Der Roman eines Verrats - da will der, um den es geht, nicht mehr leben. Er ist dem Tod so nah wie noch nie. Dann passiert etwas, jetzt will er leben wie noch nie. Diese Erfahrung: Je näher du dem Tod bist, desto schöner ist es zu leben. Oder genauer gesagt: desto schöner wäre es zu leben.
Martin Walsers Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.
Martin Walsers Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.
Die Wörter sind nun frei für neue Geschichten, neue Romane. Zum Beispiel für diesen herrlich leichten, selbstironischen, tragisch-schönen Roman des Theo-Erfinders Martin Walser. Volker Weidermann Der Spiegel
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2015Gedanken-Tango
Martin Walser im Holzhausenschlösschen
Partizipien haben keinen guten Ruf. Früher galt der Einsatz des Partizip Präsens einfach als schlechter Stil. Heute weiß kaum noch jemand, wie es auf Deutsch heißt. Nicht einmal Martin Walser, der die Partizipien in den Titeln seiner Bücher liebt, weil es sich um eine Dauerform handelt. "Etwas ist unterwegs", erläuterte der Altmeister unter den deutschen Schriftstellern jetzt den Titel seines noch unveröffentlichten Manuskripts "Ein sterbender Mann". Hieß es bei ihm nicht gerade noch "Ein liebender Mann"? Die Zuhörer im Frankfurter Holzhausenschlösschen waren jedenfalls sprachlos ob des Grammatikwissens einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Frankfurter Bürgerstiftung, die auf Walsers Frage nach der deutschen Übersetzung des Partizips prompt in den Saal rief: "Mittelwort der Gegenwart". Hausherr Clemens Greve strahlte.
Es war Walsers zehnter Auftritt im Holzhausenschlösschen. Zwar betrat der offenbar sehr gebrechliche Autor den Saal gestützt auf den Arm seines Begleiters und Moderators Jörg Magenau, aber dann konnte er plötzlich eine ganze Stunde lang am Lesepult stehen. Die Besucher erlebten, wie der eigene Text seinen 88 Jahre alten Verfasser aufblühen ließ, welche Vitalität Walser aus seiner Rezitation sog. Erst danach, im Gespräch mit dem Duzfreund, verließen ihn wieder die Kräfte, was ihn aber nicht daran hinderte, immer wieder aufzubrausen, wenn er sich missverstanden fühlte. Das galt vor allem für das Thema Verrat, das im Mittelpunkt des neuen Romans steht. "Du bist offenbar niemals verraten worden", wunderte sich der Schriftsteller über seinen Gesprächspartner, der nicht verstehen konnte, warum Walsers Protagonist den Lebensmut verliert, nachdem ihn sein bester Freund verraten hat.
Überhaupt hatte Magenau das Buch noch nicht ganz verstanden, obwohl er es zweimal gelesen hatte. Mancher Zuhörer war ihm dankbar, dass er das offen zugab, denn es war wirklich schwer, der Lesung zu folgen, ohne den Text zu kennen. In mehreren Strängen erzählt Walser von einem schreibenden Finanzier, der die Lyrikbände seines Freundes finanziert und sich in eine Tangotänzerin verliebt, obwohl er verheiratet ist. Also wieder einmal eine unmögliche Liebe. Theo flüchtet sich in ein Suizidal-Forum, aber, wie die meisten dort aktiven Suizidalen, überlebt er alle: seine Frau und seine Flamme - ein Sterbender mitten im Leben. Das rechtfertigt die hierzulande verfemte Dauerform. "Wir sind alle sterblich, aber wir leben ununterbrochen weiter", kommentierte der Schriftsteller sein Buch.
"Schreibt Theo, um sich vor der Realität zu retten?", fragte Magenau. "Woher soll ich das wissen?", konterte Walser, lenkte aber gleich wieder ein: "Obwohl ich nie so experimentierfreudig war, hatte ich auch mal den Wunsch, mit den Realitäten und Personen zu jonglieren." Sich selbst ins Spiel zu bringen, das habe ihm Spaß gemacht. "Ich wollte den Ernst wegnehmen von dem dröhnenden Titel." Aber: "Jeder schreibt um sein Leben. Man muss das Schicksal kommentieren, sonst ist es unerträglich." Zuletzt berief er sich auch noch auf Nietzsche: "Die Dissonanz ist die höchst entsprechende Seins-Tonart. Und der Tango drückt die Dissonanz aus."
Claudia Schülke
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Walser im Holzhausenschlösschen
Partizipien haben keinen guten Ruf. Früher galt der Einsatz des Partizip Präsens einfach als schlechter Stil. Heute weiß kaum noch jemand, wie es auf Deutsch heißt. Nicht einmal Martin Walser, der die Partizipien in den Titeln seiner Bücher liebt, weil es sich um eine Dauerform handelt. "Etwas ist unterwegs", erläuterte der Altmeister unter den deutschen Schriftstellern jetzt den Titel seines noch unveröffentlichten Manuskripts "Ein sterbender Mann". Hieß es bei ihm nicht gerade noch "Ein liebender Mann"? Die Zuhörer im Frankfurter Holzhausenschlösschen waren jedenfalls sprachlos ob des Grammatikwissens einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Frankfurter Bürgerstiftung, die auf Walsers Frage nach der deutschen Übersetzung des Partizips prompt in den Saal rief: "Mittelwort der Gegenwart". Hausherr Clemens Greve strahlte.
Es war Walsers zehnter Auftritt im Holzhausenschlösschen. Zwar betrat der offenbar sehr gebrechliche Autor den Saal gestützt auf den Arm seines Begleiters und Moderators Jörg Magenau, aber dann konnte er plötzlich eine ganze Stunde lang am Lesepult stehen. Die Besucher erlebten, wie der eigene Text seinen 88 Jahre alten Verfasser aufblühen ließ, welche Vitalität Walser aus seiner Rezitation sog. Erst danach, im Gespräch mit dem Duzfreund, verließen ihn wieder die Kräfte, was ihn aber nicht daran hinderte, immer wieder aufzubrausen, wenn er sich missverstanden fühlte. Das galt vor allem für das Thema Verrat, das im Mittelpunkt des neuen Romans steht. "Du bist offenbar niemals verraten worden", wunderte sich der Schriftsteller über seinen Gesprächspartner, der nicht verstehen konnte, warum Walsers Protagonist den Lebensmut verliert, nachdem ihn sein bester Freund verraten hat.
Überhaupt hatte Magenau das Buch noch nicht ganz verstanden, obwohl er es zweimal gelesen hatte. Mancher Zuhörer war ihm dankbar, dass er das offen zugab, denn es war wirklich schwer, der Lesung zu folgen, ohne den Text zu kennen. In mehreren Strängen erzählt Walser von einem schreibenden Finanzier, der die Lyrikbände seines Freundes finanziert und sich in eine Tangotänzerin verliebt, obwohl er verheiratet ist. Also wieder einmal eine unmögliche Liebe. Theo flüchtet sich in ein Suizidal-Forum, aber, wie die meisten dort aktiven Suizidalen, überlebt er alle: seine Frau und seine Flamme - ein Sterbender mitten im Leben. Das rechtfertigt die hierzulande verfemte Dauerform. "Wir sind alle sterblich, aber wir leben ununterbrochen weiter", kommentierte der Schriftsteller sein Buch.
"Schreibt Theo, um sich vor der Realität zu retten?", fragte Magenau. "Woher soll ich das wissen?", konterte Walser, lenkte aber gleich wieder ein: "Obwohl ich nie so experimentierfreudig war, hatte ich auch mal den Wunsch, mit den Realitäten und Personen zu jonglieren." Sich selbst ins Spiel zu bringen, das habe ihm Spaß gemacht. "Ich wollte den Ernst wegnehmen von dem dröhnenden Titel." Aber: "Jeder schreibt um sein Leben. Man muss das Schicksal kommentieren, sonst ist es unerträglich." Zuletzt berief er sich auch noch auf Nietzsche: "Die Dissonanz ist die höchst entsprechende Seins-Tonart. Und der Tango drückt die Dissonanz aus."
Claudia Schülke
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Witz und Pathos und einen "einen kecken Plot" attestiert Roman Bucheli Martin Walsers neuem Roman "Ein sterbender Mann". Dass er dennoch kein reines Lesevergnügen ist, erklärt der Rezensent mit der ermüdenden Rückblendenstruktur, schwerfälligen Perspektivwechseln, angestrengten Zufällen und dem Hang des erzählenden Personals zu Ignoranz und Übertreibungen. Die Form des Briefromans lässt das zwar zu, so Bucheli, doch die Figuren erscheinen ihm dadurch bisweilen wie "Sprechpuppen an der Hand des Autors". Insgesamt ist der Roman für Bucheli "eine harte Nuss zum Knacken", und um künftigen Lesern die Arbeit zu ersparen, das Buch nach dem Schluss-Clou gleich noch einmal lesen zu müssen, ist der Rezensent so freundlich, die überraschende Wendung zu verraten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Der letzte Tango in München
Martin Walsers Roman "Ein sterbender Mann" ist eine absichtsvoll vertrackte Parodie über die Sprache der Liebe im Alter - und manche Kulturmenschen könnten sich darin wiedererkennen.
Mehr als schön ist nichts." Diesen Satz hat Martin Walser gleichsam als Köder für seinen neuen Roman ausgelegt. Der beginnt nämlich mit einem Brief an einen Schriftsteller, in dem sich der zweiundsiebzigjährige Theo Schadt über dessen Ausspruch beschwert. Er selbst sei nicht schön, deshalb müsse er sich gegen den Satz und seinen Autor zur Wehr setzen. Was er weiterhin über sich mitteilt, klingt allerdings verdächtig nach Martin Walsers Verhältnis zur medialen Öffentlichkeit: "Ich reagiere lieber, als dass ich nachdenke. Ich bin in meinen Reaktionen mehr enthalten als in meinen Nachdenklichkeiten. Dass mir das von den Verwaltern der Klugheit vorgeworfen werden kann, ist mir klar." Entsprechend erscheint Theo Schadt als Autor von "Ein sterbender Mann", der Roman besteht aus seinen Mitteilungen an den Schriftsteller, erst in der Ich-, später in der Er-Form. So betreibt Walser von vornherein ein Verwirrspiel mit der Autorschaft wie mit dem Begriff der Schönheit.
"Zu mir kommen die, die wie ich sind, die Verkrampften", schrieb Walser einmal in sein Tagebuch. Theo Schadt ist aber nicht nur wegen seines sprechenden Namens kein realistischer Briefschreiber, er ist eine Spielart des unzuverlässigen Erzählers. Was er zu berichten hat, erscheint als satirisch überzeichnete Folge einer verkrampften Wahrnehmung. Er besaß angeblich ein florierendes Unternehmen für Patentverwertungen nebst einer auf Naturprodukte spezialisierten Tochterfirma namens "Der Verschönerer". Außerdem sei er ein erfolgreicher Autor von Ratgeberliteratur gewesen, darunter einer "Anleitung zur Selbstbefriedigung". 98 Millionen Dollar habe er in die Produktion eines aus Schlangengift zu gewinnenden Mittels gegen Herzinfarkt investiert, dann jedoch sei er verraten worden und habe die Firma an seinen Hauptkonkurrenten verloren.
Der Verrat, über den der Leser nichts Genaues erfährt, scheint Schadts ausuferndes Mitteilungsbedürfnis zu bewirken, obendrein sorgt eine Krebsdiagnose für Torschlusspanik der Kommunikation und des Verhaltens. So beteiligt er sich an einem Suizidforum im Netz und trägt seine Geschichte in einer Talkshow vor. Er teilt eine Serie von Grandiositätsträumen sowie Aphorismen zum Alter mit und schreibt Eingaben an die Regierung der Art, sie möge "eine Propaganda gegen das Lesen in öffentlichen Verkehrsbetrieben" veranlassen, auf dass die Leute "einander wahrnehmen, erleben". Schließlich entdeckt Herr Schadt, das darf bei Walser nicht fehlen, in quasi mystischer Plötzlichkeit noch einmal die Liebe.
Der Verräter soll sein früherer, von ihm bewunderter Freund und Teilhaber Carlos Kroll sein, ein hochnäsiger Dichter, die Karikatur eines hermetischen Lyrikers, der behauptet, "seine Gedichte seien Sprachereignisse, die in dieser Zeit, in der das Mittelmaß triumphiere, gar nicht erkannt werden könnten". In der Konzeption der Figur hat Walser mit offensichtlichem Schalk alle bürgerlichen Ressentiments gegen die moderne Lyrik versammelt. Warum Herr Schadt jemanden bewundert hat, dessen Gedichtbände "Lichtdicht, Leichtlos, Lufthaft, Kettenscheu" oder auch "SeinsRiss" betitelt sind, ist einem der Lyrik geneigten Leser freilich schwer begreiflich. Carlos Kroll schwebt angeblich "ein Lyrik-Imperium à la Stefan George" vor, aber "keine elitäre Kunstkirche, sondern eine radikale Banalisierung". Dem werden die angeführten Beispiele allerdings gerecht: "Mit brennenden Füßen auf Eisschollen stehen, / vom Achtstundentag verschont, sich / preisgegeben, das Leben fürchtend / und den Tod, befreundet mit Frisuren." Das ist ganz lustig, wenn es sich nicht beim letzten Wort um einen Druckfehler handelt. Carlos versteht sich im Übrigen auch auf Kurzsätze à la Walser: "Man gleicht sich nicht."
Die Handlung des Romans spielt im Milieu des Münchner Bildungsbürgertums, das bekanntlich mehr als andernorts zur alternativen Freizeitgestaltung von Yoga bis zum Tangotanzen neigt, aber auch zum Mäzenatentum. Ein geeigneter Ort, die Kunst wie sich selbst zu feiern, ist das von Ursula Haeusgen gestiftete Lyrik Kabinett. Das ist angesichts des vielbeklagten Bedeutungsverlusts der Lyrik eine verdienstvolle Institution, gleichwohl ist es nicht schwer, sich über die weihevolle Stimmung bei den Lesungen ein wenig lustig zu machen. Herr Schadt kann dem auch nicht widerstehen, tut aber ganz naiv.
Bei der Preisverleihung an Carlos Kroll stürzt zunächst der betagte Vorsitzende des "Vereins für Gute Dichtung" auf das Podium. Die Laudatio hält dann, "graues Haargefluder um den Kopf, das nie eine Frisur erlebt hatte", ein Literaturprofessor der Münchner Universität. Der weiß zwar offenbar nicht, wann Georges Gedichtband "Das Jahr der Seele" erschienen ist, führt aber aus, dass Carlos Kroll "andauernd seine eigene Existenz in Sprachgesten erlebe, die immer das Ganze, das große Ganze, fassen und ausdrücken wollen". Die Parodie des Jargons der Eigentlichkeit ist ein bisschen billig und kommt auch sechzig Jahre zu spät, aber da außer auf George auch auf Enzensberger und Celan verwiesen wird, ahnt der Leser ein wenig Walsersche Hinterhältigkeit. Der Dichter dankt jedenfalls trocken dafür, dass er "bis zur Verständlichkeit heruntergeredet" worden ist.
Beim anschließenden Diner erklingen dann noch ein paar salbungsvolle Worte, ehe Herrenwitze der schlechteren Art erzählt werden, bei denen sich nicht unerwartet der Literaturprofessor besonders hervortut. Eine Figur aber, der Konsul Danielus, wird von der grobschlächtigen Satire verschont. Der spricht mit Wilhelm Grimm von der "Beweglichkeit der Sprache", in der "doch alle nur mitgeführte Figuren" seien. So könnten die Menschen einander nicht für das Gesagte verantwortlich machen, es habe aber, 1849 in der Paulskirche zu Frankfurt, einen Ort gegeben, an dem "phrasenfrei gesprochen werden konnte".
Das kann man von dem Suizidforum, an dem sich Herr Schadt unter dem Namen Franz von M. - nämlich "Moor" nach Schillers "Kanaille" - beteiligt, eher nicht sagen. Er verliebt sich zunächst in den Begriff "irreversibel", mit dem eine unter "Aster" firmierende Teilnehmerin ihren Entschluss zur Selbsttötung bezeichnet, und dann in die Person, die er sich vorstellt, teilt ihr aber zugleich mit, dass er kein "brauchbarer Mann" mehr ist.
Im Laden für Tangobedarf, den seine Frau Iris betreibt, an der Kasse sitzend, blickt er derweil plötzlich in dunkle Augen "aus einem blendenden Lichtgewoge". Die Augen gehören zu Sina Baldauf, für die Tangotanzen eine "Parallelwelt" darstellt. Mit ihr beginnt er einen ausufernden Briefwechsel, ihr will er nun "andauernd etwas Schönes sagen". Da wird dann Herr Schadt höchstselbst zum Lyriker: "Welt reimt sich auf Sinn, / wie sich Blüte auf Liebe reimt. / Ich fühle, dass in mir / immer etwas keimt." Damit nicht genug der Wesensveränderung, wegen dieser sprichwörtlichen Liebe auf den ersten Blick verlässt er das "schutzreiche Haus" seiner getreuen Ehefrau, der "göttlichen Iris".
Der Briefwechsel mit Sina Baldauf wie der mit "Aster" belegt Niklas Luhmanns Diktum, dass Liebe nicht in erster Linie ein Gefühl ist, sondern ein symbolisch generalisierendes Kommunikationsmedium. Unentwegt schreiben sie sich Schönes, bis sie glauben, dass sie etwas füreinander sind oder gar ohneeinander nicht sein können. Doch dann stellt sich alles, selbst die Eifersucht auf Sinas Tangoerlebnisse, als doppeltes Missverständnis heraus. Da eifert Herr Schadt dem alten Goethe nach und schreibt auch eine "Elegie". Und wie Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow könnte Sina sagen: "Eine Liebschaft war es nicht." Herrn Schadts Version der Entsagung besteht aber darin, dass er nun keinerlei Wirklichkeit mehr dulden will. "Ich bilde mir ein, was ist." Das ist deutscher Idealismus, der die Liebe als schöpferische Kraft feierte, die Erfüllung aber vor allem in schönen Briefen fand. Nicht zufällig gibt es bei der Preisverleihung im Lyrik Kabinett eine Gedenkminute für Karoline von Günderode, die sich am Rheinufer erdolchte, als sie ihre Liebe verraten fand. Auch in "Ein sterbender Mann" sind entsprechend Todesfälle zu beklagen, Herr Schadt aber bleibt am Leben.
Dem Schriftsteller teilt er mit, dass sein Satz "Mehr als schön ist nichts" verbessert werden muss wegen einer, die eben mehr als schön war. "Sie war alles." Das ist aber auch übertrieben. Daher meldet sich zum Schluss der nunmehr "so genannte Schriftsteller" nur noch mit ein paar apart formulierten Binsenweisheiten über das Vergehen der Zeit zu Wort.
In dem Faksimile eines handschriftlichen Briefes an die, "die damit zu tun haben", hat Martin Walser angeregt, den Roman als "Selbstportrait" und als Geschichte von einem zu lesen, der dem Tod nahe ist und dann feststellt, dass es schöner wäre, zu leben. Das ist aber nur eine weitere Finte in Walsers Spiel mit der Autorschaft. Wer eine ironisch-sentimentale Geschichte über die "Niederlage des Alters" erwartet, das Komische wie das Elegische der späten Liebestorheit, wird enttäuscht sein.
Denn "Ein sterbender Mann" ist ein trickreiches Kunststück, in dem Walser mit der Sprache absichtsvoll auch die überladene Konstruktion des Romans scheitern lässt. Der erfahrene Romancier demonstriert, dass er eine Welt aufbauen und wieder zusammenbrechen lassen kann. Das erregt die Bewunderung des Lesers, erreicht aber durch ein Übermaß an bis ins Alberne getriebener Parodie, die an Liebesverrat grenzt, nicht sein Herz.
FRIEDMAR APEL
Martin Walser: "Ein
sterbender Mann". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Walsers Roman "Ein sterbender Mann" ist eine absichtsvoll vertrackte Parodie über die Sprache der Liebe im Alter - und manche Kulturmenschen könnten sich darin wiedererkennen.
Mehr als schön ist nichts." Diesen Satz hat Martin Walser gleichsam als Köder für seinen neuen Roman ausgelegt. Der beginnt nämlich mit einem Brief an einen Schriftsteller, in dem sich der zweiundsiebzigjährige Theo Schadt über dessen Ausspruch beschwert. Er selbst sei nicht schön, deshalb müsse er sich gegen den Satz und seinen Autor zur Wehr setzen. Was er weiterhin über sich mitteilt, klingt allerdings verdächtig nach Martin Walsers Verhältnis zur medialen Öffentlichkeit: "Ich reagiere lieber, als dass ich nachdenke. Ich bin in meinen Reaktionen mehr enthalten als in meinen Nachdenklichkeiten. Dass mir das von den Verwaltern der Klugheit vorgeworfen werden kann, ist mir klar." Entsprechend erscheint Theo Schadt als Autor von "Ein sterbender Mann", der Roman besteht aus seinen Mitteilungen an den Schriftsteller, erst in der Ich-, später in der Er-Form. So betreibt Walser von vornherein ein Verwirrspiel mit der Autorschaft wie mit dem Begriff der Schönheit.
"Zu mir kommen die, die wie ich sind, die Verkrampften", schrieb Walser einmal in sein Tagebuch. Theo Schadt ist aber nicht nur wegen seines sprechenden Namens kein realistischer Briefschreiber, er ist eine Spielart des unzuverlässigen Erzählers. Was er zu berichten hat, erscheint als satirisch überzeichnete Folge einer verkrampften Wahrnehmung. Er besaß angeblich ein florierendes Unternehmen für Patentverwertungen nebst einer auf Naturprodukte spezialisierten Tochterfirma namens "Der Verschönerer". Außerdem sei er ein erfolgreicher Autor von Ratgeberliteratur gewesen, darunter einer "Anleitung zur Selbstbefriedigung". 98 Millionen Dollar habe er in die Produktion eines aus Schlangengift zu gewinnenden Mittels gegen Herzinfarkt investiert, dann jedoch sei er verraten worden und habe die Firma an seinen Hauptkonkurrenten verloren.
Der Verrat, über den der Leser nichts Genaues erfährt, scheint Schadts ausuferndes Mitteilungsbedürfnis zu bewirken, obendrein sorgt eine Krebsdiagnose für Torschlusspanik der Kommunikation und des Verhaltens. So beteiligt er sich an einem Suizidforum im Netz und trägt seine Geschichte in einer Talkshow vor. Er teilt eine Serie von Grandiositätsträumen sowie Aphorismen zum Alter mit und schreibt Eingaben an die Regierung der Art, sie möge "eine Propaganda gegen das Lesen in öffentlichen Verkehrsbetrieben" veranlassen, auf dass die Leute "einander wahrnehmen, erleben". Schließlich entdeckt Herr Schadt, das darf bei Walser nicht fehlen, in quasi mystischer Plötzlichkeit noch einmal die Liebe.
Der Verräter soll sein früherer, von ihm bewunderter Freund und Teilhaber Carlos Kroll sein, ein hochnäsiger Dichter, die Karikatur eines hermetischen Lyrikers, der behauptet, "seine Gedichte seien Sprachereignisse, die in dieser Zeit, in der das Mittelmaß triumphiere, gar nicht erkannt werden könnten". In der Konzeption der Figur hat Walser mit offensichtlichem Schalk alle bürgerlichen Ressentiments gegen die moderne Lyrik versammelt. Warum Herr Schadt jemanden bewundert hat, dessen Gedichtbände "Lichtdicht, Leichtlos, Lufthaft, Kettenscheu" oder auch "SeinsRiss" betitelt sind, ist einem der Lyrik geneigten Leser freilich schwer begreiflich. Carlos Kroll schwebt angeblich "ein Lyrik-Imperium à la Stefan George" vor, aber "keine elitäre Kunstkirche, sondern eine radikale Banalisierung". Dem werden die angeführten Beispiele allerdings gerecht: "Mit brennenden Füßen auf Eisschollen stehen, / vom Achtstundentag verschont, sich / preisgegeben, das Leben fürchtend / und den Tod, befreundet mit Frisuren." Das ist ganz lustig, wenn es sich nicht beim letzten Wort um einen Druckfehler handelt. Carlos versteht sich im Übrigen auch auf Kurzsätze à la Walser: "Man gleicht sich nicht."
Die Handlung des Romans spielt im Milieu des Münchner Bildungsbürgertums, das bekanntlich mehr als andernorts zur alternativen Freizeitgestaltung von Yoga bis zum Tangotanzen neigt, aber auch zum Mäzenatentum. Ein geeigneter Ort, die Kunst wie sich selbst zu feiern, ist das von Ursula Haeusgen gestiftete Lyrik Kabinett. Das ist angesichts des vielbeklagten Bedeutungsverlusts der Lyrik eine verdienstvolle Institution, gleichwohl ist es nicht schwer, sich über die weihevolle Stimmung bei den Lesungen ein wenig lustig zu machen. Herr Schadt kann dem auch nicht widerstehen, tut aber ganz naiv.
Bei der Preisverleihung an Carlos Kroll stürzt zunächst der betagte Vorsitzende des "Vereins für Gute Dichtung" auf das Podium. Die Laudatio hält dann, "graues Haargefluder um den Kopf, das nie eine Frisur erlebt hatte", ein Literaturprofessor der Münchner Universität. Der weiß zwar offenbar nicht, wann Georges Gedichtband "Das Jahr der Seele" erschienen ist, führt aber aus, dass Carlos Kroll "andauernd seine eigene Existenz in Sprachgesten erlebe, die immer das Ganze, das große Ganze, fassen und ausdrücken wollen". Die Parodie des Jargons der Eigentlichkeit ist ein bisschen billig und kommt auch sechzig Jahre zu spät, aber da außer auf George auch auf Enzensberger und Celan verwiesen wird, ahnt der Leser ein wenig Walsersche Hinterhältigkeit. Der Dichter dankt jedenfalls trocken dafür, dass er "bis zur Verständlichkeit heruntergeredet" worden ist.
Beim anschließenden Diner erklingen dann noch ein paar salbungsvolle Worte, ehe Herrenwitze der schlechteren Art erzählt werden, bei denen sich nicht unerwartet der Literaturprofessor besonders hervortut. Eine Figur aber, der Konsul Danielus, wird von der grobschlächtigen Satire verschont. Der spricht mit Wilhelm Grimm von der "Beweglichkeit der Sprache", in der "doch alle nur mitgeführte Figuren" seien. So könnten die Menschen einander nicht für das Gesagte verantwortlich machen, es habe aber, 1849 in der Paulskirche zu Frankfurt, einen Ort gegeben, an dem "phrasenfrei gesprochen werden konnte".
Das kann man von dem Suizidforum, an dem sich Herr Schadt unter dem Namen Franz von M. - nämlich "Moor" nach Schillers "Kanaille" - beteiligt, eher nicht sagen. Er verliebt sich zunächst in den Begriff "irreversibel", mit dem eine unter "Aster" firmierende Teilnehmerin ihren Entschluss zur Selbsttötung bezeichnet, und dann in die Person, die er sich vorstellt, teilt ihr aber zugleich mit, dass er kein "brauchbarer Mann" mehr ist.
Im Laden für Tangobedarf, den seine Frau Iris betreibt, an der Kasse sitzend, blickt er derweil plötzlich in dunkle Augen "aus einem blendenden Lichtgewoge". Die Augen gehören zu Sina Baldauf, für die Tangotanzen eine "Parallelwelt" darstellt. Mit ihr beginnt er einen ausufernden Briefwechsel, ihr will er nun "andauernd etwas Schönes sagen". Da wird dann Herr Schadt höchstselbst zum Lyriker: "Welt reimt sich auf Sinn, / wie sich Blüte auf Liebe reimt. / Ich fühle, dass in mir / immer etwas keimt." Damit nicht genug der Wesensveränderung, wegen dieser sprichwörtlichen Liebe auf den ersten Blick verlässt er das "schutzreiche Haus" seiner getreuen Ehefrau, der "göttlichen Iris".
Der Briefwechsel mit Sina Baldauf wie der mit "Aster" belegt Niklas Luhmanns Diktum, dass Liebe nicht in erster Linie ein Gefühl ist, sondern ein symbolisch generalisierendes Kommunikationsmedium. Unentwegt schreiben sie sich Schönes, bis sie glauben, dass sie etwas füreinander sind oder gar ohneeinander nicht sein können. Doch dann stellt sich alles, selbst die Eifersucht auf Sinas Tangoerlebnisse, als doppeltes Missverständnis heraus. Da eifert Herr Schadt dem alten Goethe nach und schreibt auch eine "Elegie". Und wie Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow könnte Sina sagen: "Eine Liebschaft war es nicht." Herrn Schadts Version der Entsagung besteht aber darin, dass er nun keinerlei Wirklichkeit mehr dulden will. "Ich bilde mir ein, was ist." Das ist deutscher Idealismus, der die Liebe als schöpferische Kraft feierte, die Erfüllung aber vor allem in schönen Briefen fand. Nicht zufällig gibt es bei der Preisverleihung im Lyrik Kabinett eine Gedenkminute für Karoline von Günderode, die sich am Rheinufer erdolchte, als sie ihre Liebe verraten fand. Auch in "Ein sterbender Mann" sind entsprechend Todesfälle zu beklagen, Herr Schadt aber bleibt am Leben.
Dem Schriftsteller teilt er mit, dass sein Satz "Mehr als schön ist nichts" verbessert werden muss wegen einer, die eben mehr als schön war. "Sie war alles." Das ist aber auch übertrieben. Daher meldet sich zum Schluss der nunmehr "so genannte Schriftsteller" nur noch mit ein paar apart formulierten Binsenweisheiten über das Vergehen der Zeit zu Wort.
In dem Faksimile eines handschriftlichen Briefes an die, "die damit zu tun haben", hat Martin Walser angeregt, den Roman als "Selbstportrait" und als Geschichte von einem zu lesen, der dem Tod nahe ist und dann feststellt, dass es schöner wäre, zu leben. Das ist aber nur eine weitere Finte in Walsers Spiel mit der Autorschaft. Wer eine ironisch-sentimentale Geschichte über die "Niederlage des Alters" erwartet, das Komische wie das Elegische der späten Liebestorheit, wird enttäuscht sein.
Denn "Ein sterbender Mann" ist ein trickreiches Kunststück, in dem Walser mit der Sprache absichtsvoll auch die überladene Konstruktion des Romans scheitern lässt. Der erfahrene Romancier demonstriert, dass er eine Welt aufbauen und wieder zusammenbrechen lassen kann. Das erregt die Bewunderung des Lesers, erreicht aber durch ein Übermaß an bis ins Alberne getriebener Parodie, die an Liebesverrat grenzt, nicht sein Herz.
FRIEDMAR APEL
Martin Walser: "Ein
sterbender Mann". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main