Im Wald ist es warm und dunkel, als Nicola zitternd das Gewehr auf seinen geliebten Bruder Lupo richtet. Er bittet um Verzeihung, dann schießt er. Der Erste Weltkrieg hat Serra de' Conti erreicht, ein Dorf in den italienischen Marken.An diesem Ort der Habenichtse zählt der Einzelne bloß, wenn er arbeitet, gehört keinem Bauern das Land, das er bestellt. In der Familie des Bäckers Ceresa überlebt kaum ein Kind, bald sind nur noch zwei Söhne übrig, so grundverschieden wie unzertrennlich: Nicola, der schwächliche Junge mit dem Prinzengesicht, und der aufsässige Lupo, der sich schon früh den Anarchisten anschließt. Unermüdlich beschützt Lupo den ängstlichen Bruder, kämpft gegen die Ungerechtigkeit der Mächtigen und die Märchen der Kirche. Doch zwischen den Brüdern steht eine Lüge, verborgen hinter Klostermauern.In wirkmächtigen Bildern von karger Schönheit erzählt Giulia Caminito »von unten« aus der Geschichte Italiens: von Malatestas Anarchisten, dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe bis zum Aufstieg Mussolinis - ein Roman über zwei ungleiche junge Männer und über den unerschütterlichen Glauben an eine bessere Zukunft.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs teilen sich der junge Lupo und sein Bruder in einem sehr armen italienischen Dorf die Verantwortung für ihre vom Unglück gebeutelte Familie und kämpfen mit ihren gegenseitigen Verpflichtungen, fasst Rezensentin Cornelia Geißler diesen Roman zusammen. Sie hat das Buch gerne gelesen, was vor allem an der Lebendigkeit der Figuren lag. Auch die Aktualität des Romans hat die Kritikerin begeistert: Zuletzt fällt die Spanische Grippe über das Dorf her, verrät sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2020Die kleine Welt
Giulia Caminitos Roman "Ein Tag wird kommen"
Don Camillo und Peppone haben es vorgemacht. Hemdsärmelig und rauhbeinig streiten der Priester und der Kommunist in den Erzählungen Giovannino Guareschis für ihre Überzeugungen. Beider kleine Welt liegt am Po, in der Emilia-Romagna, ihre Katzbalgereien tragen sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Guareschis Humor wohnt Trost inne, der sich nie aus Naivität speist: Er wurde unter Mussolini verhaftet und im Nachkriegsitalien wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verurteilt.
Die kleine Welt von Giulia Caminito, geboren 1988, liegt in einer Nachbarregion, den Marken. Bei ihr beharken sich Christen und Anarchisten, vor und während des Ersten Weltkriegs. Humor fehlt in ihrem Roman, oberflächlich auch jenes Versöhnungsangebot, das sich aus Toleranz speist. "Denn, wie man weiß: Die Erde bleibt, während die Menschen fortgehen." Ein fataler, gleichgültiger Anklang ist wohl nicht zu leugnen.
In der Tat stützt die erste Hälfte des Romans diesen Eindruck. Caminito beginnt mit einer Szene im Wald. Zwei Brüder stehen einander gegenüber, Nicola und Lupo. Der eine soll auf den anderen schießen, daraus bezieht der Roman seine Spannung. Wie Caminito ihre Leserschaft dann aber in die Familie Ceresa einführt, wie sie den anarchistischen Großvater Giuseppe, die verschwundene rebellische Schwester Nella, den starrsinnigen und sozialrevolutionären Lupo, den kränklichen lesekundigen Nicola und die ansonsten christliche Familie vorstellt, hätte etwas durchdachter sein können. Es ginge zu weit zu behaupten, sie wollte durch Unverständlichkeit Spannung im Roman erzeugen, doch die Gefahr der Wirrnis ist nicht fern.
Ökonomisches Erzählen war ja einmal ein großes Schlagwort, und es ließe sich trefflich darüber streiten, ob Generosität oder gar Prasserei der Literatur abträglich ist. Bei Caminito wäre aber etwas sprachlicher Geiz bei den Vergleichen ratsam gewesen. Der Wald, in dem die Brüder stehen, ist "klein wie sie, die sie Nadeln im Heuhaufen waren", Lupo mit "Rabenblick, reglos wie eine Gewissheit", Nicola mit den "grauen Augen wie der Boden einer Metallwanne", und wer die alten Regeln nicht befolgt, geht ein "wie Quitten, wenn man ihnen den Saft entzieht".
Wer die Monotonie solcher Vergleiche schluckt und ein wenig durchhält, kann indes beobachten, wie sich eine Lesart auftut, die dem Eindruck der ersten Seiten widerspricht. Zur Darstellung der "christlichen Seite" wählt Caminito zwei Figuren, den bigotten Don Agostino und Suor Clara, für die La Moretta Patin stand, die schwarze Äbtissin des Klosters Serra de' Conti. Hier gelingen Caminito schnörkellosere, eindrücklichere Passagen, vor allem wenn sie Suor Clara beschreibt, die von arabischen Sklavenhändlern aus dem Sudan entführt wurde. Anschaulich schildert sie, was das italienische Klima für Haut- und Haarpflege dieser Frau bedeutet, aber auch wie die Menschen im Dorf reagieren, als sie erstmals eine Schwarze sehen.
Ihre Figuren werden nun differenzierter und greifbarer. Ein wenig Fontane schimmert auf: "Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig." Ein Mensch ist nicht mit seiner Stimmabgabe in der Wahlkabine umrissen, nicht mit seinem Rosenkranz . . .
"Ein Tag wird kommen" ist nach "La Grande" von 2016 der zweite Roman Caminitos. Beide sind historisch angelegt - "La Grande" spielt teils in den italienischen Kolonien -, beide sind von der eigenen Familiengeschichte inspiriert: Caminitos Vater stammt aus Eritrea, ihr Urgroßvater Nicola Ugolini ist ein Anarchist aus den Marken gewesen.
In ihren zweiten Roman webt Caminito nun aufkeimenden Faschismus, Missbrauch, revolutionäre Bewegungen, die Rolle der Frau, die Unterdrückung von Bildung und vieles mehr ein. Moderne Themen also. Doch siehe da, es treffen sich die relativ junge Frau aus dem 21. und der alte Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert. Fontane legt seinem Dubslav im "Stechlin" die Worte in den Mund: "Ich gehöre zu denen, die sich immer den Einzelfall ansehn." Das hat Giulia Caminito getan. Literarisch vielleicht nicht durchgängig überzeugend, aber doch anregend genug, um über Prinzipienreiterei nachzudenken.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Giulia Caminito: "Ein Tag wird kommen". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach, Berlin 2020. 272 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Giulia Caminitos Roman "Ein Tag wird kommen"
Don Camillo und Peppone haben es vorgemacht. Hemdsärmelig und rauhbeinig streiten der Priester und der Kommunist in den Erzählungen Giovannino Guareschis für ihre Überzeugungen. Beider kleine Welt liegt am Po, in der Emilia-Romagna, ihre Katzbalgereien tragen sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Guareschis Humor wohnt Trost inne, der sich nie aus Naivität speist: Er wurde unter Mussolini verhaftet und im Nachkriegsitalien wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verurteilt.
Die kleine Welt von Giulia Caminito, geboren 1988, liegt in einer Nachbarregion, den Marken. Bei ihr beharken sich Christen und Anarchisten, vor und während des Ersten Weltkriegs. Humor fehlt in ihrem Roman, oberflächlich auch jenes Versöhnungsangebot, das sich aus Toleranz speist. "Denn, wie man weiß: Die Erde bleibt, während die Menschen fortgehen." Ein fataler, gleichgültiger Anklang ist wohl nicht zu leugnen.
In der Tat stützt die erste Hälfte des Romans diesen Eindruck. Caminito beginnt mit einer Szene im Wald. Zwei Brüder stehen einander gegenüber, Nicola und Lupo. Der eine soll auf den anderen schießen, daraus bezieht der Roman seine Spannung. Wie Caminito ihre Leserschaft dann aber in die Familie Ceresa einführt, wie sie den anarchistischen Großvater Giuseppe, die verschwundene rebellische Schwester Nella, den starrsinnigen und sozialrevolutionären Lupo, den kränklichen lesekundigen Nicola und die ansonsten christliche Familie vorstellt, hätte etwas durchdachter sein können. Es ginge zu weit zu behaupten, sie wollte durch Unverständlichkeit Spannung im Roman erzeugen, doch die Gefahr der Wirrnis ist nicht fern.
Ökonomisches Erzählen war ja einmal ein großes Schlagwort, und es ließe sich trefflich darüber streiten, ob Generosität oder gar Prasserei der Literatur abträglich ist. Bei Caminito wäre aber etwas sprachlicher Geiz bei den Vergleichen ratsam gewesen. Der Wald, in dem die Brüder stehen, ist "klein wie sie, die sie Nadeln im Heuhaufen waren", Lupo mit "Rabenblick, reglos wie eine Gewissheit", Nicola mit den "grauen Augen wie der Boden einer Metallwanne", und wer die alten Regeln nicht befolgt, geht ein "wie Quitten, wenn man ihnen den Saft entzieht".
Wer die Monotonie solcher Vergleiche schluckt und ein wenig durchhält, kann indes beobachten, wie sich eine Lesart auftut, die dem Eindruck der ersten Seiten widerspricht. Zur Darstellung der "christlichen Seite" wählt Caminito zwei Figuren, den bigotten Don Agostino und Suor Clara, für die La Moretta Patin stand, die schwarze Äbtissin des Klosters Serra de' Conti. Hier gelingen Caminito schnörkellosere, eindrücklichere Passagen, vor allem wenn sie Suor Clara beschreibt, die von arabischen Sklavenhändlern aus dem Sudan entführt wurde. Anschaulich schildert sie, was das italienische Klima für Haut- und Haarpflege dieser Frau bedeutet, aber auch wie die Menschen im Dorf reagieren, als sie erstmals eine Schwarze sehen.
Ihre Figuren werden nun differenzierter und greifbarer. Ein wenig Fontane schimmert auf: "Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig." Ein Mensch ist nicht mit seiner Stimmabgabe in der Wahlkabine umrissen, nicht mit seinem Rosenkranz . . .
"Ein Tag wird kommen" ist nach "La Grande" von 2016 der zweite Roman Caminitos. Beide sind historisch angelegt - "La Grande" spielt teils in den italienischen Kolonien -, beide sind von der eigenen Familiengeschichte inspiriert: Caminitos Vater stammt aus Eritrea, ihr Urgroßvater Nicola Ugolini ist ein Anarchist aus den Marken gewesen.
In ihren zweiten Roman webt Caminito nun aufkeimenden Faschismus, Missbrauch, revolutionäre Bewegungen, die Rolle der Frau, die Unterdrückung von Bildung und vieles mehr ein. Moderne Themen also. Doch siehe da, es treffen sich die relativ junge Frau aus dem 21. und der alte Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert. Fontane legt seinem Dubslav im "Stechlin" die Worte in den Mund: "Ich gehöre zu denen, die sich immer den Einzelfall ansehn." Das hat Giulia Caminito getan. Literarisch vielleicht nicht durchgängig überzeugend, aber doch anregend genug, um über Prinzipienreiterei nachzudenken.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Giulia Caminito: "Ein Tag wird kommen". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach, Berlin 2020. 272 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Giulia Caminitos Sprache ist einfach, stark, vollkommen - sie erschafft Figuren, die bleibende Freunde unserer Phantasie werden: eine Ausnahmeerscheinung der italienischen Literatur.« Il Manifesto