Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis 2024 in der Kategorie »General Nonfiction«
»Buch des Jahres 2023« The New Yorker
Vor den Toren Jerusalems kommt es zu einer Tragödie, als ein mit palästinensischen Kindern besetzter Schulbus von einem Sattelschlepper gerammt wird und in Flammen aufgeht. Ungeklärte Zuständigkeiten und lähmende Bürokratie im Grenzgebiet verhindern ein schnelles Eingreifen der Rettungskräfte. Am Unfallort treffen israelische und palästinensische Menschen aufeinander, die gemeinsam versuchen den Kindern zu helfen. Ausgehend von diesem Ereignis werden einfühlsam ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählt.
In seinem auf Tatsachen basierenden Buch gibt Nathan Thrall der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts ein zutiefst menschliches Gesicht. Selten wurden die Auswirkungen israelischer Siedlungspolitik für das tägliche Leben im Westjordanland so schonungslos und bewegend beschrieben.
»Ich kenne kein anderes Werk über Israel und Palästina, das diese Tiefe an Einsicht und Verständnis erreicht. Das Buch kann als ein Abriss moderner palästinensischer Geschichte, eingefasst in die persönlichen Erinnerungen verschiedener Individuen, gelesen werden.« David Shulman New York Review of Books
Das Buch wurde 2024 mit dem Pulitzer-Preis in der Kategorie »General Nonfiction« ausgezeichnet. Begründung der Jury: »Ein sorgfältiger und einfühlsamer Bericht über das Leben unter der israelischen Besatzung des Westjordanlandes, erzählt durch das Porträt eines palästinensischen Vaters, dessen fünfjähriger Sohn bei einem Schulbusunfall ums Leben kommt.«
»Buch des Jahres 2023« The New Yorker
Vor den Toren Jerusalems kommt es zu einer Tragödie, als ein mit palästinensischen Kindern besetzter Schulbus von einem Sattelschlepper gerammt wird und in Flammen aufgeht. Ungeklärte Zuständigkeiten und lähmende Bürokratie im Grenzgebiet verhindern ein schnelles Eingreifen der Rettungskräfte. Am Unfallort treffen israelische und palästinensische Menschen aufeinander, die gemeinsam versuchen den Kindern zu helfen. Ausgehend von diesem Ereignis werden einfühlsam ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählt.
In seinem auf Tatsachen basierenden Buch gibt Nathan Thrall der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts ein zutiefst menschliches Gesicht. Selten wurden die Auswirkungen israelischer Siedlungspolitik für das tägliche Leben im Westjordanland so schonungslos und bewegend beschrieben.
»Ich kenne kein anderes Werk über Israel und Palästina, das diese Tiefe an Einsicht und Verständnis erreicht. Das Buch kann als ein Abriss moderner palästinensischer Geschichte, eingefasst in die persönlichen Erinnerungen verschiedener Individuen, gelesen werden.« David Shulman New York Review of Books
Das Buch wurde 2024 mit dem Pulitzer-Preis in der Kategorie »General Nonfiction« ausgezeichnet. Begründung der Jury: »Ein sorgfältiger und einfühlsamer Bericht über das Leben unter der israelischen Besatzung des Westjordanlandes, erzählt durch das Porträt eines palästinensischen Vaters, dessen fünfjähriger Sohn bei einem Schulbusunfall ums Leben kommt.«
»Ich kenne kein anderes Werk über Israel und Palästina, das diese Tiefe an Einsicht und Verständnis erreicht. Das Buch kann als ein Abriss moderner palästinensischer Geschichte, eingefasst in die persönlichen Erinnerungen verschiedener Individuen, gelesen werden.« David Shulman New York Review of Books
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die deutschen Verlage zögerten mit der Veröffentlichung des mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Buch von Nathan Thrall, berichtet Rezensent Tomas Avenarius, aus Angst vor den Reaktionen. Der Autor nimmt das Leben des Palästinensers Abed Salama in den Blick, dessen Sohn bei einem schlimmen Busunglück stirbt; er lebt im Westjordanland und ist dort jeden Tag mit den von Israel begangenen Völkerrechtsverletzungen konfrontiert. Den "Besatzungsalltag" mit allen Schikanen, aber auch das strenge Regelwerk des muslimischen Lebens Abeds hat Thrall "fast wie besessen detailliert" aufgeschrieben und so ein aufrüttelndes Buch geschaffen, findet Avenarius. Die Leserinnen und Leser werden so die schwierige Lage der Palästinenser verstehen können, glaubt der Rezensent, der den Roman nicht einseitig findet, obwohl sich Thrall auf die Kritik an der israelischen Politik konzentriert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2024In den Schuhen
der Palästinenser
Nathan Thralls „Ein Tag im Leben von Abed Salama“
handelt vom Tod eines Kindes im Westjordanland –
und vom Leben unter den oft unmenschlichen
Bedingungen der israelischen Besatzung.
VON TOMAS AVENARIUS
Ein verregneter Tag im Februar, irgendwo in den verbauten Palästinenser-Vororten von Jerusalem. Zwischen israelischen Siedlungen, Sperrmauern und Checkpoints rumpelt ein Sattelschlepper eine Straße hinunter. Der 30-Tonner ist zu schnell, die Straße zu steil, ihre Asphaltdecke brüchig, die Einheimischen nennen sie „die Todesstrecke“. Als der Lkw vor einem israelischen Checkpoint am Fuß des Hanges bremsen muss, kommt er ins Schleudern. Der Anhänger fegt einen klapprigen Schulbus wie ein Stück Nichts von der Straße. Das Gefährt, das eine Gruppe Kinder an einen Ausflugsort bringen soll, gerät in Brand. Die Umstehenden versuchen vergeblich, das Feuer zu bekämpfen – mit Eimern, Wasserflaschen, ein paar Autofeuerlöschern. Eine Frau und ein Mann kriechen unerschrocken in das Wrack, können einige der Kinder aus den Flammen retten. Die anderen verbrennen qualvoll.
So beginnt sie, die Katastrophe des Palästinensers Abed Salama. Eines der Kinder im Bus ist sein fünfjähriger Sohn Milad, der am Abend vorher an der Hand des Vaters im Eckladen Pringles-Chips und seine Lieblingsschokolade für den Schulausflug gekauft hat. Die Mutter Haifa war von Anfang an dagegen, daß der Junge an der Tour teilnimmt – eine böse Vorahnung: „Ich weiß nicht, warum. Es ist nur so ein Gefühl.“ Der Vater bringt Milad am Morgen dennoch zum Bus. Er will kein Spielverderber sein.
Der Palästinenser wird nach der Katastrophe ein sehr, sehr einsamer Mann sein: Sein Sohn ist unter den Toten. Der US-amerikanische Autor Nathan Thrall erzählt die Tragödie dieses Autounfalls, der im Jahr 2012 genauso wie im Buch beschrieben im Westjordanland stattgefunden hat. Aber Thrall erzählt in „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ weit mehr als das Schicksal eines Mannes und seiner Familie: Der Unfall ist die düstere Einstimmung auf die Katastrophe eines ganzen Volks. Das Buch ist vor dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 entstanden, es liest sich wie ein Roman, bleibt aber eine brillant geschriebene 300-Seiten-Reportage und wurde 2024 mit dem Pulitzerpreis in der Kategorie „General Nonfiction“ ausgezeichnet, der höchsten Ehre für einen US-Journalisten und Autor.
Aber es geht Thrall nicht nur um den schwer gebeutelten Salama. Das, was diesem auf der Suche nach seinem Sohn widerfährt, von dem er hofft, dass er noch lebt, soll beispielhaft für das stehen, was mehr als 2,3 Millionen Palästinenser im Westjordanland unter der israelischen Besatzung erleben, seit inzwischen fast 60 Jahren und im krassen Verstoß gegen das Völkerrecht – was aber kaum jemanden interessiert. Es ist nicht nur das alltägliche Leid der Westbank-Palästinenser, es sind nicht nur die Einsätze von Armee und Polizei, deren Kampf gegen die Militanten stets auch jene trifft, die mit der politischen Gewalt nichts zu tun haben. Es ist vor allem das Schicksal von Menschen, die beharrlich ein Leben zu leben versuchen unter Umständen, die ihnen ein normales Leben verbieten.
Wie absurd, kafkaesk und oft unmenschlich das Besatzungssystem im 1967 von Israel eroberten Westjordanland ist, zeigt Salamas verzweifelte Suche, die zur Irrfahrt wird. Er hofft bis zum Schluss, dass sein Junge überlebt hat, will in israelischen und palästinensischen Krankenhäusern nachfragen, Milad in Notaufnahmen in Jerusalem und Ramallah finden. Aber mit seinem palästinensischen Ausweis kommt er nicht nach Jerusalem hinein, wird er an Straßensperren und Checkpoints von Soldaten abgewiesen. Salama scheitert am komplizierten, so bürokratisch wie perfide wirkenden Regelwerk von Zutrittsgenehmigungen, Pässen und Ausweisen, das Palästinensern aus der Westbank nicht nur den Zutritt ins noch immer palästinensische Ostjerusalem oder nach Israel selbst verwehrt, sondern auch ihre Bewegungsfreiheit im Westjordanland massiv beschneidet.
Das ist der Besatzungsalltag. Wer nicht in Jerusalem geboren ist, kommt als Palästinenser in die Stadt nicht hinein. Wer Palästinenser ist, darf nicht auf den jüdischen Siedlern vorbehaltenen Straßen im Westjordanland fahren. Wer Palästinenser ist, darf die an den schönsten Stellen in die Landschaft gebauten Siedlungen nicht betreten, muss sie großräumig umfahren, endet unausweichlich an Checkpoints, Sperrmauern und Unterführungen.
Dazu die verwirrenden, widersprüchlichen Zuständigkeiten von israelischer Armee und Polizei und den in ihrem eigenen Land machtlosen Palästinenser-Sicherheitskräften, die den Israelis zur Verärgerung der Menschen zuarbeiten. Und bei allen diesen Uniformierten ein stures Festhalten, ein teilnahmsloses Unbeteiligtsein im Anblick einer sich vor den Augen ereignenden Katastrophe: Kein israelischer Soldat, kein Feuerwehrmann und kein Sanitäter kommt an der Unfallstelle zu Hilfe. Kein Offizieller greift durch, bis es zu spät ist, bis Salamas Sohn und die anderen Kinder tot sind.
Thrall hat die Odyssee des Abed Salama fast wie besessen detailliert nachgezeichnet. Da ist das frühere Leben Abed Salamas, das Leben vor seiner Ehe mit der Mutter von Milad. Es ist eine Achterbahnfahrt mit den strengen arabischen Traditionen, dem gekränktem persönlichen Stolz samt dazugehörender männlicher Ehrpusseligkeit, aus Trotz geschlossenen und rasch gescheiterten Ehen: all das im beklemmend engen Korsett arabisch-muslimischer Moralvorstellungen.
Dazu kommt Salamas leidenschaftlicher Aktivismus für die palästinensische Sache, in den er angesichts der Besatzung – und durch seine Jugendliebe Ghazel – unausweichlich hineinwächst, dem er sich nicht entziehen kann und will. Die hohe Kunst des Reporters Thrall besteht darin, wie er die singuläre Tragödie eines Mannes angesichts eines Autounfalls nachzeichnet, um daran zu zeigen, wie die Palästinenser als Volk die Besatzung erleben. Thrall nimmt als Erzähler bewusst eine rein palästinensische Perspektive ein: „Das Ziel meines Buches ist, den Leser buchstäblich in die Schuhe dieser Palästinenser zu stellen“, sagt Thrall der SZ am Telefon. „Ich beschreibe ihre Wahrheit und ihre Realität, in der sie leben.“
Wer dies nicht als Einseitigkeit missversteht und „Ein Tag im Leben des Abed Salama“ bewusst unvoreingenommen angeht, der mag den Kopf schütteln angesichts der quälenden Enge arabisch-palästinensischer Traditionen und Ehrvorstellungen, wenn es um Liebe, Ehe und Familie geht. Wer das Buch liest, wird aber auch manches besser verstehen und dem Jahrzehnte langen Alltagsleid der Palästinenser kaum länger unberührt gegenüberstehen. Thrall sagt dazu: „Das Leben der palästinensischen Bevölkerung ist von einem extrem ungerechten und unterdrückerischen System von Kontrolle geprägt, das immer wieder neue Runden von Blutvergießen hervorrufen wird, solange es nicht verändert wird.“
Mit dem Autounfall als Zirkelpunkt umreißt Thrall so das Leben der von der Katastrophe Betroffenen im komplexen Umfeld der palästinensischen Gesellschaft unter israelischer Besatzung. Thrall lebt selbst seit Jahren in Jerusalem, dem in den USA geborenen Juden sind die israelische und die palästinensische Kultur vertraut. „Ich bin ein Outsider, in beiden Gesellschaften“, so der säkular denkende Thrall. „Aber ich habe enge jüdisch-israelische Freunde und ich habe palästinensische Freunde.“
Als langjähriger Analyst des renommierten Thinktanks „International Crisis Group“ hat Thrall die palästinensisch-israelischen Beziehungen ein Jahrzehnt lang hauptberuflich verfolgt, hat Politiker, Militärvertreter und andere Entscheidungsträger beider Seiten getroffen. Mit diesem Wissen und dem Wunsch, seine Einsichten nicht länger auf der Basis trockener Analysen für Experten zu vertun, will er die politische Realität nun einer breiteren Leserschaft erklären. Das vermeintlich unlösbare Auf und Ab aus Gewalt und Annäherung, das keine der beiden Seiten zum Ziel führt – und bei dem die Palästinenser mit ebenso tragischer wie systemischer Regelmäßigkeit stets weniger erreichen und mehr verlieren als die Israelis.
Er habe oft genug führende amerikanische Verhandler und Nahost-Experten getroffen, die ihm versichert hätten, seine kritische Haltung gegenüber der Politik Israels voll zu teilen: „Ich fragte, warum sie das, was sie denken, dann nicht auch laut sagen wollten. Sie antworten, dass sie damit ihre Karrieren ruinieren würden.“
Welche Schlüsse er aus dem endlosen Wechsel von Gewalt und – mehr oder minder ernst gemeinten – Versöhnungsversuchen zieht, hat Thrall seine Leser 2017 in einem Sachbuch wissen lassen: „The only language they understand – forcing compromise in Israel und Palastine“. Dieses Buch liest sich nicht so geschmeidig leicht wie „Ein Tag im Leben von Abed Salama“. Es ist lesenswert, häuft aber streckenweise mehr Fakten auf, als sich schmerzfrei verdauen lassen, und erschöpft den Leser gelegentlich mit ungezügelter Detailfreude.
Das Resümee dieses Buches erscheint glasklar: Sowohl im Umgang mit den Israelis als auch mit den Palästinensern helfe nur Druck, Druck und nochmals Druck. Thrall belegt vom Camp-David-Frieden bis zu den Oslo-Verträgen, dass am Ende nur US-amerikanischer, arabischer und europäischer Druck etwas bewegt hat und dass dies der einzige Hebel sein dürfte, den Konflikt zu befrieden.
Der Jude Thrall erspart Israel und dessen Gesellschaft bei seiner Analyse nichts. „The only language they understand“ sei „seit Jahrzehnten die härteste Kritik der israelischen Politik“, schrieb Elliot Abrams, einst Vizesicherheitsberater des früheren US-Präsidenten George W. Bush. Alle Fehler der Palästinenser würden benannt, aber Thralls Pfeil ziele auf Israel. Abrams Ratschlag an alle, die Israel in allem und trotz aller offensichtlichen Missstände verteidigen: „Überzeugte Unterstützer Israels sollten Antworten bereithalten – oder sich darauf einstellen, die Debatten zu verlieren, in denen Nathan Thrall zitiert wird.“
Auf Hebräisch ist „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ bisher noch nicht erschienen. Umso interessanter – und vorhersehbar explosiver – werden die Reaktionen sein, wenn es seine Leserschaft in Israel findet. Dass Thralls Buch in Deutschland nun bei Pendragon überhaupt, wenn auch in einem kleineren Verlag erscheint, war trotz Pulitzerpreis nicht einmal garantiert. Führende Häuser hätten eine Veröffentlichung abgelehnt, so Thrall. „Jeder große oder mittlere deutsche Verlag – und wir haben so ziemlich jeden angesprochen – sagte, dass sie das Buch lieben, es aber auf keinen Fall veröffentlichen können: aus politischen Gründen.“
„Ich beschreibe ihre
Wahrheit und ihre
Realität, in der sie leben.“
Der Jude Thrall erspart
Israels Gesellschaft
bei seiner Analyse nichts
Nathan Thrall: Ein Tag im Leben von Abed Salama. Aus dem Englischen übersetzt von Lucien Deprijck. Pendragon, Bielefeld 2024. 296 Seiten, 26 Euro.
„Ich bin ein Outsider, in beiden Gesellschaften“, sagt der in Jerusalem lebende US-Amerikaner Nathan Thrall über Israel und Palästina. Am 16. September liest er in München aus seinem Buch.
Foto: Judy Heiblum/Pendragon
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Palästinenser
Nathan Thralls „Ein Tag im Leben von Abed Salama“
handelt vom Tod eines Kindes im Westjordanland –
und vom Leben unter den oft unmenschlichen
Bedingungen der israelischen Besatzung.
VON TOMAS AVENARIUS
Ein verregneter Tag im Februar, irgendwo in den verbauten Palästinenser-Vororten von Jerusalem. Zwischen israelischen Siedlungen, Sperrmauern und Checkpoints rumpelt ein Sattelschlepper eine Straße hinunter. Der 30-Tonner ist zu schnell, die Straße zu steil, ihre Asphaltdecke brüchig, die Einheimischen nennen sie „die Todesstrecke“. Als der Lkw vor einem israelischen Checkpoint am Fuß des Hanges bremsen muss, kommt er ins Schleudern. Der Anhänger fegt einen klapprigen Schulbus wie ein Stück Nichts von der Straße. Das Gefährt, das eine Gruppe Kinder an einen Ausflugsort bringen soll, gerät in Brand. Die Umstehenden versuchen vergeblich, das Feuer zu bekämpfen – mit Eimern, Wasserflaschen, ein paar Autofeuerlöschern. Eine Frau und ein Mann kriechen unerschrocken in das Wrack, können einige der Kinder aus den Flammen retten. Die anderen verbrennen qualvoll.
So beginnt sie, die Katastrophe des Palästinensers Abed Salama. Eines der Kinder im Bus ist sein fünfjähriger Sohn Milad, der am Abend vorher an der Hand des Vaters im Eckladen Pringles-Chips und seine Lieblingsschokolade für den Schulausflug gekauft hat. Die Mutter Haifa war von Anfang an dagegen, daß der Junge an der Tour teilnimmt – eine böse Vorahnung: „Ich weiß nicht, warum. Es ist nur so ein Gefühl.“ Der Vater bringt Milad am Morgen dennoch zum Bus. Er will kein Spielverderber sein.
Der Palästinenser wird nach der Katastrophe ein sehr, sehr einsamer Mann sein: Sein Sohn ist unter den Toten. Der US-amerikanische Autor Nathan Thrall erzählt die Tragödie dieses Autounfalls, der im Jahr 2012 genauso wie im Buch beschrieben im Westjordanland stattgefunden hat. Aber Thrall erzählt in „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ weit mehr als das Schicksal eines Mannes und seiner Familie: Der Unfall ist die düstere Einstimmung auf die Katastrophe eines ganzen Volks. Das Buch ist vor dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 entstanden, es liest sich wie ein Roman, bleibt aber eine brillant geschriebene 300-Seiten-Reportage und wurde 2024 mit dem Pulitzerpreis in der Kategorie „General Nonfiction“ ausgezeichnet, der höchsten Ehre für einen US-Journalisten und Autor.
Aber es geht Thrall nicht nur um den schwer gebeutelten Salama. Das, was diesem auf der Suche nach seinem Sohn widerfährt, von dem er hofft, dass er noch lebt, soll beispielhaft für das stehen, was mehr als 2,3 Millionen Palästinenser im Westjordanland unter der israelischen Besatzung erleben, seit inzwischen fast 60 Jahren und im krassen Verstoß gegen das Völkerrecht – was aber kaum jemanden interessiert. Es ist nicht nur das alltägliche Leid der Westbank-Palästinenser, es sind nicht nur die Einsätze von Armee und Polizei, deren Kampf gegen die Militanten stets auch jene trifft, die mit der politischen Gewalt nichts zu tun haben. Es ist vor allem das Schicksal von Menschen, die beharrlich ein Leben zu leben versuchen unter Umständen, die ihnen ein normales Leben verbieten.
Wie absurd, kafkaesk und oft unmenschlich das Besatzungssystem im 1967 von Israel eroberten Westjordanland ist, zeigt Salamas verzweifelte Suche, die zur Irrfahrt wird. Er hofft bis zum Schluss, dass sein Junge überlebt hat, will in israelischen und palästinensischen Krankenhäusern nachfragen, Milad in Notaufnahmen in Jerusalem und Ramallah finden. Aber mit seinem palästinensischen Ausweis kommt er nicht nach Jerusalem hinein, wird er an Straßensperren und Checkpoints von Soldaten abgewiesen. Salama scheitert am komplizierten, so bürokratisch wie perfide wirkenden Regelwerk von Zutrittsgenehmigungen, Pässen und Ausweisen, das Palästinensern aus der Westbank nicht nur den Zutritt ins noch immer palästinensische Ostjerusalem oder nach Israel selbst verwehrt, sondern auch ihre Bewegungsfreiheit im Westjordanland massiv beschneidet.
Das ist der Besatzungsalltag. Wer nicht in Jerusalem geboren ist, kommt als Palästinenser in die Stadt nicht hinein. Wer Palästinenser ist, darf nicht auf den jüdischen Siedlern vorbehaltenen Straßen im Westjordanland fahren. Wer Palästinenser ist, darf die an den schönsten Stellen in die Landschaft gebauten Siedlungen nicht betreten, muss sie großräumig umfahren, endet unausweichlich an Checkpoints, Sperrmauern und Unterführungen.
Dazu die verwirrenden, widersprüchlichen Zuständigkeiten von israelischer Armee und Polizei und den in ihrem eigenen Land machtlosen Palästinenser-Sicherheitskräften, die den Israelis zur Verärgerung der Menschen zuarbeiten. Und bei allen diesen Uniformierten ein stures Festhalten, ein teilnahmsloses Unbeteiligtsein im Anblick einer sich vor den Augen ereignenden Katastrophe: Kein israelischer Soldat, kein Feuerwehrmann und kein Sanitäter kommt an der Unfallstelle zu Hilfe. Kein Offizieller greift durch, bis es zu spät ist, bis Salamas Sohn und die anderen Kinder tot sind.
Thrall hat die Odyssee des Abed Salama fast wie besessen detailliert nachgezeichnet. Da ist das frühere Leben Abed Salamas, das Leben vor seiner Ehe mit der Mutter von Milad. Es ist eine Achterbahnfahrt mit den strengen arabischen Traditionen, dem gekränktem persönlichen Stolz samt dazugehörender männlicher Ehrpusseligkeit, aus Trotz geschlossenen und rasch gescheiterten Ehen: all das im beklemmend engen Korsett arabisch-muslimischer Moralvorstellungen.
Dazu kommt Salamas leidenschaftlicher Aktivismus für die palästinensische Sache, in den er angesichts der Besatzung – und durch seine Jugendliebe Ghazel – unausweichlich hineinwächst, dem er sich nicht entziehen kann und will. Die hohe Kunst des Reporters Thrall besteht darin, wie er die singuläre Tragödie eines Mannes angesichts eines Autounfalls nachzeichnet, um daran zu zeigen, wie die Palästinenser als Volk die Besatzung erleben. Thrall nimmt als Erzähler bewusst eine rein palästinensische Perspektive ein: „Das Ziel meines Buches ist, den Leser buchstäblich in die Schuhe dieser Palästinenser zu stellen“, sagt Thrall der SZ am Telefon. „Ich beschreibe ihre Wahrheit und ihre Realität, in der sie leben.“
Wer dies nicht als Einseitigkeit missversteht und „Ein Tag im Leben des Abed Salama“ bewusst unvoreingenommen angeht, der mag den Kopf schütteln angesichts der quälenden Enge arabisch-palästinensischer Traditionen und Ehrvorstellungen, wenn es um Liebe, Ehe und Familie geht. Wer das Buch liest, wird aber auch manches besser verstehen und dem Jahrzehnte langen Alltagsleid der Palästinenser kaum länger unberührt gegenüberstehen. Thrall sagt dazu: „Das Leben der palästinensischen Bevölkerung ist von einem extrem ungerechten und unterdrückerischen System von Kontrolle geprägt, das immer wieder neue Runden von Blutvergießen hervorrufen wird, solange es nicht verändert wird.“
Mit dem Autounfall als Zirkelpunkt umreißt Thrall so das Leben der von der Katastrophe Betroffenen im komplexen Umfeld der palästinensischen Gesellschaft unter israelischer Besatzung. Thrall lebt selbst seit Jahren in Jerusalem, dem in den USA geborenen Juden sind die israelische und die palästinensische Kultur vertraut. „Ich bin ein Outsider, in beiden Gesellschaften“, so der säkular denkende Thrall. „Aber ich habe enge jüdisch-israelische Freunde und ich habe palästinensische Freunde.“
Als langjähriger Analyst des renommierten Thinktanks „International Crisis Group“ hat Thrall die palästinensisch-israelischen Beziehungen ein Jahrzehnt lang hauptberuflich verfolgt, hat Politiker, Militärvertreter und andere Entscheidungsträger beider Seiten getroffen. Mit diesem Wissen und dem Wunsch, seine Einsichten nicht länger auf der Basis trockener Analysen für Experten zu vertun, will er die politische Realität nun einer breiteren Leserschaft erklären. Das vermeintlich unlösbare Auf und Ab aus Gewalt und Annäherung, das keine der beiden Seiten zum Ziel führt – und bei dem die Palästinenser mit ebenso tragischer wie systemischer Regelmäßigkeit stets weniger erreichen und mehr verlieren als die Israelis.
Er habe oft genug führende amerikanische Verhandler und Nahost-Experten getroffen, die ihm versichert hätten, seine kritische Haltung gegenüber der Politik Israels voll zu teilen: „Ich fragte, warum sie das, was sie denken, dann nicht auch laut sagen wollten. Sie antworten, dass sie damit ihre Karrieren ruinieren würden.“
Welche Schlüsse er aus dem endlosen Wechsel von Gewalt und – mehr oder minder ernst gemeinten – Versöhnungsversuchen zieht, hat Thrall seine Leser 2017 in einem Sachbuch wissen lassen: „The only language they understand – forcing compromise in Israel und Palastine“. Dieses Buch liest sich nicht so geschmeidig leicht wie „Ein Tag im Leben von Abed Salama“. Es ist lesenswert, häuft aber streckenweise mehr Fakten auf, als sich schmerzfrei verdauen lassen, und erschöpft den Leser gelegentlich mit ungezügelter Detailfreude.
Das Resümee dieses Buches erscheint glasklar: Sowohl im Umgang mit den Israelis als auch mit den Palästinensern helfe nur Druck, Druck und nochmals Druck. Thrall belegt vom Camp-David-Frieden bis zu den Oslo-Verträgen, dass am Ende nur US-amerikanischer, arabischer und europäischer Druck etwas bewegt hat und dass dies der einzige Hebel sein dürfte, den Konflikt zu befrieden.
Der Jude Thrall erspart Israel und dessen Gesellschaft bei seiner Analyse nichts. „The only language they understand“ sei „seit Jahrzehnten die härteste Kritik der israelischen Politik“, schrieb Elliot Abrams, einst Vizesicherheitsberater des früheren US-Präsidenten George W. Bush. Alle Fehler der Palästinenser würden benannt, aber Thralls Pfeil ziele auf Israel. Abrams Ratschlag an alle, die Israel in allem und trotz aller offensichtlichen Missstände verteidigen: „Überzeugte Unterstützer Israels sollten Antworten bereithalten – oder sich darauf einstellen, die Debatten zu verlieren, in denen Nathan Thrall zitiert wird.“
Auf Hebräisch ist „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ bisher noch nicht erschienen. Umso interessanter – und vorhersehbar explosiver – werden die Reaktionen sein, wenn es seine Leserschaft in Israel findet. Dass Thralls Buch in Deutschland nun bei Pendragon überhaupt, wenn auch in einem kleineren Verlag erscheint, war trotz Pulitzerpreis nicht einmal garantiert. Führende Häuser hätten eine Veröffentlichung abgelehnt, so Thrall. „Jeder große oder mittlere deutsche Verlag – und wir haben so ziemlich jeden angesprochen – sagte, dass sie das Buch lieben, es aber auf keinen Fall veröffentlichen können: aus politischen Gründen.“
„Ich beschreibe ihre
Wahrheit und ihre
Realität, in der sie leben.“
Der Jude Thrall erspart
Israels Gesellschaft
bei seiner Analyse nichts
Nathan Thrall: Ein Tag im Leben von Abed Salama. Aus dem Englischen übersetzt von Lucien Deprijck. Pendragon, Bielefeld 2024. 296 Seiten, 26 Euro.
„Ich bin ein Outsider, in beiden Gesellschaften“, sagt der in Jerusalem lebende US-Amerikaner Nathan Thrall über Israel und Palästina. Am 16. September liest er in München aus seinem Buch.
Foto: Judy Heiblum/Pendragon
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de