Sekunden vor seinem Tod bei einem Flugzeugabsturz sieht der große SängerCarlos Gardel noch einmal die Bilder seines Lebens vorüberziehen: wie er alsuneheliches Kind mit seiner Mutter Frankreich verlässt und nach Argentiniengelangt, um Musikgeschichte zu schreiben, wie er in den Bordellen von BuenosAires ein Zuhause findet, wie er einen Rivalen niedersticht und einem Juden dasLeben rettet, wie er Enrico Caruso auf einem Schiff nach Brasilien, Charlie Chaplinan der Strandpromenade von Nizza und schließlich auch noch den Prinzenvon Wales kennenlernt, der seine Tangos auf der Ukulele begleitet ...Das wunderschöne literarische Vexierspiel von Pedro Orgambide über das Lebendes Carlos Gardel wird ergänzt durch ein Nachwort des Tangoexperten(und Tangosängers) Jorge Aravena Llanca sowie durch viele Photographien.Ein Buch für alle Tangoliebhaber.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2010Die traurigste aller Nächte
Mythos ohne Wahrheitskratzer: Pedro Orgambides Romanbiographie umkreist den Tangosänger Carlos Gardel, ohne ihn durchschauen zu wollen - zum Glück.
Eine Romanbiographie ist ein Bastard, das uneheliche Kind aus Fiktion und Wirklichkeit, Phantasie und Fakten, ein ungeliebtes Genre, dem immer der Ruch der Illegitimität anhaftet. Pedro Orgambide hat es trotzdem gewählt, um das Leben von Carlos Gardel, dem größten aller Tangosänger, nachzuerzählen. Warum er das tat, will einem zunächst nicht in den Kopf. Dass er damit aber die beste Wahl getroffen hat, begreift man erst zum Schluss.
Orgambide, der 1929 in Buenos Aires geboren wurde, 2003 dort starb und dazwischen viele Jahre im mexikanischen Exil verbrachte, verwischt die Grenze zwischen Möglichem und Wirklichem, wie ein Flüchtender vor der Realität seine Spuren. Doch er hinterlässt als Abdrücke die Schlüsselstellen aus Gardels Biographie: seine Geburt in Toulouse als unehelicher Sohn einer Büglerin, die drei Jahre später nach Argentinien auswandert; seine Jugend in Buenos Aires zwischen Huren, Hafenarbeitern und Tangotänzern; seinen Durchbruch mit "Mi noche triste", der traurigen Nacht, in der ein Mann den Schmerz des Verlassenwerdens besingt; seinen Ruhm als Erfinder des melancholischen Tangos; seinen frühen Tod beim Zusammenstoß seines Flugzeuges mit einer anderen Maschine im kolumbianischen Medellín 1935. Immer wieder dreht sich die Romanbiographie um die Grund- und Wesenszüge Gardels, die Leidenschaft fürs gute Essen und der lebenslange Kampf gegen die Kilos, die Liebe zu leichten Mädchen und das Lächeln, das nicht nur sie verzaubert - Juan Domingo Perón, selbst ein Meister der Massenverführung, sagte einmal voller Neid und Anerkennung: "Sollte es einmal einen Präsidenten mit dem Lächeln von Gardel geben, hat er das Volk schon in der Tasche." Und auch die Gerüchte, die Gardels Karriere begleiteten, sind ein Thema, seine angebliche Homosexualität - Borges verstieg sich sogar dazu, ihm die "Verweiblichung" des Tangos vorzuwerfen - oder seine angebliche Geburt im uruguayischen Ort Tacuarembó.
Eine Stammtischrunde in einem Kaffeehaus, die sich über Gardel unterhält und Besuch vom "Verbrannten" bekommt, einem Überlebenden des Medellíner Flugzeugabsturzes, ist das lose Gerüst, an dem lauter Miniaturen, jeweils oft nur drei, vier Seiten lang, scheinbar wahllos und nur nach einer groben chronologischen Ordnung aufgehängt werden, lauter Momente eines Lebens. Gardels Mutter wird von einem Filou verführt, der auf Jahrmärkten Akkordeon spielt. Gardel hat eine Liebschaft mit einer Prostituierten und sticht einen Luden nieder, der ihr zu nahe kommt. Gardel wird bei einem Streit in die Lunge geschossen, er überlebt nur knapp. Gardel trifft auf einer Überfahrt nach Brasilien Enrico Caruso und singt für ihn. Gardel bringt dem Prinzen von Wales einen Tango dar und wird von ihm auf der Ukulele begleitet. Gardel rettet einen alten Juden vor rechten Schlägern. Wieder und wieder erlebt Gardel seine letzten Lebenssekunden im Flugzeug. Und ständig geistert ein Mann mit schwarzem Poncho wie eine Mischung aus Erzengel und Sensenmann durch das Buch. Es ist der "Mann aus Tacuarembó", der sich tatsächlich als der Tod entpuppt und Sekunden vor der Explosion des Flugzeugs neben der Startbahn auftaucht.
Mit seiner leichthändigen, unprätentiösen, aphoristischen Sprache - die Kindheit sei die Heimat des Menschen, heißt es an einer Stelle, und der Tod setze dem Gedächtnis ein ehrenvolles Ende, an einer anderen - umkreist Orgambide Carlos Gardel, nähert sich ihm manchmal so sehr, dass man seinen Atem zu spüren glaubt, entfernt sich dann aber wieder, so dass Gardel zur Schimäre verschwimmt. Es geht ihm nicht um ein Röntgenbild von Gardels Charakter, nicht um eine Obduktion seines Wesens, sondern um einen Blick auf den Tangosänger wie durch ein Kaleidoskop: Zu sehen ist immer er und doch immer ein anderer.
So bleibt am Ende das Bild von Gardel ungreifbar, unvollendet, flüchtig, schemenhaft, vergänglich, es werden keine Konturen hinter dem Ruhm und der Tragik sichtbar - und genauso soll es auch sein, denn Orgambide will Gardels Mythologisierung fortschreiben. Er soll gar keine klaren Linien bekommen, sondern zum immerwährenden Sinnbild Argentiniens und der Argentinier überhöht werden: ihrer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat jenseits des Ozeans, ihrem Verlorensein in der Zwischenwelt Argentiniens zwischen Europa und Amerika, ihrer lebenslangen Hetzjagd nach Liebe, die viele Trophäen einbringt und am Schluss nur Kadaver hinterlässt. Um das zu erreichen, gibt es kein besseres Genre als das Zwitterwesen der Romanbiographie. Eine reine Biographie würde Gardel entzaubern und ihn seiner Aura berauben, weil die Wahrheit der größte Feind des Mythos ist. Und ein Roman würde die Sinnbildlichkeit Gardels schmälern, der eben keine literarische Erfindung, sondern die personalisierte, tragisch komprimierte Wirklichkeit Argentiniens ist. So weiß man am Ende des Buches nicht mehr als vorher - und ist trotzdem klüger.
JAKOB STROBEL Y SERRA
Pedro Orgambide: "Ein Tango für Gardel". Eine Romanbiographie. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2010. 160 S., br., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mythos ohne Wahrheitskratzer: Pedro Orgambides Romanbiographie umkreist den Tangosänger Carlos Gardel, ohne ihn durchschauen zu wollen - zum Glück.
Eine Romanbiographie ist ein Bastard, das uneheliche Kind aus Fiktion und Wirklichkeit, Phantasie und Fakten, ein ungeliebtes Genre, dem immer der Ruch der Illegitimität anhaftet. Pedro Orgambide hat es trotzdem gewählt, um das Leben von Carlos Gardel, dem größten aller Tangosänger, nachzuerzählen. Warum er das tat, will einem zunächst nicht in den Kopf. Dass er damit aber die beste Wahl getroffen hat, begreift man erst zum Schluss.
Orgambide, der 1929 in Buenos Aires geboren wurde, 2003 dort starb und dazwischen viele Jahre im mexikanischen Exil verbrachte, verwischt die Grenze zwischen Möglichem und Wirklichem, wie ein Flüchtender vor der Realität seine Spuren. Doch er hinterlässt als Abdrücke die Schlüsselstellen aus Gardels Biographie: seine Geburt in Toulouse als unehelicher Sohn einer Büglerin, die drei Jahre später nach Argentinien auswandert; seine Jugend in Buenos Aires zwischen Huren, Hafenarbeitern und Tangotänzern; seinen Durchbruch mit "Mi noche triste", der traurigen Nacht, in der ein Mann den Schmerz des Verlassenwerdens besingt; seinen Ruhm als Erfinder des melancholischen Tangos; seinen frühen Tod beim Zusammenstoß seines Flugzeuges mit einer anderen Maschine im kolumbianischen Medellín 1935. Immer wieder dreht sich die Romanbiographie um die Grund- und Wesenszüge Gardels, die Leidenschaft fürs gute Essen und der lebenslange Kampf gegen die Kilos, die Liebe zu leichten Mädchen und das Lächeln, das nicht nur sie verzaubert - Juan Domingo Perón, selbst ein Meister der Massenverführung, sagte einmal voller Neid und Anerkennung: "Sollte es einmal einen Präsidenten mit dem Lächeln von Gardel geben, hat er das Volk schon in der Tasche." Und auch die Gerüchte, die Gardels Karriere begleiteten, sind ein Thema, seine angebliche Homosexualität - Borges verstieg sich sogar dazu, ihm die "Verweiblichung" des Tangos vorzuwerfen - oder seine angebliche Geburt im uruguayischen Ort Tacuarembó.
Eine Stammtischrunde in einem Kaffeehaus, die sich über Gardel unterhält und Besuch vom "Verbrannten" bekommt, einem Überlebenden des Medellíner Flugzeugabsturzes, ist das lose Gerüst, an dem lauter Miniaturen, jeweils oft nur drei, vier Seiten lang, scheinbar wahllos und nur nach einer groben chronologischen Ordnung aufgehängt werden, lauter Momente eines Lebens. Gardels Mutter wird von einem Filou verführt, der auf Jahrmärkten Akkordeon spielt. Gardel hat eine Liebschaft mit einer Prostituierten und sticht einen Luden nieder, der ihr zu nahe kommt. Gardel wird bei einem Streit in die Lunge geschossen, er überlebt nur knapp. Gardel trifft auf einer Überfahrt nach Brasilien Enrico Caruso und singt für ihn. Gardel bringt dem Prinzen von Wales einen Tango dar und wird von ihm auf der Ukulele begleitet. Gardel rettet einen alten Juden vor rechten Schlägern. Wieder und wieder erlebt Gardel seine letzten Lebenssekunden im Flugzeug. Und ständig geistert ein Mann mit schwarzem Poncho wie eine Mischung aus Erzengel und Sensenmann durch das Buch. Es ist der "Mann aus Tacuarembó", der sich tatsächlich als der Tod entpuppt und Sekunden vor der Explosion des Flugzeugs neben der Startbahn auftaucht.
Mit seiner leichthändigen, unprätentiösen, aphoristischen Sprache - die Kindheit sei die Heimat des Menschen, heißt es an einer Stelle, und der Tod setze dem Gedächtnis ein ehrenvolles Ende, an einer anderen - umkreist Orgambide Carlos Gardel, nähert sich ihm manchmal so sehr, dass man seinen Atem zu spüren glaubt, entfernt sich dann aber wieder, so dass Gardel zur Schimäre verschwimmt. Es geht ihm nicht um ein Röntgenbild von Gardels Charakter, nicht um eine Obduktion seines Wesens, sondern um einen Blick auf den Tangosänger wie durch ein Kaleidoskop: Zu sehen ist immer er und doch immer ein anderer.
So bleibt am Ende das Bild von Gardel ungreifbar, unvollendet, flüchtig, schemenhaft, vergänglich, es werden keine Konturen hinter dem Ruhm und der Tragik sichtbar - und genauso soll es auch sein, denn Orgambide will Gardels Mythologisierung fortschreiben. Er soll gar keine klaren Linien bekommen, sondern zum immerwährenden Sinnbild Argentiniens und der Argentinier überhöht werden: ihrer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat jenseits des Ozeans, ihrem Verlorensein in der Zwischenwelt Argentiniens zwischen Europa und Amerika, ihrer lebenslangen Hetzjagd nach Liebe, die viele Trophäen einbringt und am Schluss nur Kadaver hinterlässt. Um das zu erreichen, gibt es kein besseres Genre als das Zwitterwesen der Romanbiographie. Eine reine Biographie würde Gardel entzaubern und ihn seiner Aura berauben, weil die Wahrheit der größte Feind des Mythos ist. Und ein Roman würde die Sinnbildlichkeit Gardels schmälern, der eben keine literarische Erfindung, sondern die personalisierte, tragisch komprimierte Wirklichkeit Argentiniens ist. So weiß man am Ende des Buches nicht mehr als vorher - und ist trotzdem klüger.
JAKOB STROBEL Y SERRA
Pedro Orgambide: "Ein Tango für Gardel". Eine Romanbiographie. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2010. 160 S., br., 10,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gerade Pedro Orgambides Wahl des problematischen Genres der Romanbiografie für die Lebensdarstellung des berühmtesten Tangosängers Argentiniens, Carlos Gardel, erweist sich für Jakob Strobel Y Serra als glückliche Entscheidung. Der 2003 gestorbene Autor stellt kaleidoskopartig Lebenssplitter Gardels in loser Chronologie zusammen und so entsteht ein Bild des Sängers, das zwischen lebendiger Nähe und schimärenhafter Ferne changiert, wie der Rezensent feststellt. Mit leichter Hand, "unprätentiös" und pointiert schafft der Autor damit eine Biografie, die Gardel weder seine "Aura" raubt noch dessen Stellung als "Sinnbild Argentiniens und der Argentinier" untergräbt, so Strobel Y Serra, der zwar einräumt, dass man Gardel nach der Lektüre nicht unbedingt besser kennt, aber dennoch "klüger" geworden ist, wie er lobt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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