist in dieser politischen Familienaufstellung fast jede Gruppierung vertreten, doch die Wurzel aller Probleme bildet der bornierte, selbstgefällige Mittelstand mit seiner Doppelmoral. Viele Übel werden thematisiert: schlechte Ernährung, Fettleibigkeit, Drogenkonsum, Alkoholismus, Prostitution.
Dem Buch hätte es allerdings gutgetan, wenn J. K. Rowling Handlung und Figuren nicht gar so offensichtlich in den Dienst ihrer politischen Aussage gestellt hätte. Romane, die das Leben des Proletariats derart realistisch und mitreißend darstellen, dass daraus für den Leser eine gesellschaftliche Forderung erwächst, haben in Großbritannien seit Elizabeth Gaskell, William Makepeace Thackeray und Charles Dickens, George Eliot und Thomas Hardy eine große Tradition. Werke, die diese fortsetzen, waren zuletzt Romane wie "Brick Road" von Monica Ali über das Londoner Leben von Einwanderern aus Bangladesch, "Paula Spencer", das erschütternde Porträt einer Alkoholikerin des Iren Roddy Doyle, Chris Cleaves "Little Bee" über eine nigerianische Asylbewerberin oder "Die Lügen meines Vaters", John Burnsides Erinnerung an eine schottische Kindheit am untersten Ende der Gesellschaft.
Stereotype stören die Erzählung
Dass J. K. Rowlings neuer Roman nicht als eines der großen sozialkritischen Werke in die Literaturgeschichte eingehen wird, liegt an seinen erzählerischen Schwächen. Nicht nur ist "Ein plötzlicher Todesfall" extrem langatmig geraten, sondern die Autorin begeht einen schwerwiegenden Fehler, den man ihr nach "Harry Potter" niemals zugetraut hätte: nichts überlässt sie der Vorstellung des Lesers. Stattdessen verliert sich der Roman in einem Übermaß an Beschreibungen. Nicht genug damit, dass Pagford in seiner Postkartenidylle ermüdend oft beschrieben wird, auch Fields wird so häufig wie stereotyp vor Augen geführt: "schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht, hier und da vernagelte Fenster, Satellitenschüsseln und überwucherte Grasflächen". Die eigentliche Geschichte um die zum Klassenkampf hochkochende Gemeinderatswahl wird regelrecht zugemüllt mit lauter irrelevanten Details. Hinzu kommen etliche ärgerliche Wiederholungen wie diese: "Shirley arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus; sie hatte ein starkes Interesse an allem Medizinischen entwickelt, seit sie im Kreiskrankenhaus South West angefangen hatte." Dafür haben die beiden Übersetzerinnen Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol, die die undankbare Aufgabe hatten, die knapp sechshundert Seiten in vier Wochen und noch dazu eingeschlossen in den Londoner Verlagsräumen von Little, Brown ins Deutsche zu bringen, tatsächlich Entsprechungen für die vielen Idiome der Figuren gefunden, wenngleich Charakterisierung und Abgrenzung mittels gesprochener Sprache im Original viel deutlicher wird.
Immerhin behält Rowling, die nicht umsonst mit "Harry Potter" über sieben Bände und fünfzehn Jahre hinweg eine eigene Welt schuf, in der kein Detail und keine Begebenheit zufällig waren, auch diesmal alle Erzählstränge in der Hand und führt sie schließlich in einem so dramatischen wie verstörenden Finale zusammen, das zumindest teilweise mit dem mühsamen Lese-Weg dahin versöhnt. Dennoch ist das Buch eine Enttäuschung.
Über die Beweggründe zu spekulieren ist so müßig wie unliterarisch. Dass die Autorin ihre Popularität nutzen wollte, um möglichst viele Menschen für Missstände selbst in Wohlfahrtsstaaten zu sensibilisieren, ist allemal legitim. Womöglich hofft sie, die mit "Harry Potter" Millionen nicht nur jugendlicher Leser neu für das Buch gewonnen hat, darauf, damit jene gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen, die in der Regel mit Literatur wenig am Hut haben. Doch ungeübte Leser dürften diesen Roman ohne Helden und markanten Plot als anstrengend empfinden. Vor allem hat J. K. Rowling mit ihrer zornigen Stereotypisierung der britischen Mittel- und Unterschicht ein erzählerisches Gesetz missachtet, mit einer fatalen Wirkung, die im Roman sogar benannt wird: "Er schien die ungeheure Wandlungsfähigkeit der menschlichen Natur nicht zu begreifen, nicht zu erkennen, dass hinter jedem unscheinbaren Gesicht ein wildes, einzigartiges Zwischenreich lag wie sein eigenes."
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Felicitas von Lovenberg und Andreas Platthaus liefern jeweils einen knappen Bericht zum Erscheinen von J. K. Rowlings neuen Roman "Ein plötzlicher Todesfall", ohne schon auf die literarischen Qualitäten des Werks einzugehen. Platthaus besucht das Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin, um sich ein Bild der Lage vor Ort zu machen, und muss feststellen: keine Schlangen vor der Tür, keine begeisterten Kunden, kein Hype, keine Magie. Nur ein nüchterner Wachmann, der sich daran erinnert, wie es früher war, bei Harry Potter. Frau von Lovenberg berichtet, wie sie das Buch um 8.26 Uhr von einem Paketboten in Empfang nimmt, dem der Name der Autorin gar nichts sagt. Daraufhin rekapituliert sie die bekannten Umstände der Geheimniskrämerei um das Buch und kündigt die eigentliche Rezension für den folgenden Tag an.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH