Neunzig Neunzeiler sind: ein Strich durch alles. Was können schon neun Gedichtzeilen fassen? Wenig, viel. Momente, Erinnerung, Notate, verkürzte Geschichten. Sie können in der Schwebe lassen, ungerade, wie sie sind, drei mal drei, kein Reim geht auf, etwas franst aus. Auch die Liebe - immer wieder kommt sie vor - in diesen Versen ist ausgefranst, aber sie hält ihr spezifisches Gewicht. Sie hält prekär. Mehr Melodie als Sinn. Und das ist gut so. Gut? Ja, im Gedicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.1997Mitten ins Gesicht
Ilma Rakusas Reimfrohsinn
Eine Neuheit, genauer: eine Neunheit ist zu melden: der Neunzeiler, ein Gedicht also, das, wie der Name sagt, aus neun Zeilen besteht. Das hatten wir noch nicht. Das Distichon, die Terzine, die vierzeilige Volksliedstrophe, die "verkannte Schönheit" (Wolfgang Kayser) des Fünfzeilers, die Sestine, die achtzeilige Stanze (Oktett), das vierzehnzeilige Sonett, bestehend aus Quartetten und Terzetten - das alles und mehr sprudelte schon bisher reichlich aus dem unversiegbaren Brunnen der Poesie. Nun aber neun, nein: gleich neunzig mal neun! Das ist wirklich mal etwas Neues. "Neuerdings Neunzeiler, deren ungerade Zahl zu subversiven Reimspielen verleitet", so hat Ilma Rakusa in der Zeitschrift "Das Gedicht" (Nr. 4, 1996, S. 79) die "Formstrenge" ihrer Neuheit erläutert. Und in der Tat lassen sich allerlei Reimspiele in diesen Versen beobachten: Endreime natürlich, Paar- und Kreuzreime, Binnenreime und Assonanzen und so weiter, aber über das Ausmaß ihrer Subversivität ließe sich doch wohl streiten:
Der Vorwurf klatscht ins Gesicht
in den Teller die Stimme ist
heller als Stahl sie läßt
keine Wahl die Kehle wird kalt
der Reis und die Kerze tränt alt
weiß keiner wozu das Duell
der Schwur ohne Fell stehn wir da
verletzt und stur aus der Bahn
geworfen kein Paar
Subversive Verse? Eher doch wohl versifizierte Suggestionen, die gelegentlich etwas angestrengt mit Hilfe von Bindestrichen oder Kurz- und Langzeilen auf die angestrebte Neunzahl manipuliert werden müssen. Der epigrammatischen Lust und dem Reimfrohsinn fallen dann die Inhalte leicht zum Opfer. Liebesleid und Reiseerfahrungen, Zueignungen und Lektüreeindrücke teilen sich dem auf Reimsuche und auf die Neunzahl programmierten Leser nur widerspenstig mit. Eher irritierend als aufschließend wirken auch die nachgetragenen präzisen Nachweise der Entstehungsdaten und -orte der Neunzeiler: Sie sind, so liest man, überwiegend in Zürich, teilweise in New York und in Stuttgart, gelegentlich auch in Salzburg oder gar in Bondo entstanden, und zwar in der Zeit vom Juni 1995 bis zum März 1997. Muß man das wissen? WULF SEGEBRECHT
Ilma Rakusa: "Ein Strich durch alles". Neunzig Neunzeiler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1997. 102 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ilma Rakusas Reimfrohsinn
Eine Neuheit, genauer: eine Neunheit ist zu melden: der Neunzeiler, ein Gedicht also, das, wie der Name sagt, aus neun Zeilen besteht. Das hatten wir noch nicht. Das Distichon, die Terzine, die vierzeilige Volksliedstrophe, die "verkannte Schönheit" (Wolfgang Kayser) des Fünfzeilers, die Sestine, die achtzeilige Stanze (Oktett), das vierzehnzeilige Sonett, bestehend aus Quartetten und Terzetten - das alles und mehr sprudelte schon bisher reichlich aus dem unversiegbaren Brunnen der Poesie. Nun aber neun, nein: gleich neunzig mal neun! Das ist wirklich mal etwas Neues. "Neuerdings Neunzeiler, deren ungerade Zahl zu subversiven Reimspielen verleitet", so hat Ilma Rakusa in der Zeitschrift "Das Gedicht" (Nr. 4, 1996, S. 79) die "Formstrenge" ihrer Neuheit erläutert. Und in der Tat lassen sich allerlei Reimspiele in diesen Versen beobachten: Endreime natürlich, Paar- und Kreuzreime, Binnenreime und Assonanzen und so weiter, aber über das Ausmaß ihrer Subversivität ließe sich doch wohl streiten:
Der Vorwurf klatscht ins Gesicht
in den Teller die Stimme ist
heller als Stahl sie läßt
keine Wahl die Kehle wird kalt
der Reis und die Kerze tränt alt
weiß keiner wozu das Duell
der Schwur ohne Fell stehn wir da
verletzt und stur aus der Bahn
geworfen kein Paar
Subversive Verse? Eher doch wohl versifizierte Suggestionen, die gelegentlich etwas angestrengt mit Hilfe von Bindestrichen oder Kurz- und Langzeilen auf die angestrebte Neunzahl manipuliert werden müssen. Der epigrammatischen Lust und dem Reimfrohsinn fallen dann die Inhalte leicht zum Opfer. Liebesleid und Reiseerfahrungen, Zueignungen und Lektüreeindrücke teilen sich dem auf Reimsuche und auf die Neunzahl programmierten Leser nur widerspenstig mit. Eher irritierend als aufschließend wirken auch die nachgetragenen präzisen Nachweise der Entstehungsdaten und -orte der Neunzeiler: Sie sind, so liest man, überwiegend in Zürich, teilweise in New York und in Stuttgart, gelegentlich auch in Salzburg oder gar in Bondo entstanden, und zwar in der Zeit vom Juni 1995 bis zum März 1997. Muß man das wissen? WULF SEGEBRECHT
Ilma Rakusa: "Ein Strich durch alles". Neunzig Neunzeiler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1997. 102 S., geb., 28,- DM.
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