Silvia Avallone schreibt die ergreifende Geschichte zweier italienischer Mädchen. Die beiden 13-jährigen Freundinnen Anna und Francesca heben sich durch ihre Schönheit und Lebenslust von der Tristesse des kleinen Küstenorts Piombino ab. Der Alltag dort ist geprägt von der Arbeit im nahe gelegenen Stahlwerk, von verkrusteten Lebensstrukturen und Frustration. Die Freundschaft der beiden Mädchen zerbricht, als die frühreife Anna eine Beziehung mit dem ehemaligen Kriminellen Mattia eingeht. Francesca, enttäuscht über den vermeintlichen Verrat durch die Freundin, gerät auf Abwege. »Ein Sommer aus Stahl« ist ein Roman über die großen Themen: Freundschaft, Liebe, Familie, Gewalt und Tod.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2011Kennst du das Land, wo die Bildschirme glühn?
Silvia Avallone wirft in ihrem Debüt "Sommer aus Stahl" einen kühlen Blick auf Italiens quälenden Niedergang
Es ist der letzte Sommer ihrer Kindheit. Anna und Francesca sind dreizehn Jahre alt. Sie verbringen die Nachmittage am Strand von Piombino, lassen sich von den älteren Jungen ins Wasser werfen, um sich anschließend in den warmen Sand zu legen und von der Zukunft zu träumen: von einer Fahrt auf dem Rücksitz eines Motorrollers, von einem Kuss, von dem entfesselten Leben in den Britney-Spears-Videos, die im Sommer des Jahres 2001 in ständiger Wiederholung auf MTV laufen. "Bald ist es so weit", das ist der Satz, an dem Anna und Francesca sich festhalten: "Die Welt muss noch kommen. Die Welt kommt mit vierzehn."
Auf den ersten Blick ist "Ein Sommer aus Stahl" eine klassische Coming-of-Age-Geschichte: Silvia Avallone, Jahrgang 1984, erzählt in ihrem Debütroman in einer einfachen und direkten Sprache von zwei Mädchen und ihren "explodierenden Körpern", von Annäherungen in hölzernen Umkleidekabinen und dem schmalen Grat zwischen bester Freundschaft und erster Liebe. Eifersüchtig beobachtet Francesca, wie Anna den Jungen den Kopf verdreht, und als sie sich aus Furcht vor ihren eigenen Gefühlen - "sag mir, dass ich normal bin" - von ihrer Freundin abwendet, nimmt das Teenagerdrama seinen Lauf.
Die Pubertät ist ein Stahlbad, diese Geschichte ist schon häufiger erzählt worden. Das Interessante ist in diesem Fall zunächst einmal die triste, norditalienische Kulisse: Hinter dem Strand von Piombino erheben sich die trostlosen Mietskasernen und die rußgeschwärzten Schornsteine der Lucchini-Werke.
Francescas Vater steht am Hochofen, und wenn er nach Hause kommt, ballt er seine schwieligen Finger zur Faust und verprügelt seine Tochter, weil er es nicht erträgt, dass sie immer mehr aussieht wie eine der Frauen auf dem "Maxim"-Kalender. Annas Vater dagegen ist gerade gekündigt worden, weil er im Werk ein paar Kanister Diesel gestohlen hat; jetzt verzockt er sein letztes Gehalt, während seine Frau Flugblätter der Kommunistischen Partei verteilt, die hier niemand mehr lesen will. Annas älterer Bruder Alessio schluckt lieber Amphetamine, um die nächste Schicht auf dem Laufkran zu überstehen - und zuckt nur mit den Schultern, als er erfährt, dass der neue russische Teilhaber einen Teil der Produktion nach Osteuropa auslagern will. "Sommer aus Stahl" wirft einen kühlen, manchmal fast dokumentarischen Blick auf ein müdes postproletarisches Milieu, das das quälend langsame Sterben der einheimischen Industrie schon lange mitverfolgt und insgeheim auf ihren schnellen Tod hofft: "Stellt euch nur mal vor, ein Flugzeug fliegt gegen den Hochofen", sagt Alessio zu den anderen, als am Ende des Sommers in New York die Zwillingstürme des World Trade Center einstürzen.
Silvia Avallone hat offenbar einen Nerv getroffen. In ihrer Heimat war "Sommer aus Stahl" der Überraschungserfolg der vergangenen Saison und hat sich aus dem Stand heraus dreihunderttausendmal verkauft. Um zu verstehen, warum das Debüt ein Bestseller werden konnte, darf man sich nicht davon täuschen lassen, dass der erste Teil des Romans dramaturgisch direkt auf die Anschläge auf das World Trade Center zuläuft. Das eigentliche historische Datum, das dem Buch zugrunde liegt, ist nicht der 11. September, sondern der 13. Mai 2001. Es ist der Tag, an dem Silvio Berlusconi zum zweiten Mal die Mehrheit im Parlament erringt - und in Italien alles "völlig anders" wird, wie es an einer Stelle lapidar heißt. Auch die Arbeiter in Piombino haben Forza Italia gewählt, und als Gegenleistung bekommen sie eine extra Dosis medialer Betäubungsmittel. Auch darum geht es Silvia Avallone: Die von Silvio Berlusconi kontrollierten Fernsehshows, die über die Satellitenschüsseln an den Fassaden der Hochhaussiedlung in die Wohnzimmer gelangen, werden von "leichtgeschürzten Mädchen" und halbnackten, minderjährigen Assistentinnen dominiert - und Anna und Francesca imitieren deren Auftritte, wenn sie sich gleich zu Beginn am Fenster der Hochhaussiedlung vor den Augen der Nachbarn gegenseitig die Kleider vom Leib reißen.
"Ich würde gerne eines Tages Fernsehen machen", sagt Francesca später, als sie längst vierzehn ist und alle anderen Träume sich bereits in Luft aufgelöst haben. So ist "Sommer aus Stahl" tatsächlich ein Adoleszenzroman, aber im erweiterten Sinne: Er erzählt nicht nur von zwei pubertierenden Mädchen, sondern von einem ganzen Land, das sich in einem künstlich erzeugten Hormonrausch befindet.
KOLJA MENSING
Silvia Avallone: "Ein Sommer aus Stahl". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 414 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Silvia Avallone wirft in ihrem Debüt "Sommer aus Stahl" einen kühlen Blick auf Italiens quälenden Niedergang
Es ist der letzte Sommer ihrer Kindheit. Anna und Francesca sind dreizehn Jahre alt. Sie verbringen die Nachmittage am Strand von Piombino, lassen sich von den älteren Jungen ins Wasser werfen, um sich anschließend in den warmen Sand zu legen und von der Zukunft zu träumen: von einer Fahrt auf dem Rücksitz eines Motorrollers, von einem Kuss, von dem entfesselten Leben in den Britney-Spears-Videos, die im Sommer des Jahres 2001 in ständiger Wiederholung auf MTV laufen. "Bald ist es so weit", das ist der Satz, an dem Anna und Francesca sich festhalten: "Die Welt muss noch kommen. Die Welt kommt mit vierzehn."
Auf den ersten Blick ist "Ein Sommer aus Stahl" eine klassische Coming-of-Age-Geschichte: Silvia Avallone, Jahrgang 1984, erzählt in ihrem Debütroman in einer einfachen und direkten Sprache von zwei Mädchen und ihren "explodierenden Körpern", von Annäherungen in hölzernen Umkleidekabinen und dem schmalen Grat zwischen bester Freundschaft und erster Liebe. Eifersüchtig beobachtet Francesca, wie Anna den Jungen den Kopf verdreht, und als sie sich aus Furcht vor ihren eigenen Gefühlen - "sag mir, dass ich normal bin" - von ihrer Freundin abwendet, nimmt das Teenagerdrama seinen Lauf.
Die Pubertät ist ein Stahlbad, diese Geschichte ist schon häufiger erzählt worden. Das Interessante ist in diesem Fall zunächst einmal die triste, norditalienische Kulisse: Hinter dem Strand von Piombino erheben sich die trostlosen Mietskasernen und die rußgeschwärzten Schornsteine der Lucchini-Werke.
Francescas Vater steht am Hochofen, und wenn er nach Hause kommt, ballt er seine schwieligen Finger zur Faust und verprügelt seine Tochter, weil er es nicht erträgt, dass sie immer mehr aussieht wie eine der Frauen auf dem "Maxim"-Kalender. Annas Vater dagegen ist gerade gekündigt worden, weil er im Werk ein paar Kanister Diesel gestohlen hat; jetzt verzockt er sein letztes Gehalt, während seine Frau Flugblätter der Kommunistischen Partei verteilt, die hier niemand mehr lesen will. Annas älterer Bruder Alessio schluckt lieber Amphetamine, um die nächste Schicht auf dem Laufkran zu überstehen - und zuckt nur mit den Schultern, als er erfährt, dass der neue russische Teilhaber einen Teil der Produktion nach Osteuropa auslagern will. "Sommer aus Stahl" wirft einen kühlen, manchmal fast dokumentarischen Blick auf ein müdes postproletarisches Milieu, das das quälend langsame Sterben der einheimischen Industrie schon lange mitverfolgt und insgeheim auf ihren schnellen Tod hofft: "Stellt euch nur mal vor, ein Flugzeug fliegt gegen den Hochofen", sagt Alessio zu den anderen, als am Ende des Sommers in New York die Zwillingstürme des World Trade Center einstürzen.
Silvia Avallone hat offenbar einen Nerv getroffen. In ihrer Heimat war "Sommer aus Stahl" der Überraschungserfolg der vergangenen Saison und hat sich aus dem Stand heraus dreihunderttausendmal verkauft. Um zu verstehen, warum das Debüt ein Bestseller werden konnte, darf man sich nicht davon täuschen lassen, dass der erste Teil des Romans dramaturgisch direkt auf die Anschläge auf das World Trade Center zuläuft. Das eigentliche historische Datum, das dem Buch zugrunde liegt, ist nicht der 11. September, sondern der 13. Mai 2001. Es ist der Tag, an dem Silvio Berlusconi zum zweiten Mal die Mehrheit im Parlament erringt - und in Italien alles "völlig anders" wird, wie es an einer Stelle lapidar heißt. Auch die Arbeiter in Piombino haben Forza Italia gewählt, und als Gegenleistung bekommen sie eine extra Dosis medialer Betäubungsmittel. Auch darum geht es Silvia Avallone: Die von Silvio Berlusconi kontrollierten Fernsehshows, die über die Satellitenschüsseln an den Fassaden der Hochhaussiedlung in die Wohnzimmer gelangen, werden von "leichtgeschürzten Mädchen" und halbnackten, minderjährigen Assistentinnen dominiert - und Anna und Francesca imitieren deren Auftritte, wenn sie sich gleich zu Beginn am Fenster der Hochhaussiedlung vor den Augen der Nachbarn gegenseitig die Kleider vom Leib reißen.
"Ich würde gerne eines Tages Fernsehen machen", sagt Francesca später, als sie längst vierzehn ist und alle anderen Träume sich bereits in Luft aufgelöst haben. So ist "Sommer aus Stahl" tatsächlich ein Adoleszenzroman, aber im erweiterten Sinne: Er erzählt nicht nur von zwei pubertierenden Mädchen, sondern von einem ganzen Land, das sich in einem künstlich erzeugten Hormonrausch befindet.
KOLJA MENSING
Silvia Avallone: "Ein Sommer aus Stahl". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 414 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es überrascht den Rezensenten Kolja Mensing nicht, dass dieser Debütroman bei seinem Erscheinen in Italien ein Bestseller war. Es beschreibt den Übergang in die Berlusconi-Gesellschaft offenbar sehr genau. Hauptfiguren sind zwei 13-jährige Mädchen aus Norditalien, deren Väter zu dem "müden postproletarischen Milieu" gehören, das mit dem Verfall der Schwerindustrie entstanden ist. Was bleibt ist das Fernsehprogramm von Berlusconi. Die Mädchen, endlich 14 geworden, können sich nichts Schöneres vorstellen, als "Fernsehen zu machen". In "einfacher und direkter" Sprache, so Mensing, erzählt die Autorin, wie sich ganz Italien nach Betäubung sehnt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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