Geld verdienen kann man mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten. Zum Beispiel, indem einer seinem Bedürfnis nach distanzierter Betrachtung der Welt folgt, als Probeläufer für Luxushalbschuhe. Er durchstreift die Stadt mit englischem Schuhwerk, trifft dabei zwangsläufig auf eine seiner offenbar zahlreichen früheren Freundinnen, verfasst Gutachten, für die er 200 Mark bekommt. Doch das Arrangement bröckelt. Seine letzte Freundin, Lisa, verlässt ihn, weil sie seine Weigerung, an der Welt mehr als nur flaneurhaften Anteil zu nehmen, nicht mehr erträgt. Und als das englische Schuhhonorar auf 50 Mark herabgesetzt wird, ist Not am Mann.
buecher-magazin.deDer namenlose Ich-Erzähler verdient sich etwas Geld, indem er teure Schuhe, teure, rahmengenähte Herrenschuhe einer namhaften Manufaktur, testet. Er flaniert in ihnen durch Frankfurt, schweigend und leicht, seltsam weltabgewandt, und schreibt dann Testberichte. Kann man denn davon leben? Nein. Er lebt von der Berufsunfähigkeitsrente seiner Ex-Freundin. Die schnelllebige Welt der Tüchtigen ist nicht die Seine. Boris Aljinovic, der dem Namenlosen seine Stimme leiht, driftet durch eine Geräuschkulisse, durch Straßen und Cafés, von Frau zu Frau. Wenn dieses Hörspiel einen Wendepunkt hat, dann ist es der Moment, in dem er auf einer Party das Institut für Gedächtnis- und Erlebniskunst erfindet. "Zu uns kommen Menschen, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein langgezogener Regentag geworden ist und aus ihrem Körper nichts als der Regenschirm für diesen Tag." Dank der Kunstkopf-Stereofonie treibt der Hörer mit dem Protagonisten durch die Straßen, begegnet Susanne, seiner Kindheitsfreundin, der Friseurin und Gelegenheitsprostituierten Margot und meidet den ewig erfolglosen Herrn Himmelsbach.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2001Artist der Umständlichkeit
Wilhelm Genazino lobt die Muße im Akkord · Von Hubert Spiegel
Der Schutzumschlag von Wilhelm Genazinos neuem Roman zeigt einen jungen Mann, der mit Hilfe zweier Klappstühle eine vom Regen überflutete Straße überquert. Der rechte Fuß steht auf dem vorderen Stuhl, der linke auf dem hinteren, eine Hand liegt auf der Lehne, die andere hält einen Schirm. Gleich wird er mit beiden Füßen auf dem vorderen Stuhl stehen, dann hinter sich greifen und den zweiten Stuhl vor sich stellen. So kommt er voran, langsam, umständlich, stetig. Allerdings ist an den Stuhlbeinen unschwer zu erkennen, daß das Wasser nicht sehr hoch steht, fünf, sechs Zentimeter vielleicht. Ein Platzregen im Sommer, mehr nicht. Das einfachste wäre es gewesen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und barfuß über die Straße zu gehen. Aber dann wäre eine andere Fotografie entstanden, für die Genazino ein anderes Buch hätte schreiben müssen.
Der wasserscheue Jüngling auf den Stühlen, das ist eine Situation, wie sie der Ich-Erzähler des Romans "Ein Regenschirm für diesen Tag" nie erlebt hätte. Nicht als Artist der Umständlichkeit, dem die Klappstühle unter seinen Sohlen zu Kothurnen werden, und nicht einmal als Beobachter - zu spektakulär, zu extravagant ist die Szene. Die Sensationen, denen der Blick von Genazinos Frankfurter Müßiggänger gilt, sind von bescheidenerer Art: Herbstlaub, das Schaufenster eines Zoogeschäfts, Passanten, Staubflusen in der Wohnung, Gestrüpp in den städtischen Grünanlagen. Was den Stuhltänzer mit Genazinos Helden verbindet, ist etwas anderes: Beiden sind Hilfsmittel Hindernisse und Hindernisse Hilfsmittel. Wie immer wieder eins ins andere unversehens umschlägt, dieses Wechselspiel macht die wichtigste Bewegung eines Buches aus, in dem einer unablässig unterwegs ist, weil er um keinen Preis vom Fleck kommen möchte.
Mit sechsundvierzig Jahren ist der Held des Buches alt genug, eine seiner zahlreichen Maximen auf sich selbst anzuwenden: "Alles, was andauert, muß seltsam werden." Und seltsam, sonderlich, verkauzt ist Genazinos Erzähler in der Tat. Ein ehemaliger Achtundsechziger, der nur noch gelegentlich und widerwillig in die alte Untugend der Gesellschaftskritik zurückfällt und den beschwerlichen Marsch durch die Institutionen zugunsten des interesselosen Streunens durch die Frankfurter Innenstadt verweigert hat. Ein Tagedieb und Habenichts, der Luxusschuhe testet und sich vom Honorar, das er für seine Gutachten erhält, kaum über Wasser halten kann. Ein Lebenskünstler, der Kunstlosigkeit zum Prinzip erhoben hat, ein Reflexionsathlet, der den Müßiggang als Schwerarbeit betreibt: rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche. Ein Workaholic des Nichtstuns und sanftmütiger Bezichtiger alles Bestehenden, der geduldig auf den Tag wartet, "an dem alles was lebt, seine Peinlichkeit eingesteht." In diesem Punkt zumindest ist er seiner Umwelt weit voraus. Immer auf der Suche nach dem erlösenden Wort, das die "Gesamtmerkwürdigkeit" des Lebens auf den Begriff bringen könnte, immer auf der Flucht vor Begegnungen, die ihn aus seinen Tagträumen reißen könnten, gleichzeitig ziellos-emsig damit beschäftigt, einen Ersatz für seine entschwundene Lebensgefährtin Lisa zu finden, ist er sich sicher, daß sein ganzes Leben eine "Peinlichkeitsverdichtung ohne Beispiel" ist.
Kokett und sanft erregt vom süßen Gift des Selbstmitleids, sinniert hier ein Verweigerer aller Konventionen über Wahnsinn, Depression, Selbstmord und Persönlichkeitsspaltung. Daß dieses sorgfältig ausbalancierte Wahnsystem überaus stabil ist, macht dabei den ironischen Witz der Sache aus. Ehrfürchtig denkt der Held über die letzten Dinge nach, aber im Sinn hat er nicht die letztgültige Wahrheit, sondern die endgültige Formulierung: Der Flaneur ist immer auch Aphoristiker.
"Ein Regenschirm für diesen Tag" ist ein Buch, das den Lebenszweifel und die Schwermut federleicht serviert: lebensklug, ironisch, sprachlich brillant. Genazinos Held ist das lustwandelnde Paradoxon eines Mannes, der sich unablässig mit sich selber beschäftigt, in die eigenen Probleme aber möglichst nicht hineingezogen werden möchte. Weil er sich selbst stets im Auge behalten möchte, darf er sich nicht zu nahe kommen. Das bestimmt seine Perspektive. Damit die Last, die er sich selbst ist, ihn nicht zu Boden drückt, muß er seine Ansichten, Meinungen und Probleme, kurzum die ganze eigene Person, allzeit in der Schwebe halten. So sehen wir ihn dank Genazinos Beschreibungskunst vor uns: schwebend, scharf umrissen in seiner ganzen Unschärfe, ein letzter, kunstvoll ironisch gebrochener Reflex jener "Neuen Innerlichkeit", die nach 1968 die deutsche Literatur befallen hatte wie eine ansteckende Krankheit, ein Peinlichkeitserreger. Gegen ihn ist Wilhelm Genazino immun.
Wilhelm Genazino: "Ein Regenschirm für diesen Tag." Roman. Hanser Verlag. München und Wien 2001. 174 S., geb., 35,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wilhelm Genazino lobt die Muße im Akkord · Von Hubert Spiegel
Der Schutzumschlag von Wilhelm Genazinos neuem Roman zeigt einen jungen Mann, der mit Hilfe zweier Klappstühle eine vom Regen überflutete Straße überquert. Der rechte Fuß steht auf dem vorderen Stuhl, der linke auf dem hinteren, eine Hand liegt auf der Lehne, die andere hält einen Schirm. Gleich wird er mit beiden Füßen auf dem vorderen Stuhl stehen, dann hinter sich greifen und den zweiten Stuhl vor sich stellen. So kommt er voran, langsam, umständlich, stetig. Allerdings ist an den Stuhlbeinen unschwer zu erkennen, daß das Wasser nicht sehr hoch steht, fünf, sechs Zentimeter vielleicht. Ein Platzregen im Sommer, mehr nicht. Das einfachste wäre es gewesen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und barfuß über die Straße zu gehen. Aber dann wäre eine andere Fotografie entstanden, für die Genazino ein anderes Buch hätte schreiben müssen.
Der wasserscheue Jüngling auf den Stühlen, das ist eine Situation, wie sie der Ich-Erzähler des Romans "Ein Regenschirm für diesen Tag" nie erlebt hätte. Nicht als Artist der Umständlichkeit, dem die Klappstühle unter seinen Sohlen zu Kothurnen werden, und nicht einmal als Beobachter - zu spektakulär, zu extravagant ist die Szene. Die Sensationen, denen der Blick von Genazinos Frankfurter Müßiggänger gilt, sind von bescheidenerer Art: Herbstlaub, das Schaufenster eines Zoogeschäfts, Passanten, Staubflusen in der Wohnung, Gestrüpp in den städtischen Grünanlagen. Was den Stuhltänzer mit Genazinos Helden verbindet, ist etwas anderes: Beiden sind Hilfsmittel Hindernisse und Hindernisse Hilfsmittel. Wie immer wieder eins ins andere unversehens umschlägt, dieses Wechselspiel macht die wichtigste Bewegung eines Buches aus, in dem einer unablässig unterwegs ist, weil er um keinen Preis vom Fleck kommen möchte.
Mit sechsundvierzig Jahren ist der Held des Buches alt genug, eine seiner zahlreichen Maximen auf sich selbst anzuwenden: "Alles, was andauert, muß seltsam werden." Und seltsam, sonderlich, verkauzt ist Genazinos Erzähler in der Tat. Ein ehemaliger Achtundsechziger, der nur noch gelegentlich und widerwillig in die alte Untugend der Gesellschaftskritik zurückfällt und den beschwerlichen Marsch durch die Institutionen zugunsten des interesselosen Streunens durch die Frankfurter Innenstadt verweigert hat. Ein Tagedieb und Habenichts, der Luxusschuhe testet und sich vom Honorar, das er für seine Gutachten erhält, kaum über Wasser halten kann. Ein Lebenskünstler, der Kunstlosigkeit zum Prinzip erhoben hat, ein Reflexionsathlet, der den Müßiggang als Schwerarbeit betreibt: rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche. Ein Workaholic des Nichtstuns und sanftmütiger Bezichtiger alles Bestehenden, der geduldig auf den Tag wartet, "an dem alles was lebt, seine Peinlichkeit eingesteht." In diesem Punkt zumindest ist er seiner Umwelt weit voraus. Immer auf der Suche nach dem erlösenden Wort, das die "Gesamtmerkwürdigkeit" des Lebens auf den Begriff bringen könnte, immer auf der Flucht vor Begegnungen, die ihn aus seinen Tagträumen reißen könnten, gleichzeitig ziellos-emsig damit beschäftigt, einen Ersatz für seine entschwundene Lebensgefährtin Lisa zu finden, ist er sich sicher, daß sein ganzes Leben eine "Peinlichkeitsverdichtung ohne Beispiel" ist.
Kokett und sanft erregt vom süßen Gift des Selbstmitleids, sinniert hier ein Verweigerer aller Konventionen über Wahnsinn, Depression, Selbstmord und Persönlichkeitsspaltung. Daß dieses sorgfältig ausbalancierte Wahnsystem überaus stabil ist, macht dabei den ironischen Witz der Sache aus. Ehrfürchtig denkt der Held über die letzten Dinge nach, aber im Sinn hat er nicht die letztgültige Wahrheit, sondern die endgültige Formulierung: Der Flaneur ist immer auch Aphoristiker.
"Ein Regenschirm für diesen Tag" ist ein Buch, das den Lebenszweifel und die Schwermut federleicht serviert: lebensklug, ironisch, sprachlich brillant. Genazinos Held ist das lustwandelnde Paradoxon eines Mannes, der sich unablässig mit sich selber beschäftigt, in die eigenen Probleme aber möglichst nicht hineingezogen werden möchte. Weil er sich selbst stets im Auge behalten möchte, darf er sich nicht zu nahe kommen. Das bestimmt seine Perspektive. Damit die Last, die er sich selbst ist, ihn nicht zu Boden drückt, muß er seine Ansichten, Meinungen und Probleme, kurzum die ganze eigene Person, allzeit in der Schwebe halten. So sehen wir ihn dank Genazinos Beschreibungskunst vor uns: schwebend, scharf umrissen in seiner ganzen Unschärfe, ein letzter, kunstvoll ironisch gebrochener Reflex jener "Neuen Innerlichkeit", die nach 1968 die deutsche Literatur befallen hatte wie eine ansteckende Krankheit, ein Peinlichkeitserreger. Gegen ihn ist Wilhelm Genazino immun.
Wilhelm Genazino: "Ein Regenschirm für diesen Tag." Roman. Hanser Verlag. München und Wien 2001. 174 S., geb., 35,- DM.
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"Pointillist der zwischenmenschlichen Beziehung" Jürgen Verdofsky in 'Frankfurter Rundschau'
"Phänomenologie des Unscheinbaren" Kristina Maidt-Zinde in 'Süddeutsche Zeitung'
"...ein witziges Buch par Excellenze und dabei so schwerelos und ohne jede Geheimniskrämerei." www.buchinformation.de
"Ein so glückhaft gelungenes Buch, so jenseits aller Moden und literarischen Großmäuligkeit, dass man, am Ende (...) angekommen, gleich wieder von vorn beginnen möchte. Noch einmal durch diese kleine Schule der Wahrnehmung gehen, noch einmal in diesen Alltagsminiaturen und Weltverzauberungsnotaten das Staunen über die Merkwürdigkeiten des Lebens wiedererlernen." Sabine Küchler in 'Der Tagesspiegel'
"Phänomenologie des Unscheinbaren" Kristina Maidt-Zinde in 'Süddeutsche Zeitung'
"...ein witziges Buch par Excellenze und dabei so schwerelos und ohne jede Geheimniskrämerei." www.buchinformation.de
"Ein so glückhaft gelungenes Buch, so jenseits aller Moden und literarischen Großmäuligkeit, dass man, am Ende (...) angekommen, gleich wieder von vorn beginnen möchte. Noch einmal durch diese kleine Schule der Wahrnehmung gehen, noch einmal in diesen Alltagsminiaturen und Weltverzauberungsnotaten das Staunen über die Merkwürdigkeiten des Lebens wiedererlernen." Sabine Küchler in 'Der Tagesspiegel'
Das Erstaunlichste aber an diesem tiefsinnig federleichten Buch ist, dass man bereitwillig jeder Verästelung folgt, weil man keinen Satz verpassen möchte. Simon Lorenz Kölner Stadt-Anzeiger 20120924