Südirland, 1984 - Als Shells Mutter stirbt, wird ihr Vater zum religiösen Fanatiker. Da er meistens auf Sauftour geht, muss Shell sich um ihre kleinen Geschwister kümmern. Und eigentlich auch um sich selbst. Die zarte Freundschaft mit dem neuen jungen und idealistischen Pater Rose bringt Licht in ihren harten Alltag. Doch der Klatsch der Gemeinde erstickt diese Beziehung bald und Shell vertreibt sich nun die Zeit mit ihrem Schulkamerad Declan. Als der nach Amerika verschwindet, bleibt Shell allein zurück - und schwanger. Niemand scheint dies zu bemerken, nicht einmal ihr Vater, der der Familie immer mehr den Rücken zukehrt. Shell ist auf ihre jüngeren Geschwister angewiesen, die sich rührend um sie kümmern. Aber nicht nur Shell hütet ein Geheimnis. Plötzlich findet sie sich im Mittelpunkt eines Skandals, der nicht nur die kleine Gemeinde, sondern ganz Irland erschüttert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2006Herausragend für junge Erwachsene
Watte für Engelsflügel
Das Schicksal einer jungen Frau in einem irischen Dorf 1984
Wann merkt ein Mädchen, dass es schwanger ist? Wie lange kann man die Signale überhören, die der Körper aussendet – in Träumen und weil der BH Größe 3 C nicht mehr passt? Shell Talent ist nicht nur in diesen Dingen unbedarft. Aber das soll nicht heißen, dass dieses Drama von Liebe und Verlassenheit aus dem Jahr 1984 so, wie es die irische Schriftstellerin Siobhan Dowd schildert, heute nicht mehr aktuell wäre. Denn auch die Tatsache, dass jährlich in Deutschland einige Tausend Mädchen Müttern werden, die selber noch Kinder sind, macht diesen großartigen, den Leser in einen Strudel widersprüchlichster Gefühle mitreißenden Roman gültig über die Geschichte dieser Shell hinaus.
Er spielt zwischen Karwoche und Dreikönig – die Zählung nach Kirchentagen ist kein Zufall, Kirche und Religion bestimmen (vom Alkohol abgesehen) den Alltag in dem elenden Dorf im Süden Irlands, auch wenn sie am Ende nur ihre klägliche Ohnmacht zeigen und Glauben nicht wegen, sondern trotz der Kirche seine heilende Kraft beweist.
Dass sie schwanger ist, gesteht sich Shell am Johannistag ein, dem letzten Tag, den sie mit Declan verbringt, diesem aalglatten Dorf-Don-Juan, und der ist nun wirklich der Einzige, den die Autorin unsympathisch zeichnet. Sonst ist sie nicht so entschieden. Vieles in diesem Buch bleibt ambivalent, in der Spannung zwischen richtig und falsch, gut und böse, schuldig und unschuldig. So zeigt sie verzeihendes Verständnis selbst für einen nach dem Tod seiner Frau, Shells Mutter, aus jedem Gleis geratenen, in Alkohol und religiösen Fanatismus abgerutschten Mann. Dowd ist nicht einseitig. Dabei geht manches nicht auf. Aber ist gelebtes Leben eindeutig? Und darf man in dieser gottverlassenen Welt nicht doch auch an Schutzengel glauben? Für Shell übernehmen Lieder und Gedichte diese beschützende Aufgabe, Lieder, wie sie ihre Mutter gesungen hatte.
Declan, der sie noch einmal nimmt, aufs ganze geht – kalt und brutal ist hier die Sprache –, wird abhauen, sie allein lassen. In der Gemeindebibliothek holt sich das Mädchen letzte Gewissheit, im „Körperbuch”, das sie mitgehen lässt – Klauen ist Alltag, lässliche Sünde unter den Armen: Dad unterschlägt ein Gutteil der Spenden, die er für die Kirche sammelt, Shell ihrerseits zweigt von den Spendengeldern etwas ab, und auch die Weihnachtsgeschenke für ihre jüngeren Geschwister klaut sie, einen Armreif und grüngelbe Fußballsocken. Es ist dies nur eine der moralischen Fallen, welche die Autorin ihren Lesern stellt.
Hilfe bekommt Shell nicht. Schon gar nicht von der Kirche. Als sie beichten will, ist der Beichtstuhl nicht besetzt. Ihre Sünden spricht sie ins Leere, und auch Pater Rose, ein junger Kaplan, Ursache und Objekt von Shells mit religiöser Schwärmerei durchmischte Liebesverlangen, hat kein Gespür für ihre Not. Dass eine Kirche zu mehr gut sein kann und muss, als dazu vor heftigem Regen zu schützen, kann dieser Zweifler im Herrn nicht glauben. Hier, indem jemand, ohne es zu ahnen, schuldig wird, spielt sich, parallel zu Shells Geschichte, ein Nebendrama ab, so traurig wie das des Vaters, der sich in Verdacht hat, sich an seiner Tochter vergriffen zu haben.
Nur ihre Geschwister stehen Shell bei, der neunjährige Jimmy und Trix. Mit ihrer Hilfe wird Shell ihr Kind zur Welt bringen, einen Tag vor Weihnachten. Heimlich, ohne Hilfe. Und diese dreißig Seiten sind der ergreifende Höhepunkt des Romans – bezwingend in der Unbarmherzigkeit, mit welcher der dreckige Schmerz einer Geburt beschrieben wird, und der rührenden Liebe, mit der zwei kleine Kinder ihre große, ihre von allen anderen verlassene Schwester umsorgen. Eine Schere haben sie bereitgestellt, auch eine Schnur, weil man ja auch Kälber mit einer Schnur aus dem Mutterleib zieht, und aus einer gepolsterten Schachtel, mit Watte, die für Engelsflügel bestimmt ist, haben sie ein Bettchen bereitet für das Neugeborene. Ein Weihnachtswunder geschieht hier.
In der Pappschachtel wird das Kind dann auch begraben, mit den knallbunten Schaufeln, die Shell ihren Geschwistern im Frühjahr vom unterschlagenen Spendengeld gekauft hat. Womit der dritte Teil des Romans beginnt, die Tragödie einer heimlichen Geburt zum Kriminalfall wird, der sich auflöst in ein dann doch glückliches Ende. „Es ist eine Lust zu leben”, lautet der letzte Satz des Buchs. Man möchte gegen diese Behauptung anschreien. Laut wie das brüllende Wehklagen einer Gebärenden, nicht nur tonlos wie in dem puren Schrei einer Phantasie von Glück, der diesem aufwühlenden Buch den Titel gab. (Für junge Erwachsene)
ELISABETH BAUSCHMID
SIOBHAN DOWD: Ein reiner Schrei. Aus dem Englischen von Salah Naoura. Carlsen Verlag 2006. 318 Seiten, 15 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Watte für Engelsflügel
Das Schicksal einer jungen Frau in einem irischen Dorf 1984
Wann merkt ein Mädchen, dass es schwanger ist? Wie lange kann man die Signale überhören, die der Körper aussendet – in Träumen und weil der BH Größe 3 C nicht mehr passt? Shell Talent ist nicht nur in diesen Dingen unbedarft. Aber das soll nicht heißen, dass dieses Drama von Liebe und Verlassenheit aus dem Jahr 1984 so, wie es die irische Schriftstellerin Siobhan Dowd schildert, heute nicht mehr aktuell wäre. Denn auch die Tatsache, dass jährlich in Deutschland einige Tausend Mädchen Müttern werden, die selber noch Kinder sind, macht diesen großartigen, den Leser in einen Strudel widersprüchlichster Gefühle mitreißenden Roman gültig über die Geschichte dieser Shell hinaus.
Er spielt zwischen Karwoche und Dreikönig – die Zählung nach Kirchentagen ist kein Zufall, Kirche und Religion bestimmen (vom Alkohol abgesehen) den Alltag in dem elenden Dorf im Süden Irlands, auch wenn sie am Ende nur ihre klägliche Ohnmacht zeigen und Glauben nicht wegen, sondern trotz der Kirche seine heilende Kraft beweist.
Dass sie schwanger ist, gesteht sich Shell am Johannistag ein, dem letzten Tag, den sie mit Declan verbringt, diesem aalglatten Dorf-Don-Juan, und der ist nun wirklich der Einzige, den die Autorin unsympathisch zeichnet. Sonst ist sie nicht so entschieden. Vieles in diesem Buch bleibt ambivalent, in der Spannung zwischen richtig und falsch, gut und böse, schuldig und unschuldig. So zeigt sie verzeihendes Verständnis selbst für einen nach dem Tod seiner Frau, Shells Mutter, aus jedem Gleis geratenen, in Alkohol und religiösen Fanatismus abgerutschten Mann. Dowd ist nicht einseitig. Dabei geht manches nicht auf. Aber ist gelebtes Leben eindeutig? Und darf man in dieser gottverlassenen Welt nicht doch auch an Schutzengel glauben? Für Shell übernehmen Lieder und Gedichte diese beschützende Aufgabe, Lieder, wie sie ihre Mutter gesungen hatte.
Declan, der sie noch einmal nimmt, aufs ganze geht – kalt und brutal ist hier die Sprache –, wird abhauen, sie allein lassen. In der Gemeindebibliothek holt sich das Mädchen letzte Gewissheit, im „Körperbuch”, das sie mitgehen lässt – Klauen ist Alltag, lässliche Sünde unter den Armen: Dad unterschlägt ein Gutteil der Spenden, die er für die Kirche sammelt, Shell ihrerseits zweigt von den Spendengeldern etwas ab, und auch die Weihnachtsgeschenke für ihre jüngeren Geschwister klaut sie, einen Armreif und grüngelbe Fußballsocken. Es ist dies nur eine der moralischen Fallen, welche die Autorin ihren Lesern stellt.
Hilfe bekommt Shell nicht. Schon gar nicht von der Kirche. Als sie beichten will, ist der Beichtstuhl nicht besetzt. Ihre Sünden spricht sie ins Leere, und auch Pater Rose, ein junger Kaplan, Ursache und Objekt von Shells mit religiöser Schwärmerei durchmischte Liebesverlangen, hat kein Gespür für ihre Not. Dass eine Kirche zu mehr gut sein kann und muss, als dazu vor heftigem Regen zu schützen, kann dieser Zweifler im Herrn nicht glauben. Hier, indem jemand, ohne es zu ahnen, schuldig wird, spielt sich, parallel zu Shells Geschichte, ein Nebendrama ab, so traurig wie das des Vaters, der sich in Verdacht hat, sich an seiner Tochter vergriffen zu haben.
Nur ihre Geschwister stehen Shell bei, der neunjährige Jimmy und Trix. Mit ihrer Hilfe wird Shell ihr Kind zur Welt bringen, einen Tag vor Weihnachten. Heimlich, ohne Hilfe. Und diese dreißig Seiten sind der ergreifende Höhepunkt des Romans – bezwingend in der Unbarmherzigkeit, mit welcher der dreckige Schmerz einer Geburt beschrieben wird, und der rührenden Liebe, mit der zwei kleine Kinder ihre große, ihre von allen anderen verlassene Schwester umsorgen. Eine Schere haben sie bereitgestellt, auch eine Schnur, weil man ja auch Kälber mit einer Schnur aus dem Mutterleib zieht, und aus einer gepolsterten Schachtel, mit Watte, die für Engelsflügel bestimmt ist, haben sie ein Bettchen bereitet für das Neugeborene. Ein Weihnachtswunder geschieht hier.
In der Pappschachtel wird das Kind dann auch begraben, mit den knallbunten Schaufeln, die Shell ihren Geschwistern im Frühjahr vom unterschlagenen Spendengeld gekauft hat. Womit der dritte Teil des Romans beginnt, die Tragödie einer heimlichen Geburt zum Kriminalfall wird, der sich auflöst in ein dann doch glückliches Ende. „Es ist eine Lust zu leben”, lautet der letzte Satz des Buchs. Man möchte gegen diese Behauptung anschreien. Laut wie das brüllende Wehklagen einer Gebärenden, nicht nur tonlos wie in dem puren Schrei einer Phantasie von Glück, der diesem aufwühlenden Buch den Titel gab. (Für junge Erwachsene)
ELISABETH BAUSCHMID
SIOBHAN DOWD: Ein reiner Schrei. Aus dem Englischen von Salah Naoura. Carlsen Verlag 2006. 318 Seiten, 15 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Rezensentin Elisabeth Bauschmid ist zutiefst beeindruckt von diesem Buch über ein schwangeres Mädchen im katholischen Irland, das zwar zu einem glücklichen Ende kommt, aber harte Realitäten keineswegs beschönigt. Die Autorin Shiobhan Dowd schaffe es, vieles in einer ambivalenten Schwebe zu halten und die Menschen überzeugend in den Widersprüchen zu zeigen, die sie gefangen halten. Das hat zwar zur Folge, dass Einiges in dem Buch "nicht aufgeht". Doch unterm Strich ist die Lektüre nach Meinung der Rezensentin für die anvisierte Leserschaft sehr anregend, und das liegt nicht nur an den "moralischen Fallen", welche die Autorin aufgebaut hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein großartiger, mitreißender Roman", Süddeutsche Zeitung 20151104