Ein Zug fährt durch die Nacht. Ein junger russischer Intellektueller ist auf dem Weg nach Leningrad, auf den Spuren des großen Romanciers Fjodor Dostojewski. In einer alten, zerfledderten Ausgabe liest er das Tagebuch von Anna Grigorjewna, der Ehefrau und großen Liebe des Schriftstellers. Bald ist er so gebannt von diesen Aufzeichnungen einer Ehe, dass die Figuren zum Leben erwachen - ein zweiter Zug fährt in entgegengesetzter Richtung, im Jahre 1867 reist das frisch verheiratete Ehepaar Dostojewski nach Baden-Baden, das Eldorado aller Spieler.
Es folgt eine Zeit voller Irrwege und Kämpfe, ein jahrelanger Grenzgang zwischen Dostojewskis begnadeter Vorstellungskraft und seiner sadistischen Launenhaftigkeit, zwischen kreativen Schaffensräuschen und lähmender Epilepsie. Der Leser begleitet das Paar auf seiner Odyssee durch die Psyche einer Ehe. Dostojewskis zerstörerische Spielsucht treibt sie an den Rand des Ruins, ein geheimnisvoller Brief einer früheren Liebe wird für seine junge Frau zur seelischen Zerreißprobe.
So entsteht das Porträt zweier liebenswert tragischer Figuren, wie von Dostojewski selbst geschaffen, und ein Roman, in dem die Reise zur Apotheose des Lebens wird, der Kunst und der Spielarten der Liebe. Ein Sommer in Baden-Baden ist ein Traumroman, Perspektiven und Zeiten fließen ineinander, hypnotisch lange Sätze umschlingen den Leser wie Gestalten aus Dostojewskis Phantasie. Virtuos verschränkt der Erzähler seine eigene Gegenwart mit der fiebrig pulsierenden Vergangenheit und verwebt Faktisches mit Fiktionalem zu einem leidenschaftlich-halluzinatorischen Assoziationsrausch.
Es folgt eine Zeit voller Irrwege und Kämpfe, ein jahrelanger Grenzgang zwischen Dostojewskis begnadeter Vorstellungskraft und seiner sadistischen Launenhaftigkeit, zwischen kreativen Schaffensräuschen und lähmender Epilepsie. Der Leser begleitet das Paar auf seiner Odyssee durch die Psyche einer Ehe. Dostojewskis zerstörerische Spielsucht treibt sie an den Rand des Ruins, ein geheimnisvoller Brief einer früheren Liebe wird für seine junge Frau zur seelischen Zerreißprobe.
So entsteht das Porträt zweier liebenswert tragischer Figuren, wie von Dostojewski selbst geschaffen, und ein Roman, in dem die Reise zur Apotheose des Lebens wird, der Kunst und der Spielarten der Liebe. Ein Sommer in Baden-Baden ist ein Traumroman, Perspektiven und Zeiten fließen ineinander, hypnotisch lange Sätze umschlingen den Leser wie Gestalten aus Dostojewskis Phantasie. Virtuos verschränkt der Erzähler seine eigene Gegenwart mit der fiebrig pulsierenden Vergangenheit und verwebt Faktisches mit Fiktionalem zu einem leidenschaftlich-halluzinatorischen Assoziationsrausch.
Erzählen wie nach einer Nahtoderfahrung: Der Pathologe Leonid Zypkin seziert sein eigenes jüdisch-sowjetisches Familienschicksal
Dass Leonid Zypkin (1926 bis 1982), ein sowjetischer Mediziner und Pathologe, der nach Feierabend Gedichte und Prosa schrieb, postum als einer der großen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts gewürdigt wurde, grenzt an ein Wunder. Es verdankt sich nicht zuletzt der Schriftstellerin Susan Sontag, die Zypkins Dostojewski-Roman "Ein Sommer in Baden-Baden" Anfang der Neunziger als ausgemustertes Taschenbuch in einer Londoner Bücherwühlkiste entdeckte und seinen literarischen Rang erkannte. Mit Sontags luzidem Einführungsessay, der auch für die Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische zur obligatorischen Beigabe wurde, hat nun der Aufbau Verlag die schon länger vergriffene kongeniale Übertragung von Alfred Frank in einer schönen Neuedition herausgebracht.
Erstmals sind darin auch Zypkins Fotos von Dostojewski-Schauplätzen im Leningrad der siebziger Jahre enthalten, die seine Milieustudien beim Schreibprozess dokumentieren. Und flankierend bringt der Verlag auch noch Zypkins früheren Roman heraus: "Die Brücke über den Fluss", eine Familien- und Kriegsgeschichte, an der der Autor seine einzigartige, Entferntes und Gegensätzliches zu einem Gesamtklang verklammernde Poetik entwickelte.
Zypkin wuchs im weißrussischen Minsk in einer jüdischen Ärztefamilie auf und wurde in seinen literarischen Interessen von einer gebildeten Moskauer Tante gefördert. Nach dem deutschen Überfall 1941 gelang der Kernfamilie gerade noch die Flucht aus Minsk, wo die Besatzer dann Verwandte und Kollegen ermordeten. Die aus der Evakuierung Heimkehrenden fanden die Stadt völlig zerstört vor. Zypkin zog später nach Moskau und machte eine wissenschaftliche Karriere. Doch die antisemitische Aggression, der erst sein Vater, dann er selbst und schließlich auch sein Sohn ausgesetzt waren, hat ihn dauerhaft gezeichnet bis zum frühen Herztod an seinem sechsundfünfzigsten Geburtstag.
Zypkins Erzählkunst erinnert an das Halluzinieren infolge einer Nahtoderfahrung, wobei weitgespannte Zusammenhänge nachgezeichnet und Zeiträume durchflogen werden, dies aber in fotografisch präzisen Bildern. Der Autor, der in "Die Brücke über den Fluss" sein früheres Selbst in der dritten Person schildert, sieht, wie dieser dickliche Junge auf das pompöse Opernhaus zuradelt, wo schon bald der Stab der deutschen Besatzer untergebracht sein wird; das Radfahren hatte ihm kurz zuvor der bewunderte große Cousin beigebracht, der nach Kriegsbeginn zum Flugzeugwartungsdienst gegangen war, bald aber von einem deutschen Panzerkommando getötet wurde, weshalb Briefe der Familie an ihn zurückkamen, woraufhin die Großmutter, die besonders an dem jungen Mann hing, ihr Gedächtnis verlor.
Ein verstörender Reiz des Buches liegt in seiner Engführung von Eros und Thanatos. So absorbieren den halbwüchsigen Helden des ersten Teils verwirrende Gefühle für die Tochter eines Kollegen seines Vaters, die von Ehrfurcht über Mitleid bis zur süßen Versuchung, fremde Schwäche auszunutzen, changieren, während deutsche Flieger über der Stadt kreisen, die durch Brände auch nachts taghell erleuchtet ist. Der zweite Teil beschreibt die tödliche Lungenerkrankung des Vaters und die Therapiebemühungen seiner Ärztekollegen in peinvoll professionellen Einzelheiten. Dabei entbrennt Zypkins dieses Sterben begleitendes Alter Ego, nun als verheirateter Mann, für eine Krankenschwester und nötigt ihr, während sie Uringefäße reinigt, einen Kuss ab.
Als Pathologe hat der Autor stets das Ende seiner Figuren vor Augen. Mit dem Bild des einst begehrten Mädchens zieht auch die Gestalt der ältlichen Museumsführerin herauf, die sie später sein wird. Passanten in der Metro stellt der Erzähler sich sogleich in späteren Lebensphasen und auf dem Totenbett vor. Mit untrüglichem Blick des Seelenarchäologen führt er zudem die Langzeitwirkung von Traumata vor. Die Ohrfeige, die er als Heranwachsender von einem viel kleineren Jungen bekam, weil er Jude war, erzeugt in ihm noch lange sowohl Schuldgefühle als auch Rachephantasien. Ein Echo davon findet sich in seinen sadistischen Anwandlungen gegenüber dem großen, aber feigen Familienhund und den grotesken Vorwürfen an seine Frau, für sie sei er nur "Scheiße".
Hier liegt ein Schlüssel zu Zypkins Hauptwerk, dem Roman über den von Nichtigkeitsgefühlen und Ressentiments, auch gegen Juden, besessenen Dostojewski, dessen literarische Größe aus seinen menschlichen Niederlagen hervorwächst. "Ein Sommer in Baden-Baden" entstand in den Jahren 1977 bis 1980, als Zypkins Sohn in die Vereinigten Staaten ausgereist und er selbst deswegen an seinem Institut degradiert worden war. Es ist eine Annäherung an den von Geldnot, Spielsucht, epileptischen Anfällen und der Erinnerung an seine Sträflingszeit geplagten Romancier, die sich von den Aufzeichnungen von dessen zweiter Frau, der jungen Stenotypistin Anna Snitkina, leiten lässt. Der exzeptionell einfühlsame Text vergegenwärtigt die komplexgeladene Verachtung, die das vor Gläubigern geflohene Paar für Juden, Deutsche, Polen, aber auch weltläufige Russen empfindet, wie der Schriftsteller Schmuck und Kleidung seiner Frau verpfändet und sie wegen Nichtigkeiten anfährt. Und wie ihr die Liebe Kraft gibt, zu ihm zu halten und zu verzeihen. Fast wie ein liebender Partner vergibt auch Zypkin Dostojewski dessen Antisemitismus.
Der Erzählstrom verflicht zwei Reisen: die der Dostojewskis während der Sommermonate 1867 und Zypkins eigene Erkundungstour mehr als hundert Jahre später ins sowjetisch graue Leningrad, wie Sankt Petersburg damals hieß, wo er bei einer mütterlichen Freundin unterkommt, in deren Schicksal - ihr Mann kam ins Lager, wurde untreu, sie verzieh ihm - Dostojewskis Drama widerhallt. Ihr ist das Buch gewidmet. Zypkin, der profunde Kenner von Dostojewskis Werk und Wirkung, vergegenwärtigt dessen Obsessionen, als wären es seine eigenen. Der lange Atem der über Seiten mäandernden, durch Gedankenstriche lose vernähten "Zypkin-Sätze" trägt durch Epochen und Seelenlandschaften. Szenen aus Dostojewskis Katorga scheinen auf, Figuren seiner Romane, erniedrigende Begegnungen mit Iwan Turgenjew und Iwan Gontscharow, die er anpumpt, dann megalomane Phantasien, aber auch die namenlosen Schatten von Dissidenten des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa von Alexander Solschenizyn, der Dostojewskis slawophile Mission fortsetzte, oder von dessen westlich orientiertem Gegenpart, dem Menschenrechtler Andrej Sacharow. Dazwischen aber finden sich immer wieder beglückende Inseln gemeinsamen "Schwimmens", wie Zypkin die ungeschützte Bodenlosigkeit der Liebe umschreibt, mittels deren die jungvermählten Eheleute Dostojewski ihre Wunden heilen.
KERSTIN HOLM
Leonid Zypkin: "Die Brücke über den Fluss". Roman.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag Berlin, 2020. 208 S., geb., 22,- [Euro].
Leonid Zypkin: "Ein Sommer in Baden-Baden". Roman.
Aus dem Russischen von Alfred Frank. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 312 S., geb., 24,- [Euro]
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Glücksfall" bezeichnet Paul Ingendaay diese Neuübersetzung des Romans von Leonid Zypkin, die die Erstübertragung dank ihrer "leuchtenden Intensität" übertreffe. Dass es möglich ist, der Biografie mittels Literatur auf die Sprünge zu helfen, hat ihm die Lektüre bestätigt. Wenn darüber das Buch zum "Doppelroman" gerät, freut das den Rezensenten um so mehr. Beschert es ihm doch erstens einen mit genauer Werkkenntnis entlang von Lebenszeugnissen entwickelten Dostojewski als Dostojewski-Figur, dessen atemloser Wahrnehmung Zypkins Stil entspreche, und zweitens ein Spiegelspiel, durch das sich das 19. im 20. Jahrhundert reflektiert und umgekehrt. So entsteht der "überwältigende Wahrheitseindruck", der Ingendaay in Staunen versetzt. Den noch größern Kunstgriff indes erkennt Ingendaay in dem Umstand, dass hier der Jude Zypkin dem Antisemiten Dostojewksi, der literarische Schüler dem Meister gegenübertritt mit der Frage nach der "Jahrhundertkatastrophe".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine große Wiederentdeckung.« Süddeutsche Zeitung 20200731