Die italienische Autorin blättert in den Tagebüchern ihrer Mutter und erinnert sich an ihre früheste Kindheit: den Aufbruch aus dem faschistischen Italien zu einer langen Reise ins ferne Japan, das unkonventionelle Leben fern der Heimat mit ihrem Vaterm dem Ethnologen Fosco Maraini und ihrer schönen, aristokratischen Mutter Topazia Alliata.
Ein berührendes Zeitzeugnis, ergänzt durch zahlreiche Fotos aus dem Familienalbum.
Ein berührendes Zeitzeugnis, ergänzt durch zahlreiche Fotos aus dem Familienalbum.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dacia Maraini ist eine in Italien bekannte feministische Autorin, die Romane, Theaterstücke, aber auch Essays und zeitpolitische Kommentare geschrieben hat und weiterhin schreibt. Erstmals, betont Sabine Doering, hat sich Maraini nun der eigenen Lebensgeschichte auf dokumentarische Weise genähert, indem sie die in den Jahren 1938 bis 1941 entstandenen Japan-Tagebücher ihrer Mutter präsentiert und kommentiert. Die Mussolini kritisch gegenüberstehenden Eltern Marainis nutzten ein ethnologisches Forschungsangebot für den Vater in Japan, um sich für längere Zeit ins Ausland abzusetzen. Die Tagebücher skizzieren kleine Alltagsszenen, die eine multikulturelle Idylle beschwören, die mit der Internierung der Familie jäh endete, worüber die Tagebücher aber nichts mehr berichten. Auch Dacia Maraini deutet die bösen Erfahrungen nur vage an, meint Doering leicht bedauernd. Sie findet die Kommentare Marainis zu den Tagebuchaufzeichnungen der Mutter etwas unproportional, da sie diese an Länge häufig überträfen. Auch zöge die Publizistin allzu oft Rückschlüsse auf ihre spätere Entwicklung und nutze die Erinnerungen ihrer Mutter zur Kommentierung aktueller Themen wie Rinderwahnsinn oder Sexualmoral. Maraini hätte die Aufzeichnungen ihrer Mutter mehr für sich sprechen lassen sollen, lautet Doerings Kritik. Auch die nicht immer authentischen Fotos verstärkten die Eigenschaft des Buches als "rührselige Inszenierung".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2004Verleugne den Schmerz
„Ein Schiff nach Kobe”: Dacia Maraini war gerne das Kind ihrer Eltern
Dass die eigenen Eltern einmal jung waren, ein Paar, das sich selbst genügte, das können sich die wenigsten Kinder vorstellen. Fotografien, die die Eltern als junge Menschen zeigen, empfinden Kinder als befremdlich und unglaubwürdig. Doch wenn es gut geht, und das ist bei Dacia Maraini der Fall, dann werden sie irgendwann zu Erwachsenen, die dem Alter und der Jugend ihrer Eltern gleichermaßen Rührung entgegenbringen. So jung war die Mutter einmal, so schön und so unbeschwert, so liebevoll hat der Vater die Mutter angesehen, dass man versteht, warum man auf der Welt ist!
„Ein Schiff nach Kobe” ist eine erstaunliche Meditation über das Familiäre. Längst sind wir daran gewöhnt, dass Familiengeschichten zu Abrechnungen werden. Hier ist das anders. Ein wunderbar salopper Gleichmut schwebt über den Erinnerungen der bekannten italienischen Autorin Dacia Maraini. Ausgangspunkt ihres Nachdenkens sind die Tagebuchnotizen der Mutter aus den Jahren 1938 bis 1942. Ihr Vater, der Ethnologe Fosco Maraini, hat sie ihr eines Tages mit den Worten überreicht: „Sie haben viel mit dir zu tun, nimm du sie.”
Fosco und Topazia Maraini brachen 1938 mit ihrer einjährigen Tochter Dacia per Schiff nach Japan auf. Ein Forschungsauftrag ermöglichte es, das faschistische Italien zu verlassen. Der Vater widmete sich seinen Studien, die Mutter kümmerte sich um die kleine Familie, die sich bald um zwei weitere Mädchen vergrößerte. Die Notizen der Mutter sind von unglaublicher Nüchternheit, sie verzeichnen Stationen der Reise und die Entwicklungsschritte der Töchter. Nicht selten geht es um Krankheiten, um ansteigende und sinkende Fieberkurven, Essensaufnahme und Stuhlkonsistenz, um nächtelanges Wachen am Bett eines kranken Kindes und die Freude der Genesung. Dacia Maraini kommentiert die Notizen kaum, sie nimmt sie zum Anlass freier Assoziationen. Sie erinnert sich und ergänzt, denkt über das Verhältnis zu Vater und Mutter nach und liefert in knappen Skizzen den familiären Hintergrund der Großfamilie. Zwei freiheitsliebende Großmütter, eine große Reisende und begeistert Schreibende die eine, eine kapriziöse Aristokratin, die die Erziehung der Kinder gerne den Hausangestellten überlässt, um sich selbst in Amouren zu stürzen, die andere. Ein Großvater, der seinen Kindern die davonreisende Mutter ersetzt, und einer, der seinen Sohn ins Exil treibt. Den Mitgliedsausweis der faschistischen Partei, den Antonio Maraini seinem Sohn überreichte, hat dieser vor seinen Augen zerrissen; fünfzehn Jahre haben die beiden nicht miteinander gesprochen.
Es ist kein Zufall, dass man sich immer wieder an Roland Barthes erinnert fühlt. Für beide Autoren bedeutet Japan eine Schule des Zeichenlesens. Der Umgang mit einer Kultur, die streng formalisiert ist, prägt die Betrachtungsweise. Kein Wunder auch, dass die Tochter eines Ethnologen die japanische Kultur des Schenkens als Methode erkennt, Bündnisse zu stiften und Verbindlichkeiten herzustellen. Das strahlt auch ins spätere Leben Dacia Marainis aus. Die Freundschaft mit Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini kommt mit großer Selbstverständlichkeit zur Sprache. Und wenn Maraini erzählt, wie sehr sich Maria Callas zu Pasolini hingezogen fühlte, so hat das nichts Indiskretes, eher eine Form schwesterlichen Verständnisses.
Der Eintritt Japans in den Krieg gegen die USA und Großbritannien hat das Kindheitsidyll zerstört. Die Familie Maraini kam 1943 wegen ihres Antifaschismus in ein japanisches KZ. Dass die Autorin den Bericht über diese Jahre ihrer Schwester Toni überlassen hat (bisher ist er nur auf italienisch erschienen) und selbst nie darüber schreiben konnte, zeigt nicht nur, wie tief das „Gefühl der Scham und Bestürzung” gewesen sein muss, sondern auch, dass Dacia Maraini eine Autorin ist, die sich nicht gern in der Negativität bewegt. Eine gewisse Verleugnung des Schmerzes ist auch diesem Buch anzumerken. Manchmal wird das zur Naivität. Doch ist es gerade darin ungewöhnlich: sich niemals dem Schmerz hinzugeben.
MEIKE FESSMANN
DACIA MARAINI: Ein Schiff nach Kobe. Das japanische Tagebuch meiner Mutter. Aus dem Italienischen von Eva-Maria Wagner. Piper Verlag, München 2003. 283 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
„Ein Schiff nach Kobe”: Dacia Maraini war gerne das Kind ihrer Eltern
Dass die eigenen Eltern einmal jung waren, ein Paar, das sich selbst genügte, das können sich die wenigsten Kinder vorstellen. Fotografien, die die Eltern als junge Menschen zeigen, empfinden Kinder als befremdlich und unglaubwürdig. Doch wenn es gut geht, und das ist bei Dacia Maraini der Fall, dann werden sie irgendwann zu Erwachsenen, die dem Alter und der Jugend ihrer Eltern gleichermaßen Rührung entgegenbringen. So jung war die Mutter einmal, so schön und so unbeschwert, so liebevoll hat der Vater die Mutter angesehen, dass man versteht, warum man auf der Welt ist!
„Ein Schiff nach Kobe” ist eine erstaunliche Meditation über das Familiäre. Längst sind wir daran gewöhnt, dass Familiengeschichten zu Abrechnungen werden. Hier ist das anders. Ein wunderbar salopper Gleichmut schwebt über den Erinnerungen der bekannten italienischen Autorin Dacia Maraini. Ausgangspunkt ihres Nachdenkens sind die Tagebuchnotizen der Mutter aus den Jahren 1938 bis 1942. Ihr Vater, der Ethnologe Fosco Maraini, hat sie ihr eines Tages mit den Worten überreicht: „Sie haben viel mit dir zu tun, nimm du sie.”
Fosco und Topazia Maraini brachen 1938 mit ihrer einjährigen Tochter Dacia per Schiff nach Japan auf. Ein Forschungsauftrag ermöglichte es, das faschistische Italien zu verlassen. Der Vater widmete sich seinen Studien, die Mutter kümmerte sich um die kleine Familie, die sich bald um zwei weitere Mädchen vergrößerte. Die Notizen der Mutter sind von unglaublicher Nüchternheit, sie verzeichnen Stationen der Reise und die Entwicklungsschritte der Töchter. Nicht selten geht es um Krankheiten, um ansteigende und sinkende Fieberkurven, Essensaufnahme und Stuhlkonsistenz, um nächtelanges Wachen am Bett eines kranken Kindes und die Freude der Genesung. Dacia Maraini kommentiert die Notizen kaum, sie nimmt sie zum Anlass freier Assoziationen. Sie erinnert sich und ergänzt, denkt über das Verhältnis zu Vater und Mutter nach und liefert in knappen Skizzen den familiären Hintergrund der Großfamilie. Zwei freiheitsliebende Großmütter, eine große Reisende und begeistert Schreibende die eine, eine kapriziöse Aristokratin, die die Erziehung der Kinder gerne den Hausangestellten überlässt, um sich selbst in Amouren zu stürzen, die andere. Ein Großvater, der seinen Kindern die davonreisende Mutter ersetzt, und einer, der seinen Sohn ins Exil treibt. Den Mitgliedsausweis der faschistischen Partei, den Antonio Maraini seinem Sohn überreichte, hat dieser vor seinen Augen zerrissen; fünfzehn Jahre haben die beiden nicht miteinander gesprochen.
Es ist kein Zufall, dass man sich immer wieder an Roland Barthes erinnert fühlt. Für beide Autoren bedeutet Japan eine Schule des Zeichenlesens. Der Umgang mit einer Kultur, die streng formalisiert ist, prägt die Betrachtungsweise. Kein Wunder auch, dass die Tochter eines Ethnologen die japanische Kultur des Schenkens als Methode erkennt, Bündnisse zu stiften und Verbindlichkeiten herzustellen. Das strahlt auch ins spätere Leben Dacia Marainis aus. Die Freundschaft mit Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini kommt mit großer Selbstverständlichkeit zur Sprache. Und wenn Maraini erzählt, wie sehr sich Maria Callas zu Pasolini hingezogen fühlte, so hat das nichts Indiskretes, eher eine Form schwesterlichen Verständnisses.
Der Eintritt Japans in den Krieg gegen die USA und Großbritannien hat das Kindheitsidyll zerstört. Die Familie Maraini kam 1943 wegen ihres Antifaschismus in ein japanisches KZ. Dass die Autorin den Bericht über diese Jahre ihrer Schwester Toni überlassen hat (bisher ist er nur auf italienisch erschienen) und selbst nie darüber schreiben konnte, zeigt nicht nur, wie tief das „Gefühl der Scham und Bestürzung” gewesen sein muss, sondern auch, dass Dacia Maraini eine Autorin ist, die sich nicht gern in der Negativität bewegt. Eine gewisse Verleugnung des Schmerzes ist auch diesem Buch anzumerken. Manchmal wird das zur Naivität. Doch ist es gerade darin ungewöhnlich: sich niemals dem Schmerz hinzugeben.
MEIKE FESSMANN
DACIA MARAINI: Ein Schiff nach Kobe. Das japanische Tagebuch meiner Mutter. Aus dem Italienischen von Eva-Maria Wagner. Piper Verlag, München 2003. 283 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2004Wer zuhört, wird vergöttert
Dacia Maraini kommentiert das japanische Tagebuch ihrer Mutter
Dacia Maraini ist über die Grenzen Italiens hinaus bekannt. In den letzten Jahren ist ein gutes Dutzend ihrer Romane bei uns erschienen, die in geschickter Mischung Spannung, Sozialkritik, wohldosierte Erotik und emanzipatorische Ideen vermitteln. Sie hat feministische Theaterstücke geschrieben und tritt in der italienischen Tagespresse seit längerem mit zeit- und kulturkritischen Essays auf. In ihrem jüngsten Buch hat sich Dacia Maraini nun in das Dokumentarische ihrer eigenen Familiengeschichte hineinbegeben. In liebevoller Aufmachung präsentiert und kommentiert sie die Tagebücher ihrer Mutter, die in den Jahren 1938 bis 1941 entstanden sind und ihre Leser in exotische Ferne führen.
1938 entschlossen sich ihre Eltern - der Vater ein junger Ethnologe, die Mutter eine Tochter aus bester sizilianischer Familie -, das faschistische Italien zu verlassen und zusammen mit der zweijährigen Dacia für unbestimmte Zeit nach Japan zu gehen. Dort war dem begabten Gelehrten ein Forschungsprojekt angeboten worden. Der Bericht über diese Auswanderung der jungen Familie wird zum anschaulichen Exempel einer interkulturellen Begegnung.
Detailliert schildert Dacias Mutter in ihren Aufzeichnungen die Strapazen der langen Reise und der fortschreitenden Anpassung des Familienlebens an die fremden Lebensverhältnisse. Japanische Speisen, Trachten und Spielsachen, Ausflüge in die reizvolle Umgebung Kobes, Begegnungen mit einheimischen Nachbarn und Kollegen, dazu die Geburten der beiden jüngeren Töchter und das Heranwachsen der drei Mädchen - aus vielen Miniaturen entsteht das Bild einer multikulturellen Idylle auf Zeit. Denn das in den Tagebüchern geschilderte Glück war, wie uns Dacia Maraini andeutet, nur von begrenzter Dauer. Die Ehepartner entfernten sich in der fremden Umgebung innerlich voneinander, vor allem aber holte die Weltpolitik die italienischen Auswanderer ein: 1943 wurde die Familie wegen ihrer liberalen politischen Ansichten - die Eltern hatten stets die Politik Mussolinis kritisiert - in einem japanischen Konzentrationslager interniert.
Davon erzählen die Tagebücher der Mutter jedoch nichts mehr, und Maraini selbst spricht nur vage über den Schmerz dieser Zeit. Auf der letzten Seite bekennt sie: "Jahrelang habe ich selbst versucht, diese Geschichte zu erzählen, aber noch bevor ich überhaupt richtig anfing, habe ich bereits innegehalten, mit stockendem Atem, mit einem Gefühl der Scham und Bestürzung zugleich." Durch die Andeutung des Dunkeln, für das sie noch keine Worte gefunden hat, versucht Maraini ihrer Darstellung Tiefe und Glaubwürdigkeit zu geben.
Dort jedoch, wo von den Alltäglichkeiten des Familienlebens die Rede ist, fällt ihr das Erzählen leichter. Das führt zu manchen Verschiebungen in den Proportionen des Buches, denn Marainis Kommentare zu den mütterlichen Tagebuchnotizen übertreffen deren Umfang oft beträchtlich. Vor allem versucht die Autorin immer wieder, aus den frühen Beobachtungen ihrer Mutter Rückschlüsse auf ihre eigene spätere Entwicklung zu ziehen. Dabei wird manches kindliche Erlebnis stark strapaziert. So notiert die Mutter auf der langen Schiffspassage lakonisch über ihre zweijährige Tochter: "D. überlassen wir immer öfter den Zimmerkellnern. Die vergöttern sie." Die erwachsene Dacia glaubt in dieser Beobachtung schon den Keim einer späteren Begabung erkennen zu können: "Vielleicht vergötterten sie mich, weil ich ihnen zuhören konnte. Mein natürlicher Impuls war immer, ein geduldiges, aufmerksames Ohr darzustellen, ein Art Auffangbecken für die verschiedenartigsten Geschichten, und seien sie noch so verrückt, traurig oder lustig." Der kindliche Charme wird hier wohl doch überschätzt; deutlich ist zugleich, daß Dacia Maraini unterderhand zur eigentlichen Hauptperson dieses Buches wird.
Mitunter entfernt sie sich dabei weit von den Kinderjahren in Japan und nutzt die Gelegenheit, ausführlich ihre Ansichten zu vegetarischer Ernährung, dem Rinderwahnsinn oder die lockere Moral der Achtundsechziger zu erläutern. Hier meldet sich die streitbare Publizistin zu Wort, als die ihre italienischen Leserinnen Maraini seit langem kennen. Aber auch hausfrauliche Sorgen werden in den Kommentierungen des mütterlichen Tagebuchs erörtert; so erfahren wir unter anderem, warum man Marainis gepflegte Wohnung bis heute nur in Pantoffeln betreten darf. Bei der Schilderung solcher Alltäglichkeiten dient der Blick in die außergewöhnliche Vergangenheit nur noch dazu, die eigene Gegenwart zu illustrieren.
So ist es am Ende zu bedauern, daß Dacia Maraini zu wenig darauf vertraut, die mütterlichen Tagebuchaufzeichnungen für sich sprechen zu lassen. Selbst die vermeintlichen Faksimiles der alten Hefte - ein gutes Viertel des Buches enthält auf dezent getönten Seiten Abbildungen von Handschriften und zahlreiche Fotografien - sind nicht wirklich authentisch. Das Tagebuch wurde, wie es knapp heißt, "ergänzt durch Photos aus dem Familienarchiv". Dies läßt nun aber schnell die Grenze zwischen dem Dokumentarischen und rührseliger Inszenierung verwischen. Marainis Familiengeschichte hätte solche Eingriffe gewiß nicht nötig.
SABINE DOERING
Dacia Maraini: "Ein Schiff nach Kobe". Das japanische Tagebuch meiner Mutter. Aus dem Italienischen übersetzt von Eva-Maria Wagner. Piper Verlag, München und Zürich 2003. 280 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dacia Maraini kommentiert das japanische Tagebuch ihrer Mutter
Dacia Maraini ist über die Grenzen Italiens hinaus bekannt. In den letzten Jahren ist ein gutes Dutzend ihrer Romane bei uns erschienen, die in geschickter Mischung Spannung, Sozialkritik, wohldosierte Erotik und emanzipatorische Ideen vermitteln. Sie hat feministische Theaterstücke geschrieben und tritt in der italienischen Tagespresse seit längerem mit zeit- und kulturkritischen Essays auf. In ihrem jüngsten Buch hat sich Dacia Maraini nun in das Dokumentarische ihrer eigenen Familiengeschichte hineinbegeben. In liebevoller Aufmachung präsentiert und kommentiert sie die Tagebücher ihrer Mutter, die in den Jahren 1938 bis 1941 entstanden sind und ihre Leser in exotische Ferne führen.
1938 entschlossen sich ihre Eltern - der Vater ein junger Ethnologe, die Mutter eine Tochter aus bester sizilianischer Familie -, das faschistische Italien zu verlassen und zusammen mit der zweijährigen Dacia für unbestimmte Zeit nach Japan zu gehen. Dort war dem begabten Gelehrten ein Forschungsprojekt angeboten worden. Der Bericht über diese Auswanderung der jungen Familie wird zum anschaulichen Exempel einer interkulturellen Begegnung.
Detailliert schildert Dacias Mutter in ihren Aufzeichnungen die Strapazen der langen Reise und der fortschreitenden Anpassung des Familienlebens an die fremden Lebensverhältnisse. Japanische Speisen, Trachten und Spielsachen, Ausflüge in die reizvolle Umgebung Kobes, Begegnungen mit einheimischen Nachbarn und Kollegen, dazu die Geburten der beiden jüngeren Töchter und das Heranwachsen der drei Mädchen - aus vielen Miniaturen entsteht das Bild einer multikulturellen Idylle auf Zeit. Denn das in den Tagebüchern geschilderte Glück war, wie uns Dacia Maraini andeutet, nur von begrenzter Dauer. Die Ehepartner entfernten sich in der fremden Umgebung innerlich voneinander, vor allem aber holte die Weltpolitik die italienischen Auswanderer ein: 1943 wurde die Familie wegen ihrer liberalen politischen Ansichten - die Eltern hatten stets die Politik Mussolinis kritisiert - in einem japanischen Konzentrationslager interniert.
Davon erzählen die Tagebücher der Mutter jedoch nichts mehr, und Maraini selbst spricht nur vage über den Schmerz dieser Zeit. Auf der letzten Seite bekennt sie: "Jahrelang habe ich selbst versucht, diese Geschichte zu erzählen, aber noch bevor ich überhaupt richtig anfing, habe ich bereits innegehalten, mit stockendem Atem, mit einem Gefühl der Scham und Bestürzung zugleich." Durch die Andeutung des Dunkeln, für das sie noch keine Worte gefunden hat, versucht Maraini ihrer Darstellung Tiefe und Glaubwürdigkeit zu geben.
Dort jedoch, wo von den Alltäglichkeiten des Familienlebens die Rede ist, fällt ihr das Erzählen leichter. Das führt zu manchen Verschiebungen in den Proportionen des Buches, denn Marainis Kommentare zu den mütterlichen Tagebuchnotizen übertreffen deren Umfang oft beträchtlich. Vor allem versucht die Autorin immer wieder, aus den frühen Beobachtungen ihrer Mutter Rückschlüsse auf ihre eigene spätere Entwicklung zu ziehen. Dabei wird manches kindliche Erlebnis stark strapaziert. So notiert die Mutter auf der langen Schiffspassage lakonisch über ihre zweijährige Tochter: "D. überlassen wir immer öfter den Zimmerkellnern. Die vergöttern sie." Die erwachsene Dacia glaubt in dieser Beobachtung schon den Keim einer späteren Begabung erkennen zu können: "Vielleicht vergötterten sie mich, weil ich ihnen zuhören konnte. Mein natürlicher Impuls war immer, ein geduldiges, aufmerksames Ohr darzustellen, ein Art Auffangbecken für die verschiedenartigsten Geschichten, und seien sie noch so verrückt, traurig oder lustig." Der kindliche Charme wird hier wohl doch überschätzt; deutlich ist zugleich, daß Dacia Maraini unterderhand zur eigentlichen Hauptperson dieses Buches wird.
Mitunter entfernt sie sich dabei weit von den Kinderjahren in Japan und nutzt die Gelegenheit, ausführlich ihre Ansichten zu vegetarischer Ernährung, dem Rinderwahnsinn oder die lockere Moral der Achtundsechziger zu erläutern. Hier meldet sich die streitbare Publizistin zu Wort, als die ihre italienischen Leserinnen Maraini seit langem kennen. Aber auch hausfrauliche Sorgen werden in den Kommentierungen des mütterlichen Tagebuchs erörtert; so erfahren wir unter anderem, warum man Marainis gepflegte Wohnung bis heute nur in Pantoffeln betreten darf. Bei der Schilderung solcher Alltäglichkeiten dient der Blick in die außergewöhnliche Vergangenheit nur noch dazu, die eigene Gegenwart zu illustrieren.
So ist es am Ende zu bedauern, daß Dacia Maraini zu wenig darauf vertraut, die mütterlichen Tagebuchaufzeichnungen für sich sprechen zu lassen. Selbst die vermeintlichen Faksimiles der alten Hefte - ein gutes Viertel des Buches enthält auf dezent getönten Seiten Abbildungen von Handschriften und zahlreiche Fotografien - sind nicht wirklich authentisch. Das Tagebuch wurde, wie es knapp heißt, "ergänzt durch Photos aus dem Familienarchiv". Dies läßt nun aber schnell die Grenze zwischen dem Dokumentarischen und rührseliger Inszenierung verwischen. Marainis Familiengeschichte hätte solche Eingriffe gewiß nicht nötig.
SABINE DOERING
Dacia Maraini: "Ein Schiff nach Kobe". Das japanische Tagebuch meiner Mutter. Aus dem Italienischen übersetzt von Eva-Maria Wagner. Piper Verlag, München und Zürich 2003. 280 S., geb., 19,90 [Euro].
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"Was für ein einzigartiges, überraschendes Buch!" (La Stampa)