Martin Walsers großer Zeit- und Lebensroman: Erzählt wird von Johann, der in den dreißiger Jahren in Wasserburg am Bodensee aufwächst. Erzählt wird von einem, der lernt, sein Leben in die Hand zu nehmen, seinen in Kindertagen gepflanzten Wörterbaum zu pflegen und nur sich, »seinen« Büchern und »seiner« Sprache zu vertrauen.
Martin Walser erinnert sich, vergegenwärtigt, enthebt die Zeit ihrer Pflicht. So leuchtend und lebendig kommen die Figuren der - vermeintlichen - Vergangenheit einher, so bis in den Schlag der Zunge genau, daß ihnen eine faszinierende Nähe zur Gegenwart gelingt.
Martin Walser erinnert sich, vergegenwärtigt, enthebt die Zeit ihrer Pflicht. So leuchtend und lebendig kommen die Figuren der - vermeintlichen - Vergangenheit einher, so bis in den Schlag der Zunge genau, daß ihnen eine faszinierende Nähe zur Gegenwart gelingt.
»Gelassen und keineswegs effektbedacht vorgetragen, erheitert Walsers späte Prosa wohl darum so unwiderstehlich, weil Charakteristisches seltsamerweise fast immer irgendwie erheitert. ... Es ist eines der großen Erinnerungs-Bücher unserer Literatur und unseres Jahrhunderts, ... ein Erinnerungsroman, der Wasserburg samt seinen schwäbisch-alemannisch redenden Bewohnern so zu retten vermag wie einst Thomas Manns Buddenbrooks Lübeck.« Joachim Kaiser Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.1998Der Wanderfotograf
Martin Walsers "Ein springender Brunnen" · Von Thomas Steinfeld
Wenn kleine Jungen vom Friseur kommen, kann ihnen nichts Schlimmeres passieren, als fotografiert zu werden. Nur ein paar Stoppel stehen über der Stirn, und für einen Scheitel reicht das Ganze nicht mehr. "Der springende Brunnen", Martin Walsers jüngster Roman, beginnt im Herbst 1932 mit einem Haarschnitt und einer Fotografie: Auf dem Heimweg fällt der Held, der fünfjährige Johann, einem Wanderfotografen in die Hände: Da steht er mit seinem Kahlkopf, die Schneidezähne über die Unterlippe vorgeschoben, und ist doch stolz, denn er ist der erste in der Familie, der ganz allein auf einer Fotografie zu sehen ist. Aber auch die Klage ahnt er schon, denn ein solches Foto kostet die Eltern drei Mark. In diesem Roman gibt es viele solcher Szenen der Selbstverklärung mit innewohnendem Gegenschlag, oder umgekehrt: der Erniedrigung mit immanenter Erhöhung.
Je weiter man in der Lektüre des Buches kommt, desto mehr sortiert sich das Werk dieses Autors: Auf der einen Seite liegen alle anderen Romane, Novellen, Erzählungen und Dramen Martin Walsers, auf der anderen liegt dieses Buch. Auf der einen Seite finden sich die literarischen Konstruktionen, Allegorien, Kombinationen von erdachten Figuren. Auf der anderen trifft man auf eine Kindheit und Jugend eines Johann, der erkennbar die Züge Martin Walsers trägt. Die Geschichte des Gastwirtsohnes aus Wasserburg am Bodensee ist die Pilgerfahrt eines älteren Herrn zurück an seine Anfänge.
Martin Walser stellte seinem ersten Roman, den "Ehen in Philippsburg" von 1957, ein Vorwort voran, in dem er ankündigte, den Abstand zwischen der Literatur und der Erfahrung verkürzen zu wollen. Dabei ist dieses Buch von einem existentiellen Pathos, so ernst und mächtig, daß kein Ort und keine lebende Gestalt dem gewachsen zu sein scheint. Die Stadt Philippsburg könnte irgendwo liegen, so wenig Genaues wird von ihr berichtet, das Personal besteht aus Schemen mit Berufen. Im Laufe der Jahre wurden Walsers Geschichten konkreter. Aber die Konstruktion schien immer durch. Und sollte es vermutlich auch.
Nicht mehr in diesem Roman. Der "springende Brunnen" ist eine gigantische Fotografie. Oder genauer gesagt: Es sind drei Fotografien. Die erste wurde im Herbst 1932 aufgenommen, die zweite im Frühjahr 1938 und die dritte kurz vor und nach der Kapitulation im Mai 1945. Dreimal sieht man Johann, seine Familie, das Wirtshaus, die Kameraden und Nachbarn. Dreimal ist es, als sei ein Wanderfotograf vorbeigekommen, habe sein Stativ zusammengeschraubt und ein Bild geschossen, das seinen Gegenstand erschöpft. Dreimal sieht man Johann mit Wasserburg, und alles ist darauf zu erkennen: die Apfelbäume und das Schuhwerk, die Fuhrwerke der Bauern und das Vertiko im Nebenzimmer, der Zigarrenstumpen und die Dosenpyramiden in Metzger Gierers Schaufenster. Nicht jeder hat ein solch großes Bild von sich selbst.
Und nicht jede Zeit erhält ein solches Porträt. Aufstieg und Untergang des Dritten Reiches bilden den Rahmen. Die erzählerische Genauigkeit dieses Romans ist so weit vorangetrieben, daß von der politischen Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland nur das zu erkennen ist, was sich der unmittelbaren Erfahrung darbot, was mit Augen wahrzunehmen und mit Händen zu greifen war. Hinter dem Reichtum der Beschreibung verbirgt sich der Wunsch, die Normalität in einer Zeit zu finden, die nie für normal gehalten werden konnte.
Während im einen Zimmer die Familie zusammensitzt und der Vater von seinen Plänen schwärmt, mit denen er das Wirtshaus und die Seinen endgültig aus der schrecklichen Obhut des Gerichtsvollziehers befreien will, von einer Angorazucht, von Seidenraupen und Magnetisierapparaten, versammeln sich die Nationalsozialisten vor dem Radio im Gastraum. Denn an diesem Tag, dem 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Schon innerhalb des kleinen Gemeinwesens ist der Weg vom einzelnen zum Allgemeinen vielfach geschichtet und geknickt. Ein hundertfach gestaffeltes Universum umgibt das kleine, scheinbar unbedeutende Schicksal.
Das Dorf setzt hier die Grenzen. Zuerst kommen die Familie, der Hund, das Wirtshaus und die Bediensteten, dann die Nachbarn, der Pfarrer, der Lehrer, die örtlichen Parteiführer, und schon die Herrschaften in den Villen am See gehören zu einer fernen, fremden Welt, besonders wenn sie Ribbentrop und Streicher heißen. Das Schicksal des einzelnen ist mit dem Gang des Großen und Ganzen auf so komplizierte Weise verbunden, daß sich, so scheint es, Martin Walser um dieser Geschichte willen in einen Schriftsteller der großen Form verwandeln mußte.
Als Elfjähriger erlebt Johann, wie der gleichaltrige Wolfgang aus dem Jungzug ausgestoßen wird. Zuerst wird sein Vollballonrad den Rain hinuntergestoßen: "Du weißt Bescheid", ruft ihn Edi, der Führer der kleinen Truppe, schneidig an. "Nein, sagte Wolfgang. Du bist Jude, sagte Edi. Halb, sagte Wolfgang. Befehl ist Befehl, brüllte Edi, als sei er beleidigt worden. Wolfgang sagte: Jawohl. Dabei nahm er Haltung an, Hände an die Hosennaht, Hacken zusammen, Schultern zurück, Kinn in die Höhe. Dann ging er, schaute sich aber noch einmal um. Mit gesenktem Kopf. Er hob den rechten Arm zum Hitlergruß, und unter dem rechten Arm durch sah er noch einmal her." Am Ende hilft Johann seinem früheren Gefährten, den Ballonreifen zu flicken.
Behutsam registriert Walser die Wechselfälle des landläufigen Opportunismus, und kein Kommentar schiebt sich zwischen die Geschichte und ihren Leser. Hier soll der Vergangenheit unparteiisch zu ihrem Recht verholfen werden - dieser Vergangenheit, keiner anderen. Deswegen ist dieses Buch in der dritten Person geschrieben. Der Autor will die Perspektive mit seinem Helden teilen, und unter den vielen großen Leistungen dieses Buches ist es eine der größten, wie es Walser gelingt, die Welt mit den Augen eines Fünfjährigen zu betrachten oder mit denen eines Elf- und Achtzehnjährigen.
In der Vergangenheit ist Martin Walser manchmal klüger gewesen als die Bücher, die er schrieb. Die Novelle "Dorle und Wolf", seine Geschichte der deutschen Teilung, ist dafür ein Beispiel, weil die Aufdringlichkeit der Allegorie ihre Wirkung zerstört. Auch beim "springenden Brunnen" ist der Philosoph Martin Walser dem Schriftsteller zu Hilfe gekommen. "Die, die sich am sehnsüchtigsten um die Vergangenheit bemühen, sind am meisten in Gefahr, das, was sie selber hervorgebracht haben, für das zu halten, was sie gesucht haben", erklärt der Erzähler. Und er meint es ernst: "Der springende Brunnen" löst diese Kritik an der Erinnerungskultur ein, mit den Mitteln der Literatur. Man merkt dem Buch den Stolz seines Autors an, daß er die unendlich vielen Details seiner Geschichte nicht hat archivieren müssen, sondern daß diese sich gleichsam von selbst eingefunden haben. "Der springende Brunnen", das heißt: Wirkliche Vergangenheit ist nur das, was von selbst zur Sprache drängt.
Deshalb ist Martin Walser auch nicht der Erzähler seines Buches. Er scheint vielmehr zu fürchten, als Erzähler wahrgenommen zu werden. Hinter Johann, der dritten Person, verbirgt sich die Hoffnung, sich als Erzähler von der Last befreien zu können, Martin Walser zu sein. Die erfundene Figur soll von den Pflichten des Schriftstellers freigehalten werden, der auch eine politisch-moralische Instanz in der deutschen Öffentlichkeit ist. Für Johann gibt es keinen moralischen Imperativ, und keiner hält hier Gericht über sich selbst. Statt dessen betrachtet der Autor seinen Helden wie eine Gestalt auf einer Fotografie. Er weiß, daß er es selbst ist, aber er schaut sich ins Gesicht wie einem fremden Menschen. Aus demselben Grund kann sich Walser nicht den Hinweis verkneifen, ein blasses Foto des fünfjährigen Martin - nicht Johann - in den Verlagsprospekt zu schmuggeln - frisch vom Friseur, die Schneidezähne vorgeschoben, das Fahrrad an der Hand.
Das Gegenbuch zum "springenden Brunnen" hat Martin Walser schon geschrieben. Es ist die "Verteidigung der Kindheit" von 1991. Alfred Dorn, der Held dieses Romans, ist der Antipode des erwachsen gewordenen Johann: eine ganz und gar rückwärtsgewandte Gestalt, ein unermüdlicher Sammler in den Archiven der Vergangenheit, ein Arbeiter im Bergwerk der Erinnerung. Nichts fällt ihm von allein zu, das Gewesene muß mit unerhörter Mühe zum Vorschein gebracht werden und spricht doch keinen Ton. Denn eines fehlt Alfred Dorn in diesem eher mißmutigen Roman: die Fähigkeit zu lernen.
Ein Vorbuch zum "springenden Brunnen" gibt es auch: Es ist der "Grüne Heinrich", auch wenn Gottfried Keller sich in der Überarbeitung seines Romans von 1879 gegen die zunächst verwendete dritte Person und für das "Ich" entschieden hat. Der frühe Tod des Vaters, die kalte Mutter, auf der das Überleben der Familie lastet, die frühe, künstliche Liebe zu einem Mädchen, ja am Ende auch die Zuneigung zu einer Landschaft - von all diesen Ereignissen war bereits bei Gottfried Keller die Rede, und sie kehren hier wieder, mit derselben Behutsamkeit, mit derselben unauffälligen Gewißheit und mit derselben Sentimentalität, die man aufbringt, wenn man um die Bedeutung einer Geschichte weiß und doch nichts an ihr ändern kann.
Noch etwas kehrt in diesem Roman aus einer früheren Zeit zurück: der metaphysische Glanz des Erzählens. Das liegt zum einen an der Ländlichkeit der Verhältnisse, am Erzählen aus der äußersten Provinz eines noch keineswegs ganz industrialisierten Landes. Eine Welt rückt hier wieder ins Bewußtsein, in der noch nicht jedes Geheimnis durch das öffentliche Geschwätz vernichtet ist - so wie die Stille durch die Allgegenwart des Automobils und die Nacht durch die nie verlöschende Straßenbeleuchtung. Zum anderen kehrt der Glanz des Erzählens zurück, weil hier jemand nicht nur der Erfahrung vertraut, sondern auch dem Vermögen der Literatur, eine private Lebenswelt gegen alle Zumutungen des Allgemeinen zu behaupten. Dafür eine Sprache gefunden zu haben ist das unschätzbare Verdienst Martin Walsers: auf der einen Seite alle Fiktionen, auf der anderen dieses Buch.
Martin Walser: "Ein springender Brunnen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 415 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Walsers "Ein springender Brunnen" · Von Thomas Steinfeld
Wenn kleine Jungen vom Friseur kommen, kann ihnen nichts Schlimmeres passieren, als fotografiert zu werden. Nur ein paar Stoppel stehen über der Stirn, und für einen Scheitel reicht das Ganze nicht mehr. "Der springende Brunnen", Martin Walsers jüngster Roman, beginnt im Herbst 1932 mit einem Haarschnitt und einer Fotografie: Auf dem Heimweg fällt der Held, der fünfjährige Johann, einem Wanderfotografen in die Hände: Da steht er mit seinem Kahlkopf, die Schneidezähne über die Unterlippe vorgeschoben, und ist doch stolz, denn er ist der erste in der Familie, der ganz allein auf einer Fotografie zu sehen ist. Aber auch die Klage ahnt er schon, denn ein solches Foto kostet die Eltern drei Mark. In diesem Roman gibt es viele solcher Szenen der Selbstverklärung mit innewohnendem Gegenschlag, oder umgekehrt: der Erniedrigung mit immanenter Erhöhung.
Je weiter man in der Lektüre des Buches kommt, desto mehr sortiert sich das Werk dieses Autors: Auf der einen Seite liegen alle anderen Romane, Novellen, Erzählungen und Dramen Martin Walsers, auf der anderen liegt dieses Buch. Auf der einen Seite finden sich die literarischen Konstruktionen, Allegorien, Kombinationen von erdachten Figuren. Auf der anderen trifft man auf eine Kindheit und Jugend eines Johann, der erkennbar die Züge Martin Walsers trägt. Die Geschichte des Gastwirtsohnes aus Wasserburg am Bodensee ist die Pilgerfahrt eines älteren Herrn zurück an seine Anfänge.
Martin Walser stellte seinem ersten Roman, den "Ehen in Philippsburg" von 1957, ein Vorwort voran, in dem er ankündigte, den Abstand zwischen der Literatur und der Erfahrung verkürzen zu wollen. Dabei ist dieses Buch von einem existentiellen Pathos, so ernst und mächtig, daß kein Ort und keine lebende Gestalt dem gewachsen zu sein scheint. Die Stadt Philippsburg könnte irgendwo liegen, so wenig Genaues wird von ihr berichtet, das Personal besteht aus Schemen mit Berufen. Im Laufe der Jahre wurden Walsers Geschichten konkreter. Aber die Konstruktion schien immer durch. Und sollte es vermutlich auch.
Nicht mehr in diesem Roman. Der "springende Brunnen" ist eine gigantische Fotografie. Oder genauer gesagt: Es sind drei Fotografien. Die erste wurde im Herbst 1932 aufgenommen, die zweite im Frühjahr 1938 und die dritte kurz vor und nach der Kapitulation im Mai 1945. Dreimal sieht man Johann, seine Familie, das Wirtshaus, die Kameraden und Nachbarn. Dreimal ist es, als sei ein Wanderfotograf vorbeigekommen, habe sein Stativ zusammengeschraubt und ein Bild geschossen, das seinen Gegenstand erschöpft. Dreimal sieht man Johann mit Wasserburg, und alles ist darauf zu erkennen: die Apfelbäume und das Schuhwerk, die Fuhrwerke der Bauern und das Vertiko im Nebenzimmer, der Zigarrenstumpen und die Dosenpyramiden in Metzger Gierers Schaufenster. Nicht jeder hat ein solch großes Bild von sich selbst.
Und nicht jede Zeit erhält ein solches Porträt. Aufstieg und Untergang des Dritten Reiches bilden den Rahmen. Die erzählerische Genauigkeit dieses Romans ist so weit vorangetrieben, daß von der politischen Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland nur das zu erkennen ist, was sich der unmittelbaren Erfahrung darbot, was mit Augen wahrzunehmen und mit Händen zu greifen war. Hinter dem Reichtum der Beschreibung verbirgt sich der Wunsch, die Normalität in einer Zeit zu finden, die nie für normal gehalten werden konnte.
Während im einen Zimmer die Familie zusammensitzt und der Vater von seinen Plänen schwärmt, mit denen er das Wirtshaus und die Seinen endgültig aus der schrecklichen Obhut des Gerichtsvollziehers befreien will, von einer Angorazucht, von Seidenraupen und Magnetisierapparaten, versammeln sich die Nationalsozialisten vor dem Radio im Gastraum. Denn an diesem Tag, dem 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Schon innerhalb des kleinen Gemeinwesens ist der Weg vom einzelnen zum Allgemeinen vielfach geschichtet und geknickt. Ein hundertfach gestaffeltes Universum umgibt das kleine, scheinbar unbedeutende Schicksal.
Das Dorf setzt hier die Grenzen. Zuerst kommen die Familie, der Hund, das Wirtshaus und die Bediensteten, dann die Nachbarn, der Pfarrer, der Lehrer, die örtlichen Parteiführer, und schon die Herrschaften in den Villen am See gehören zu einer fernen, fremden Welt, besonders wenn sie Ribbentrop und Streicher heißen. Das Schicksal des einzelnen ist mit dem Gang des Großen und Ganzen auf so komplizierte Weise verbunden, daß sich, so scheint es, Martin Walser um dieser Geschichte willen in einen Schriftsteller der großen Form verwandeln mußte.
Als Elfjähriger erlebt Johann, wie der gleichaltrige Wolfgang aus dem Jungzug ausgestoßen wird. Zuerst wird sein Vollballonrad den Rain hinuntergestoßen: "Du weißt Bescheid", ruft ihn Edi, der Führer der kleinen Truppe, schneidig an. "Nein, sagte Wolfgang. Du bist Jude, sagte Edi. Halb, sagte Wolfgang. Befehl ist Befehl, brüllte Edi, als sei er beleidigt worden. Wolfgang sagte: Jawohl. Dabei nahm er Haltung an, Hände an die Hosennaht, Hacken zusammen, Schultern zurück, Kinn in die Höhe. Dann ging er, schaute sich aber noch einmal um. Mit gesenktem Kopf. Er hob den rechten Arm zum Hitlergruß, und unter dem rechten Arm durch sah er noch einmal her." Am Ende hilft Johann seinem früheren Gefährten, den Ballonreifen zu flicken.
Behutsam registriert Walser die Wechselfälle des landläufigen Opportunismus, und kein Kommentar schiebt sich zwischen die Geschichte und ihren Leser. Hier soll der Vergangenheit unparteiisch zu ihrem Recht verholfen werden - dieser Vergangenheit, keiner anderen. Deswegen ist dieses Buch in der dritten Person geschrieben. Der Autor will die Perspektive mit seinem Helden teilen, und unter den vielen großen Leistungen dieses Buches ist es eine der größten, wie es Walser gelingt, die Welt mit den Augen eines Fünfjährigen zu betrachten oder mit denen eines Elf- und Achtzehnjährigen.
In der Vergangenheit ist Martin Walser manchmal klüger gewesen als die Bücher, die er schrieb. Die Novelle "Dorle und Wolf", seine Geschichte der deutschen Teilung, ist dafür ein Beispiel, weil die Aufdringlichkeit der Allegorie ihre Wirkung zerstört. Auch beim "springenden Brunnen" ist der Philosoph Martin Walser dem Schriftsteller zu Hilfe gekommen. "Die, die sich am sehnsüchtigsten um die Vergangenheit bemühen, sind am meisten in Gefahr, das, was sie selber hervorgebracht haben, für das zu halten, was sie gesucht haben", erklärt der Erzähler. Und er meint es ernst: "Der springende Brunnen" löst diese Kritik an der Erinnerungskultur ein, mit den Mitteln der Literatur. Man merkt dem Buch den Stolz seines Autors an, daß er die unendlich vielen Details seiner Geschichte nicht hat archivieren müssen, sondern daß diese sich gleichsam von selbst eingefunden haben. "Der springende Brunnen", das heißt: Wirkliche Vergangenheit ist nur das, was von selbst zur Sprache drängt.
Deshalb ist Martin Walser auch nicht der Erzähler seines Buches. Er scheint vielmehr zu fürchten, als Erzähler wahrgenommen zu werden. Hinter Johann, der dritten Person, verbirgt sich die Hoffnung, sich als Erzähler von der Last befreien zu können, Martin Walser zu sein. Die erfundene Figur soll von den Pflichten des Schriftstellers freigehalten werden, der auch eine politisch-moralische Instanz in der deutschen Öffentlichkeit ist. Für Johann gibt es keinen moralischen Imperativ, und keiner hält hier Gericht über sich selbst. Statt dessen betrachtet der Autor seinen Helden wie eine Gestalt auf einer Fotografie. Er weiß, daß er es selbst ist, aber er schaut sich ins Gesicht wie einem fremden Menschen. Aus demselben Grund kann sich Walser nicht den Hinweis verkneifen, ein blasses Foto des fünfjährigen Martin - nicht Johann - in den Verlagsprospekt zu schmuggeln - frisch vom Friseur, die Schneidezähne vorgeschoben, das Fahrrad an der Hand.
Das Gegenbuch zum "springenden Brunnen" hat Martin Walser schon geschrieben. Es ist die "Verteidigung der Kindheit" von 1991. Alfred Dorn, der Held dieses Romans, ist der Antipode des erwachsen gewordenen Johann: eine ganz und gar rückwärtsgewandte Gestalt, ein unermüdlicher Sammler in den Archiven der Vergangenheit, ein Arbeiter im Bergwerk der Erinnerung. Nichts fällt ihm von allein zu, das Gewesene muß mit unerhörter Mühe zum Vorschein gebracht werden und spricht doch keinen Ton. Denn eines fehlt Alfred Dorn in diesem eher mißmutigen Roman: die Fähigkeit zu lernen.
Ein Vorbuch zum "springenden Brunnen" gibt es auch: Es ist der "Grüne Heinrich", auch wenn Gottfried Keller sich in der Überarbeitung seines Romans von 1879 gegen die zunächst verwendete dritte Person und für das "Ich" entschieden hat. Der frühe Tod des Vaters, die kalte Mutter, auf der das Überleben der Familie lastet, die frühe, künstliche Liebe zu einem Mädchen, ja am Ende auch die Zuneigung zu einer Landschaft - von all diesen Ereignissen war bereits bei Gottfried Keller die Rede, und sie kehren hier wieder, mit derselben Behutsamkeit, mit derselben unauffälligen Gewißheit und mit derselben Sentimentalität, die man aufbringt, wenn man um die Bedeutung einer Geschichte weiß und doch nichts an ihr ändern kann.
Noch etwas kehrt in diesem Roman aus einer früheren Zeit zurück: der metaphysische Glanz des Erzählens. Das liegt zum einen an der Ländlichkeit der Verhältnisse, am Erzählen aus der äußersten Provinz eines noch keineswegs ganz industrialisierten Landes. Eine Welt rückt hier wieder ins Bewußtsein, in der noch nicht jedes Geheimnis durch das öffentliche Geschwätz vernichtet ist - so wie die Stille durch die Allgegenwart des Automobils und die Nacht durch die nie verlöschende Straßenbeleuchtung. Zum anderen kehrt der Glanz des Erzählens zurück, weil hier jemand nicht nur der Erfahrung vertraut, sondern auch dem Vermögen der Literatur, eine private Lebenswelt gegen alle Zumutungen des Allgemeinen zu behaupten. Dafür eine Sprache gefunden zu haben ist das unschätzbare Verdienst Martin Walsers: auf der einen Seite alle Fiktionen, auf der anderen dieses Buch.
Martin Walser: "Ein springender Brunnen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 415 S., geb., 49,80 DM.
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»Das Buch sprudelt vor Sprache, Erinnerungen und Geschichten geradezu über.« Deutschlandfunk Kultur »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher [...] besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK