Alle 12 Bände der deutschen Übersetzung des Romanzyklus "Ein Tanz zur Musik der Zeit" von Anthony Powell zusammen mit dem Handbuch "Einladung zum Tanz" von Hilary Spurling. Vor Oktober 2018 auch einzeln für 22 Euro je Band oder als Fortsetzung zum Subskriptionspreis von 19 Euro je Band. Vgl. Angaben bei den Einzelbänden bzw. zum Handbuch "Einladung zum Tanz".
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.01.2016Sekt, Blitz
und Society
Endlich auch auf Deutsch: Anthony Powells großer
Romanzyklus „Ein Tanz zur Musik der Zeit“
VON MICHAEL MAAR
Es ist eine Frechheit von Evelyn Waugh, von seinem Jugendfreund Anthony Powell zu sagen, er sei viel vergnüglicher als der französische Autor, mit dem Powell so oft verglichen werde. Proust-Beleidigung ist Gottesbeleidigung, aber davon abgesehen: viel Vergnüglicheres als Powells „A Dance to the Music of Time“ gibt es in der Romanliteratur des letzten Jahrhunderts wohl wirklich nicht.
Anthony Powell, 1905 als Sohn eines Oberstleutnants aus einer Familie von kleinen Gutsbesitzern in Westminster geboren, schrieb vor dem Zweiten Weltkrieg Drehbücher, wenig beachtete Romane und Literaturkritiken. Sein Hauptwerk, das ihm den Vergleich mit Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eintrug, begann er nach dem Krieg. Ab 1951 veröffentlichte Powell alle zwei Jahre ein Buch des großen Zyklus „A Dance to the Music of Time“; 1975 erschien der zwölfte und letzte Band.
In England versammelt der „Dance“ schon lange einen Club glühender Bewunderer um sich. Mit großem Aufwand und den besten Schauspielern wurde er als Vierteiler für Channel 4 verfilmt. Seit 2000 gibt es eine Powell-Gesellschaft, die sein Erbe unter anderem dadurch pflegt, dass sie nach den Vorbildern seiner Figuren sucht. Bekannt unter diesen Modellen sind George Orwell, John Galsworthy, Maurice Merleau-Ponty, Lady Diana Cooper, Admiral Earl Mountbatten und Aleister Crowley, der berühmteste Okkultist des zwanzigsten Jahrhunderts.
In England kennt ihn jeder. Auch wenn sie sich gelegentlich über den Alten mokieren, gelesen haben die Autoren der nächsten Generation ihn alle. Julian Barnes kann den Zeitpunkt einer Romanhandlung dadurch bestimmen, dass alle Gäste einer Dinnerparty gerade Anthony Powell beenden. Und jenseits des Atlantiks überträgt Nicholson Baker Stellen aus Powells Roman in sein Zitaten-Hausbuch.
Worum geht es beim englischen Proust? Der „Dance to the Music of Time“ bewegt sich mit über vierhundert Figuren durch sechs Jahrzehnte und lässt das England von 1910 bis 1970 wiederauferstehen. Sein Ich-Erzähler, der den äußeren Lebensweg mit seinem Schöpfer teilt, ist Nicholas Jenkins, den wir vom frühen College bis ins Alter begleiten. Nicholas geht im nicht genannten Eton zur Schule, studiert im nicht genannten Oxford und heiratet später in adlige Kreise ein, die sich mit denen der Bohème überschneiden. Musiker, Maler, Schriftsteller, reiche Industrielle, adlige Kommunisten, Göttinnen der demi-monde, eine Wahrsagerin, ein Sektenführer und aufsteigende Parlamentarier, das ist das Personal, das wir dank Powells Charakterisierungskunst bald so gut kennenlernen, als stamme es aus unserer Nachbarschaft. Die große Geschichte tritt im mittleren Teil ins Relief. Drei Bände lang erleben wir den zweiten Weltkrieg aus englischer Sicht. Nicholas Jenkins sitzt als Verbindungsoffizier den ganzen Tag im Büro; auch der Krieg hat seinen Alltag, und sogar an den deutschen „blitz“ gewöhnt man sich. In den letzten Bänden wird die Luft dämonischer, in Venedig vermählen sich Eros und Thanatos; im allerletzten Band weht uns überraschend der Zeitgeist der revoltierenden Studenten an.
Bislang wehte in Deutschland allerdings so gut wie nichts. Eine deutsche Powell-Gesellschaft hat sich 2012 gegründet, die erste Brise ist also da. Aber warum hatte es dieser Autor bei uns so schwer? Die Gründe dafür sind vielfältig: Der „Dance“ ist exceedingly british, er spielt vorwiegend in der Oberschicht und stand darum im Snobismus-Verdacht, er verzichtet auf formale Experimente, er meint es ernst mit seinen Figuren, ist aber genuin komisch – nichts, was dem Zeitgeist so recht entgegenkam. Und dann ist er auch noch sehr lang, was die Verlage immer wieder nach kurzer Zeit einknicken ließ.
Umso feuriger muss der Fanfarenstoß zum Beginn der Festspiele ausfallen, die man uns jetzt in Aussicht stellt. Eine verlegerische Großtat ist anzuzeigen, und es ist nicht eines der bekannten Häuser, das sie riskiert, sondern der kleine Berliner Elfenbein Verlag. Er wagt es und will uns den ganzen „Tanz zur Musik der Zeit“ präsentieren. Die ersten vier Bände liegen vor, sie machten sich selbst als Blindbände gut im Regal: ausnehmend schön gestaltet, mit delikaten Cover-Mustern und delikatem Farbgeschmack, vergleichbar der Pastellkomposition der großen Ausgabe Virginia Woolfs, bei deren Halbbruder Anthony Powell eine Zeitlang gearbeitet hatte.
Wichtiger als die formidable äußere Form ist die Frage der deutschen Version. Heinz Feldmann hatte die ersten drei Teile des Zyklus schon in den Achtzigerjahren für den Ehrenwirth Verlag übersetzt. Nach der kleinen Verschnaufpause von dreißig Jahren will er in diesem neuen Anlauf halbjährlich den jeweils nächsten Band vorlegen; der zwölfte und letzte Band „Der Klang geheimer Harmonien“ ist für den Oktober 2019 avisiert. Powell schreibt ein stark latinisiertes und syntaktisch verästeltes Englisch; nicht ganz so verzwickt und tordu wie beim späten Henry James, dem nur ein Michael Walter gewachsen ist, aber doch nicht weniger anspruchsvoll. Feldmann ist in allen Registern sicher, in der herrlich unpassenden Tischrede Widmerpools über den Goldstandard – Parodie des Wirtschaftsjargons – wie im derben Berlinerisch, in das Professor Sillery eine Passage lang imitierend verfällt.
Feldmann hat den Sinn für das aptum; er macht nicht zu viel, drängt sich nicht nach vorne, meidet Jargon, hat ein sicheres Gefühl für den Rhythmus der oft langen Perioden und trifft den Ton beim fast noch schwierigeren Geplauder, dem kolloquialen Dialog. Kurz, er ist der richtige Mann für den riskanten Job, der richtige Tanzmeister auf diesem Federboden. Man wünscht ihm die Zähigkeit des von ihm übertragenen Autors, der nach seinem Opus magnum noch etliche weitere Bücher schrieb und im Alter von 94 im Familienkreis den friedlichsten aller Tode starb.
Was macht Anthony Powells Romanzyklus so unvergesslich, warum liest man sich sofort wieder in ihm fest? Derselbe Evelyn Waugh, der frech gegen Proust wurde, verglich Powells Werk mit kühlem trockenen Sekt. Er meinte wohl eigentlich Champagner und hatte eine Szene aus dem vierten Band im Sinn. Es ist die Schilderung eines Abendessens, zu dem eine durstige Runde beim asketischen Kommunisten und Adligen Erridge geladen ist. Erridge zieht demnächst in den spanischen Bürgerkrieg, kümmert sich nicht um fleischliche Genüsse und ist nur mit viel List zur Offerte eines Aperitifs zu bewegen. Eine Verlobung soll gefeiert werden, doch Erridge stellt sich taub. Der Kampf um den Sherry ist aber nur ein erstes Scharmützel. Ihm folgt eine lange erfolgreich abgewehrte, endlich aber doch erfolgreiche Attacke auf die letzte Magnum-Flasche Champagner, die in Erridges Keller verstaubt, den der Butler im Lauf der Jahre heimlich leer getrunken hat. Bis sich ihr Korken endlich löst, ist auch der Leser fast verdurstet, der am Ende einer der komischsten Szenen der jüngeren Literatur zuprosten kann.
Powell ist ein Meister der fein ausgepinselten Szenen und der komischen Figuren. Die bekannteste davon ist Kenneth Widmerpool, dessen bleierne Tischrede beim Treffen der old boys einen Schlaganfall bei ihrem alten Lehrer auslöst. Widmerpool, der sich ausschließlich für sich selbst interessiert und telepathisch spürt, was der Gegenüber von ihm denkt, Widmerpool, der unsympathische Streber mit eisernem Willen zur Macht, der immer wieder zu unerwarteten und darum allmählich gerade erwarteten Momenten im Restaurant oder auf der Party eintrifft; Widmerpool, der am Anfang mit Spikes und zu kleiner Mütze durch den Winterregen rennt und als Gegenfigur des Erzählers eine steile Karriere macht – allein dieser Widmerpool, der sich noch sein Versagen in der ersten Verlobungsnacht schönredet, ist einer der ganz großen Charaktere des Charakterreigens im „Dance“. Unter Powell-Verehrern genügt die Nennung seines Namens, und man sieht es amüsiert aufblitzen. Ja, Widmerpool . . . Ist es nicht doch ein bisschen too much, meint Julian Barnes, dass er immer zum falschen, also genau richtigen Moment auf die Bühne stolpert?
Es hat aber etwas mit der Anlage des Romans zu tun. Seinen Titel erklärt gleich die erste präludierende Passage. Der Erzähler fühlt sich durch eine winterliche Szene an das Gemälde von Poussin erinnert, in dem die Jahreszeiten Hand in Hand zu der Musik der Leier tanzen, die der geflügelte, nackte Graubart spielt. Diese allegorische Darstellung der Zeit weckt bei Nicholas Gedanken an das irdische Leben: an die Menschen, wie sie sich Hand in Hand in verschlungenem Rhythmus bewegen; wie sie langsam, methodisch und manchmal leicht unsicher schreiten in Wendungen, die erkennbare Formen annehmen, oder wie sie ausbrechen in wilde, scheinbar sinnlose Drehsprünge, während ihre Partner verschwinden, nur um dann wieder zu erscheinen; „wie sie unfähig sind, die Melodie, und unfähig vielleicht auch, die Schritte des Tanzes zu bestimmen“. Zu diesem rituellen, wenn auch nicht klassisch abgezirkelten Tanz gehört es, dass Figuren aus dem Bild stolpern und alsbald wieder auf ihm erscheinen; wenn sie Widmerpool heißen, eher früher als spät.
Es sind die Jahreszeiten, die ihren Reigen tanzen; über dem Spiel der Triebe wacht die unerbittliche Zeit. Und so lernen wir den Erzähler, ganz wie bei Proust, im Frühling des Lebens kennen und wir verlassen ihn erst im Winter, wenn alle grau oder weiß geworden sind und jemand, wir-wissen-schon-wer, im letzten Bild ächzend und nackt durch den Schnee rennt. Was die deutschen Leser leider erst 2019 nachlesen können werden. Es lohnt sich durchzuhalten; es gibt nicht viel Besseres. Powell ist einfach göttlich, unterstellt, in der Literatur sei ein gesunder Polytheismus erlaubt.
Anthony Powell: Ein Tanz zur Musik der Zeit. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Band 1: Eine Frage der Erziehung. Band 2: Tendenz: steigend. Band 3: Die Welt des Wechsels. Band 4: Bei Lady Molly. Elfenbein Verlag, Berlin 2015. Insgesamt 1052 Seiten, pro Einzelband 22 Euro.
Diese vergnüglichen Romane
lassen das England von 1910 bis
1970 wieder auferstehen
Ein Bild von Poussin, auf dem
die Jahreszeiten zur Musik der
Leier tanzen, steht am Anfang
„Er besaß eine Art natürlicher Eleganz . . .“:
Anthony Powell in seinem Haus in Somerset.
Foto: mauritius images / Alamy
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Society
Endlich auch auf Deutsch: Anthony Powells großer
Romanzyklus „Ein Tanz zur Musik der Zeit“
VON MICHAEL MAAR
Es ist eine Frechheit von Evelyn Waugh, von seinem Jugendfreund Anthony Powell zu sagen, er sei viel vergnüglicher als der französische Autor, mit dem Powell so oft verglichen werde. Proust-Beleidigung ist Gottesbeleidigung, aber davon abgesehen: viel Vergnüglicheres als Powells „A Dance to the Music of Time“ gibt es in der Romanliteratur des letzten Jahrhunderts wohl wirklich nicht.
Anthony Powell, 1905 als Sohn eines Oberstleutnants aus einer Familie von kleinen Gutsbesitzern in Westminster geboren, schrieb vor dem Zweiten Weltkrieg Drehbücher, wenig beachtete Romane und Literaturkritiken. Sein Hauptwerk, das ihm den Vergleich mit Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eintrug, begann er nach dem Krieg. Ab 1951 veröffentlichte Powell alle zwei Jahre ein Buch des großen Zyklus „A Dance to the Music of Time“; 1975 erschien der zwölfte und letzte Band.
In England versammelt der „Dance“ schon lange einen Club glühender Bewunderer um sich. Mit großem Aufwand und den besten Schauspielern wurde er als Vierteiler für Channel 4 verfilmt. Seit 2000 gibt es eine Powell-Gesellschaft, die sein Erbe unter anderem dadurch pflegt, dass sie nach den Vorbildern seiner Figuren sucht. Bekannt unter diesen Modellen sind George Orwell, John Galsworthy, Maurice Merleau-Ponty, Lady Diana Cooper, Admiral Earl Mountbatten und Aleister Crowley, der berühmteste Okkultist des zwanzigsten Jahrhunderts.
In England kennt ihn jeder. Auch wenn sie sich gelegentlich über den Alten mokieren, gelesen haben die Autoren der nächsten Generation ihn alle. Julian Barnes kann den Zeitpunkt einer Romanhandlung dadurch bestimmen, dass alle Gäste einer Dinnerparty gerade Anthony Powell beenden. Und jenseits des Atlantiks überträgt Nicholson Baker Stellen aus Powells Roman in sein Zitaten-Hausbuch.
Worum geht es beim englischen Proust? Der „Dance to the Music of Time“ bewegt sich mit über vierhundert Figuren durch sechs Jahrzehnte und lässt das England von 1910 bis 1970 wiederauferstehen. Sein Ich-Erzähler, der den äußeren Lebensweg mit seinem Schöpfer teilt, ist Nicholas Jenkins, den wir vom frühen College bis ins Alter begleiten. Nicholas geht im nicht genannten Eton zur Schule, studiert im nicht genannten Oxford und heiratet später in adlige Kreise ein, die sich mit denen der Bohème überschneiden. Musiker, Maler, Schriftsteller, reiche Industrielle, adlige Kommunisten, Göttinnen der demi-monde, eine Wahrsagerin, ein Sektenführer und aufsteigende Parlamentarier, das ist das Personal, das wir dank Powells Charakterisierungskunst bald so gut kennenlernen, als stamme es aus unserer Nachbarschaft. Die große Geschichte tritt im mittleren Teil ins Relief. Drei Bände lang erleben wir den zweiten Weltkrieg aus englischer Sicht. Nicholas Jenkins sitzt als Verbindungsoffizier den ganzen Tag im Büro; auch der Krieg hat seinen Alltag, und sogar an den deutschen „blitz“ gewöhnt man sich. In den letzten Bänden wird die Luft dämonischer, in Venedig vermählen sich Eros und Thanatos; im allerletzten Band weht uns überraschend der Zeitgeist der revoltierenden Studenten an.
Bislang wehte in Deutschland allerdings so gut wie nichts. Eine deutsche Powell-Gesellschaft hat sich 2012 gegründet, die erste Brise ist also da. Aber warum hatte es dieser Autor bei uns so schwer? Die Gründe dafür sind vielfältig: Der „Dance“ ist exceedingly british, er spielt vorwiegend in der Oberschicht und stand darum im Snobismus-Verdacht, er verzichtet auf formale Experimente, er meint es ernst mit seinen Figuren, ist aber genuin komisch – nichts, was dem Zeitgeist so recht entgegenkam. Und dann ist er auch noch sehr lang, was die Verlage immer wieder nach kurzer Zeit einknicken ließ.
Umso feuriger muss der Fanfarenstoß zum Beginn der Festspiele ausfallen, die man uns jetzt in Aussicht stellt. Eine verlegerische Großtat ist anzuzeigen, und es ist nicht eines der bekannten Häuser, das sie riskiert, sondern der kleine Berliner Elfenbein Verlag. Er wagt es und will uns den ganzen „Tanz zur Musik der Zeit“ präsentieren. Die ersten vier Bände liegen vor, sie machten sich selbst als Blindbände gut im Regal: ausnehmend schön gestaltet, mit delikaten Cover-Mustern und delikatem Farbgeschmack, vergleichbar der Pastellkomposition der großen Ausgabe Virginia Woolfs, bei deren Halbbruder Anthony Powell eine Zeitlang gearbeitet hatte.
Wichtiger als die formidable äußere Form ist die Frage der deutschen Version. Heinz Feldmann hatte die ersten drei Teile des Zyklus schon in den Achtzigerjahren für den Ehrenwirth Verlag übersetzt. Nach der kleinen Verschnaufpause von dreißig Jahren will er in diesem neuen Anlauf halbjährlich den jeweils nächsten Band vorlegen; der zwölfte und letzte Band „Der Klang geheimer Harmonien“ ist für den Oktober 2019 avisiert. Powell schreibt ein stark latinisiertes und syntaktisch verästeltes Englisch; nicht ganz so verzwickt und tordu wie beim späten Henry James, dem nur ein Michael Walter gewachsen ist, aber doch nicht weniger anspruchsvoll. Feldmann ist in allen Registern sicher, in der herrlich unpassenden Tischrede Widmerpools über den Goldstandard – Parodie des Wirtschaftsjargons – wie im derben Berlinerisch, in das Professor Sillery eine Passage lang imitierend verfällt.
Feldmann hat den Sinn für das aptum; er macht nicht zu viel, drängt sich nicht nach vorne, meidet Jargon, hat ein sicheres Gefühl für den Rhythmus der oft langen Perioden und trifft den Ton beim fast noch schwierigeren Geplauder, dem kolloquialen Dialog. Kurz, er ist der richtige Mann für den riskanten Job, der richtige Tanzmeister auf diesem Federboden. Man wünscht ihm die Zähigkeit des von ihm übertragenen Autors, der nach seinem Opus magnum noch etliche weitere Bücher schrieb und im Alter von 94 im Familienkreis den friedlichsten aller Tode starb.
Was macht Anthony Powells Romanzyklus so unvergesslich, warum liest man sich sofort wieder in ihm fest? Derselbe Evelyn Waugh, der frech gegen Proust wurde, verglich Powells Werk mit kühlem trockenen Sekt. Er meinte wohl eigentlich Champagner und hatte eine Szene aus dem vierten Band im Sinn. Es ist die Schilderung eines Abendessens, zu dem eine durstige Runde beim asketischen Kommunisten und Adligen Erridge geladen ist. Erridge zieht demnächst in den spanischen Bürgerkrieg, kümmert sich nicht um fleischliche Genüsse und ist nur mit viel List zur Offerte eines Aperitifs zu bewegen. Eine Verlobung soll gefeiert werden, doch Erridge stellt sich taub. Der Kampf um den Sherry ist aber nur ein erstes Scharmützel. Ihm folgt eine lange erfolgreich abgewehrte, endlich aber doch erfolgreiche Attacke auf die letzte Magnum-Flasche Champagner, die in Erridges Keller verstaubt, den der Butler im Lauf der Jahre heimlich leer getrunken hat. Bis sich ihr Korken endlich löst, ist auch der Leser fast verdurstet, der am Ende einer der komischsten Szenen der jüngeren Literatur zuprosten kann.
Powell ist ein Meister der fein ausgepinselten Szenen und der komischen Figuren. Die bekannteste davon ist Kenneth Widmerpool, dessen bleierne Tischrede beim Treffen der old boys einen Schlaganfall bei ihrem alten Lehrer auslöst. Widmerpool, der sich ausschließlich für sich selbst interessiert und telepathisch spürt, was der Gegenüber von ihm denkt, Widmerpool, der unsympathische Streber mit eisernem Willen zur Macht, der immer wieder zu unerwarteten und darum allmählich gerade erwarteten Momenten im Restaurant oder auf der Party eintrifft; Widmerpool, der am Anfang mit Spikes und zu kleiner Mütze durch den Winterregen rennt und als Gegenfigur des Erzählers eine steile Karriere macht – allein dieser Widmerpool, der sich noch sein Versagen in der ersten Verlobungsnacht schönredet, ist einer der ganz großen Charaktere des Charakterreigens im „Dance“. Unter Powell-Verehrern genügt die Nennung seines Namens, und man sieht es amüsiert aufblitzen. Ja, Widmerpool . . . Ist es nicht doch ein bisschen too much, meint Julian Barnes, dass er immer zum falschen, also genau richtigen Moment auf die Bühne stolpert?
Es hat aber etwas mit der Anlage des Romans zu tun. Seinen Titel erklärt gleich die erste präludierende Passage. Der Erzähler fühlt sich durch eine winterliche Szene an das Gemälde von Poussin erinnert, in dem die Jahreszeiten Hand in Hand zu der Musik der Leier tanzen, die der geflügelte, nackte Graubart spielt. Diese allegorische Darstellung der Zeit weckt bei Nicholas Gedanken an das irdische Leben: an die Menschen, wie sie sich Hand in Hand in verschlungenem Rhythmus bewegen; wie sie langsam, methodisch und manchmal leicht unsicher schreiten in Wendungen, die erkennbare Formen annehmen, oder wie sie ausbrechen in wilde, scheinbar sinnlose Drehsprünge, während ihre Partner verschwinden, nur um dann wieder zu erscheinen; „wie sie unfähig sind, die Melodie, und unfähig vielleicht auch, die Schritte des Tanzes zu bestimmen“. Zu diesem rituellen, wenn auch nicht klassisch abgezirkelten Tanz gehört es, dass Figuren aus dem Bild stolpern und alsbald wieder auf ihm erscheinen; wenn sie Widmerpool heißen, eher früher als spät.
Es sind die Jahreszeiten, die ihren Reigen tanzen; über dem Spiel der Triebe wacht die unerbittliche Zeit. Und so lernen wir den Erzähler, ganz wie bei Proust, im Frühling des Lebens kennen und wir verlassen ihn erst im Winter, wenn alle grau oder weiß geworden sind und jemand, wir-wissen-schon-wer, im letzten Bild ächzend und nackt durch den Schnee rennt. Was die deutschen Leser leider erst 2019 nachlesen können werden. Es lohnt sich durchzuhalten; es gibt nicht viel Besseres. Powell ist einfach göttlich, unterstellt, in der Literatur sei ein gesunder Polytheismus erlaubt.
Anthony Powell: Ein Tanz zur Musik der Zeit. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Band 1: Eine Frage der Erziehung. Band 2: Tendenz: steigend. Band 3: Die Welt des Wechsels. Band 4: Bei Lady Molly. Elfenbein Verlag, Berlin 2015. Insgesamt 1052 Seiten, pro Einzelband 22 Euro.
Diese vergnüglichen Romane
lassen das England von 1910 bis
1970 wieder auferstehen
Ein Bild von Poussin, auf dem
die Jahreszeiten zur Musik der
Leier tanzen, steht am Anfang
„Er besaß eine Art natürlicher Eleganz . . .“:
Anthony Powell in seinem Haus in Somerset.
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DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2016Die Musik dieses Erzählers ist mitreißend
Ein Werk, das lange im Schatten der modernen Avantgarde übersehen wurde, entpuppt sich als Gipfeltext des zwanzigsten Jahrhunderts: Anthony Powells "Tanz zur Musik der Zeit" erscheint erstmals vollständig auf Deutsch.
Die stärksten Regeln einer besseren Gesellschaft sind stets ungeschriebene, denn ihre Einhaltung zeigt zuverlässig, wer eigentlich dazugehört. Was nicht eigens gesagt, geschweige denn geschrieben werden muss, verbindet alle, die es wissen, auf das selbstverständlichste und stellt die Außenseiter, Aufsteiger und Möchtegern-Mitglieder, die darüber stolpern, schnellstens und empfindlich bloß. Da gibt es etwa jene unbestimmte, aber unverzichtbare Zeitspanne vor dem Essen, da man den Appetit noch zügelt und sich bei einem guten Drink der leichten Konversation mit Tischnachbarn hingibt: Wer die versäumt oder verletzt, gibt allzu deutlich zu verstehen, dass Nahrungsaufnahme ihm wichtiger als die Geselligkeit beim Essen ist und schließt sich damit, ob unbedarft oder unwillig, aus den eleganten Kreisen aus. Kingsley Amis meinte daher einmal, dass der niederschmetterndste Ausdruck im Englischen die brutale Aufforderung "Wir können gleich zum Essen reingehen" sei, eben weil sie alle Gäste um den Genuss zweckfreier Unterhaltung bringt. Nur plumpe Geister, denen feine Unterschiede fremd sind, können ernsthaft meinen, dass solch ein Sittenbruch belanglos ist.
Diese Erfahrung macht auch Nicholas Jenkins, Erzähler und Alter Ego des englischen Gesellschaftsautors Anthony Powell. Ein alter Bekannter aus gemeinsamen Schultagen in Eton namens Widmerpool, etwas älter und schon länger im Geschäftsleben der City etabliert, lädt ihn zum Lunch in seinen Club, versagt dann aber nicht nur das gehörige Glas Sherry, sondern ordert auch bei Tisch nichts anderes als etwas kalte Zunge und ein Wasser. Offensichtlich ist er fest entschlossen, die Zusammenkunft so zügig wie pragmatisch hinter sich zu bringen. Der Affront bleibt nicht unbemerkt, wird aber - und hierin zeigt sich wahre Kinderstube - mit englischer Gelassenheit bewältigt, wenn Jenkins darauf lapidar erklärt: "Ich bestellte alles, was ich angesichts seiner eigenen Genügsamkeit mit einigem Anstand bestellen konnte." Wer eine soziale Krise so beherrscht wie unauffällig löst, entlarvt sein dreistes Gegenüber umstandslos als Parvenü.
Die Szene ist bezeichnend für Powells epochalen Romanzyklus. Sie stammt aus dem Roman "Bei Lady Molly", dem vierten Band der Folge, angesiedelt Mitte der dreißiger Jahre, der schon in seinem Titel die soziale Form gehobener Gesellschaften, die den gesamten Zyklus prägt, ankündigt. Widmerpool, obgleich mit den erforderlichen Weihen einer elitären Internatserziehung ausgestattet, wie sie für England nun einmal dazugehört, ist hier wie stets der Außenstehende, Ungeschliffene und wohl auch Unbekümmerte, der dem Erzähler und allen seinesgleichen zu verstehen gibt, wovon sie sich absetzen wollen. Sein Vater hat das große Geld, das ihm einst das Entree in deren Kreise bot, ausgerechnet im Jauchehandel gemacht, einer gewiss nützlichen und für die Agrarwirtschaft unverzichtbaren Tätigkeit, aber selbstverständlich einer, über die man tunlichst schweigt. Dass solche Regeln ihn nicht kümmern, ja, dass er sie nur umso lustvoller missachtet, je mehr ihn sein geschäftlicher Erfolg auch in der höheren Gesellschaft voranbringt, macht Widmerpool zum Gegenspieler aller Hüter des Herkömmlichen, Eleganten und Bewährten, die er so wie eben wie Jenkins vor den Kopf stößt - ein englischer Lopachin, zupackend und noch im Smoking hemdsärmelig, der jeden Kirschgarten gern abholzt, wenn sich auf diese Art Geschäfte machen lassen.
Das ist die gesellschaftliche Grundspannung, nicht anders als in Tschechows melancholischer Komödie, die den gewaltigen Erzählkosmos, den Powell über zwölf Bände entfaltet, zusammenhält. "Ein Tanz zur Musik der Zeit", erschienen in den Jahren 1951 bis 1976, ist ein erzählerisches Großprojekt, das vorsätzlich nicht nur auf gängige Plotmuster und erwartbare Spannungselemente verzichtet, sondern auch die eigene Monumentalität durch einen ungezwungenen und sehr vertraulichen, aber dennoch stets diskreten Kammerton gepflegter Unterhaltung überspielt. Ebendarin zeigt sich wahres Understatement: dass es die Anstrengung, die einer Großleistung zugrunde liegen muss, nicht preisgibt. Umso lauter dürfen wir als Nutznießer und Leser das großartige Engagement des Übersetzers Heinz Feldmann sowie des Berliner Elfenbein Verlags rühmen, diesen nahezu vergessenen Gipfeltext des 20. Jahrhunderts jetzt endlich vollständig auf Deutsch, dazu in schöner Aufmachung, zugänglich zu machen. Nach einem ersten Anlauf in den achtziger Jahren ist nun der Neustart der gesamten Serie glänzend gelungen; fünf Bände liegen vor, die weiteren sollen halbjährlich folgen: ein Roman-fleuve der Meisterklasse, ein Fest feinsinniger Erzählkunst!
Der Titel des gesamten Zyklus verweist auf ein Gemälde von Nicholas Poussin von 1634, in einer Londoner Privatsammlung befindlich, das dem rückschauenden Erzähler in den Sinn kommt, als er Szenen seines Lebens in Erinnerung Revue passieren lässt. Gleich auf den ersten Seiten verwendet er ausufernd schöne "Gedanken an das irdische Leben: an die Menschen, wie sie, nach außen gewandt wie die Jahreszeiten, sich Hand in Hand in verschlungenem Rhythmus bewegen: wie sie langsam, methodisch und manchmal leicht unsicher schreiten in Wendungen, die erkennbare Formen annehmen, oder wie sie ausbrechen in wilde, scheinbar sinnlose Drehsprünge, während ihre Partner verschwinden, nur um dann wieder zu erscheinen und erneut dem Schaustück eine Struktur zu geben; wie sie unfähig sind, die Melodie, und unfähig vielleicht auch, die Schritte des Tanzes zu bestimmen."
Das ist zugleich die Selbstbeschreibung der Erzählstrukturen und -verfahren, die auf den folgenden mehr als 3000 Seiten aufgeboten werden - mit hunderten Figuren, unzähligen Zusammenkünften, in ständig wechselnden Verbindungen und Konstellationen - und uns sehr bald mit immer stärkerem Sog mitreißen. Anfangs versteht man gewiss kaum, in welchen Schleifen oder Wendungen sich Jenkins' Geschichte anlässt, und weiß nicht, nach welchem Rhythmus sich seine ausschweifenden Erinnerungen gliedern. Je länger wir ihm jedoch folgen, desto mehr zieht uns seine Erzählbewegung mit, genau wie Tanzschritte, die man unauffällig, fast schon unwillkürlich durch einen Tanzpartner erlernt, und desto williger überlässt man sich bald solcher Führung, bis sie einen schließlich rückhaltlos mitreißt.
Dabei ist das Geschehen, jedenfalls der bislang vorliegenden Bände, denkbar ereignisarm. Sie umfassen die Zwischenkriegszeit der zwanziger und dreißiger Jahre. Jenkins, wie sein Autor Jahrgang 1905, verbringt die prägenden Jugendjahre erst in Eton, dann in Oxford, geht anschließend ins Londoner Verlagsleben, schreibt einen Roman und verdingt sich als Skriptwriter beim Film. Auch wenn dabei gewisse Vorfälle und Unfälle nicht ausbleiben, ist deren Schilderung doch zumeist ziemlich einsilbig und folgenlos. Viel breiteren Raum nehmen die Gesellschaftspanoramen, die er aufrollt, ein: Dinner Partys auf dem Herrenhaus, Cocktail Partys in Belgravia, Tanz- und Teegesellschaften in Mayfair oder auch mal Soho, Ausflüge mit dem Automobil, Klassentreffen im "Ritz". Man kennt sich hier, auch wenn man sich noch nie begegnet ist, weil man doch immerhin von der Familie weiß und damit schon die wichtigste Gewähr zur Einordnung von Unbekannten hat. All das wird vielstimmig eingefangen und vom teilnehmenden Beobachter mit Reden, Gesten oder Blicken, so verfänglich oder unauffällig sie auch sein mögen, wunderbar vermittelt - getreu jener Maxime, die Oscar Wilde einst für die eigentliche Lebenskunst ausgab: nur Konversation, keine Handlung!
Was dem Autor Anthony Powell (1905 bis 2000) lange als verstockter Konservativismus vorgehalten wurde - und was wohl auch dazu geführt hat, dass sein Werk jahrzehntelang im Schatten der modernistischen Avantgarde rechts liegengelassen wurde -, das entpuppt sich daher hier als Ausdruck eines Anstands, der vor jeder Kleinigkeit Respekt hat. So setzt sich denn sein großes, zunehmend detailgesättigtes Gesellschaftsbild aus kleinsten Facetten zusammen, die erst in der erzählerischen Reflexion Bedeutsamkeit erlangen, da sie oft Unscheinbares zu betreffen scheinen. Das titelgebende Poussin-Gemälde beispielsweise kommt dem Erzähler in den Sinn, als er Monteure bei Straßenbauarbeiten beobachtet - eine Diskrepanz zwischen Anlass und Bedeutung, die für sein Verfahren charakteristisch ist und uns eben dadurch einnimmt, dass wir durchweg zum eigenen Mitvollzug - förmlich zum Mittanzen - der Reflexionsbewegung aufgefordert bleiben.
Denn Powells Erzählkunst liegt nicht zuletzt im Ungesagten, Ausgesparten, vielleicht auch Unsagbaren, das man nur selbst rekonstruieren kann. Symptomatisch dafür ist vor allem die Zentralfigur, der Erzähler, dem wir ja eigentlich am nächsten stehen sollten und der sich unserer Neugier doch aufs faszinierendste entzieht. Ganz Seismograph feinster sozialer Erschütterungen, gibt er von seinem eigenen Innenleben nur sehr wenig preis. Zwar werden erste pubertäre Verlegen- und Verliebtheiten getreulich übermittelt, ebenso wie eine erste glühende, wenngleich verschwiegene Beziehung zur verheirateten Schwester eines Schulfreunds. Doch die zentralen Beziehungsszenen, Erregungsmomente oder Wendepunkte im Gedanken- und Gefühlsleben, wie Selbsterzähler sie uns seit Rousseaus "Bekenntnissen" sonst auszubreiten pflegen, bleiben unerzählt - und lassen sich nur umso eindringlicher ausmalen.
Auch in der empfindlichen Balance zwischen Bekenntnis und Klatsch, Selbstentblößung und Bloßstellung anderer, behält Powell alias Jenkins also unbeirrbar Anstand und folgt, bei aller Lust zum Plaudern, einer ungeschriebenen Regel stiller Diskretion. In dieser Weise zeugt sein ganzes Werk von tadelloser Eleganz. Wer lieber schnell zur Sache kommt - und gleich zum Essen reingeht -, wird zweifellos enttäuscht. Wer allerdings die wahre Lust im Vorspiel findet, wird davon selten so beglückt wie hier.
TOBIAS DÖRING
Anthony Powell: "Ein Tanz
zur Musik der Zeit".
Bislang erschienen: Bd. 1: "Eine Frage der Erziehung", 255 S., Bd. 2: "Tendenz steigend", 294 S., Bd. 3: "Die Welt des Wechsels", 234 S., Bd. 4: "Bei Lady Molly", 262 S., Bd. 5: "Casanovas chinesisches Restaurant", 256 S. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Elfenbein Verlag, Berlin 2016. Geb., je 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Werk, das lange im Schatten der modernen Avantgarde übersehen wurde, entpuppt sich als Gipfeltext des zwanzigsten Jahrhunderts: Anthony Powells "Tanz zur Musik der Zeit" erscheint erstmals vollständig auf Deutsch.
Die stärksten Regeln einer besseren Gesellschaft sind stets ungeschriebene, denn ihre Einhaltung zeigt zuverlässig, wer eigentlich dazugehört. Was nicht eigens gesagt, geschweige denn geschrieben werden muss, verbindet alle, die es wissen, auf das selbstverständlichste und stellt die Außenseiter, Aufsteiger und Möchtegern-Mitglieder, die darüber stolpern, schnellstens und empfindlich bloß. Da gibt es etwa jene unbestimmte, aber unverzichtbare Zeitspanne vor dem Essen, da man den Appetit noch zügelt und sich bei einem guten Drink der leichten Konversation mit Tischnachbarn hingibt: Wer die versäumt oder verletzt, gibt allzu deutlich zu verstehen, dass Nahrungsaufnahme ihm wichtiger als die Geselligkeit beim Essen ist und schließt sich damit, ob unbedarft oder unwillig, aus den eleganten Kreisen aus. Kingsley Amis meinte daher einmal, dass der niederschmetterndste Ausdruck im Englischen die brutale Aufforderung "Wir können gleich zum Essen reingehen" sei, eben weil sie alle Gäste um den Genuss zweckfreier Unterhaltung bringt. Nur plumpe Geister, denen feine Unterschiede fremd sind, können ernsthaft meinen, dass solch ein Sittenbruch belanglos ist.
Diese Erfahrung macht auch Nicholas Jenkins, Erzähler und Alter Ego des englischen Gesellschaftsautors Anthony Powell. Ein alter Bekannter aus gemeinsamen Schultagen in Eton namens Widmerpool, etwas älter und schon länger im Geschäftsleben der City etabliert, lädt ihn zum Lunch in seinen Club, versagt dann aber nicht nur das gehörige Glas Sherry, sondern ordert auch bei Tisch nichts anderes als etwas kalte Zunge und ein Wasser. Offensichtlich ist er fest entschlossen, die Zusammenkunft so zügig wie pragmatisch hinter sich zu bringen. Der Affront bleibt nicht unbemerkt, wird aber - und hierin zeigt sich wahre Kinderstube - mit englischer Gelassenheit bewältigt, wenn Jenkins darauf lapidar erklärt: "Ich bestellte alles, was ich angesichts seiner eigenen Genügsamkeit mit einigem Anstand bestellen konnte." Wer eine soziale Krise so beherrscht wie unauffällig löst, entlarvt sein dreistes Gegenüber umstandslos als Parvenü.
Die Szene ist bezeichnend für Powells epochalen Romanzyklus. Sie stammt aus dem Roman "Bei Lady Molly", dem vierten Band der Folge, angesiedelt Mitte der dreißiger Jahre, der schon in seinem Titel die soziale Form gehobener Gesellschaften, die den gesamten Zyklus prägt, ankündigt. Widmerpool, obgleich mit den erforderlichen Weihen einer elitären Internatserziehung ausgestattet, wie sie für England nun einmal dazugehört, ist hier wie stets der Außenstehende, Ungeschliffene und wohl auch Unbekümmerte, der dem Erzähler und allen seinesgleichen zu verstehen gibt, wovon sie sich absetzen wollen. Sein Vater hat das große Geld, das ihm einst das Entree in deren Kreise bot, ausgerechnet im Jauchehandel gemacht, einer gewiss nützlichen und für die Agrarwirtschaft unverzichtbaren Tätigkeit, aber selbstverständlich einer, über die man tunlichst schweigt. Dass solche Regeln ihn nicht kümmern, ja, dass er sie nur umso lustvoller missachtet, je mehr ihn sein geschäftlicher Erfolg auch in der höheren Gesellschaft voranbringt, macht Widmerpool zum Gegenspieler aller Hüter des Herkömmlichen, Eleganten und Bewährten, die er so wie eben wie Jenkins vor den Kopf stößt - ein englischer Lopachin, zupackend und noch im Smoking hemdsärmelig, der jeden Kirschgarten gern abholzt, wenn sich auf diese Art Geschäfte machen lassen.
Das ist die gesellschaftliche Grundspannung, nicht anders als in Tschechows melancholischer Komödie, die den gewaltigen Erzählkosmos, den Powell über zwölf Bände entfaltet, zusammenhält. "Ein Tanz zur Musik der Zeit", erschienen in den Jahren 1951 bis 1976, ist ein erzählerisches Großprojekt, das vorsätzlich nicht nur auf gängige Plotmuster und erwartbare Spannungselemente verzichtet, sondern auch die eigene Monumentalität durch einen ungezwungenen und sehr vertraulichen, aber dennoch stets diskreten Kammerton gepflegter Unterhaltung überspielt. Ebendarin zeigt sich wahres Understatement: dass es die Anstrengung, die einer Großleistung zugrunde liegen muss, nicht preisgibt. Umso lauter dürfen wir als Nutznießer und Leser das großartige Engagement des Übersetzers Heinz Feldmann sowie des Berliner Elfenbein Verlags rühmen, diesen nahezu vergessenen Gipfeltext des 20. Jahrhunderts jetzt endlich vollständig auf Deutsch, dazu in schöner Aufmachung, zugänglich zu machen. Nach einem ersten Anlauf in den achtziger Jahren ist nun der Neustart der gesamten Serie glänzend gelungen; fünf Bände liegen vor, die weiteren sollen halbjährlich folgen: ein Roman-fleuve der Meisterklasse, ein Fest feinsinniger Erzählkunst!
Der Titel des gesamten Zyklus verweist auf ein Gemälde von Nicholas Poussin von 1634, in einer Londoner Privatsammlung befindlich, das dem rückschauenden Erzähler in den Sinn kommt, als er Szenen seines Lebens in Erinnerung Revue passieren lässt. Gleich auf den ersten Seiten verwendet er ausufernd schöne "Gedanken an das irdische Leben: an die Menschen, wie sie, nach außen gewandt wie die Jahreszeiten, sich Hand in Hand in verschlungenem Rhythmus bewegen: wie sie langsam, methodisch und manchmal leicht unsicher schreiten in Wendungen, die erkennbare Formen annehmen, oder wie sie ausbrechen in wilde, scheinbar sinnlose Drehsprünge, während ihre Partner verschwinden, nur um dann wieder zu erscheinen und erneut dem Schaustück eine Struktur zu geben; wie sie unfähig sind, die Melodie, und unfähig vielleicht auch, die Schritte des Tanzes zu bestimmen."
Das ist zugleich die Selbstbeschreibung der Erzählstrukturen und -verfahren, die auf den folgenden mehr als 3000 Seiten aufgeboten werden - mit hunderten Figuren, unzähligen Zusammenkünften, in ständig wechselnden Verbindungen und Konstellationen - und uns sehr bald mit immer stärkerem Sog mitreißen. Anfangs versteht man gewiss kaum, in welchen Schleifen oder Wendungen sich Jenkins' Geschichte anlässt, und weiß nicht, nach welchem Rhythmus sich seine ausschweifenden Erinnerungen gliedern. Je länger wir ihm jedoch folgen, desto mehr zieht uns seine Erzählbewegung mit, genau wie Tanzschritte, die man unauffällig, fast schon unwillkürlich durch einen Tanzpartner erlernt, und desto williger überlässt man sich bald solcher Führung, bis sie einen schließlich rückhaltlos mitreißt.
Dabei ist das Geschehen, jedenfalls der bislang vorliegenden Bände, denkbar ereignisarm. Sie umfassen die Zwischenkriegszeit der zwanziger und dreißiger Jahre. Jenkins, wie sein Autor Jahrgang 1905, verbringt die prägenden Jugendjahre erst in Eton, dann in Oxford, geht anschließend ins Londoner Verlagsleben, schreibt einen Roman und verdingt sich als Skriptwriter beim Film. Auch wenn dabei gewisse Vorfälle und Unfälle nicht ausbleiben, ist deren Schilderung doch zumeist ziemlich einsilbig und folgenlos. Viel breiteren Raum nehmen die Gesellschaftspanoramen, die er aufrollt, ein: Dinner Partys auf dem Herrenhaus, Cocktail Partys in Belgravia, Tanz- und Teegesellschaften in Mayfair oder auch mal Soho, Ausflüge mit dem Automobil, Klassentreffen im "Ritz". Man kennt sich hier, auch wenn man sich noch nie begegnet ist, weil man doch immerhin von der Familie weiß und damit schon die wichtigste Gewähr zur Einordnung von Unbekannten hat. All das wird vielstimmig eingefangen und vom teilnehmenden Beobachter mit Reden, Gesten oder Blicken, so verfänglich oder unauffällig sie auch sein mögen, wunderbar vermittelt - getreu jener Maxime, die Oscar Wilde einst für die eigentliche Lebenskunst ausgab: nur Konversation, keine Handlung!
Was dem Autor Anthony Powell (1905 bis 2000) lange als verstockter Konservativismus vorgehalten wurde - und was wohl auch dazu geführt hat, dass sein Werk jahrzehntelang im Schatten der modernistischen Avantgarde rechts liegengelassen wurde -, das entpuppt sich daher hier als Ausdruck eines Anstands, der vor jeder Kleinigkeit Respekt hat. So setzt sich denn sein großes, zunehmend detailgesättigtes Gesellschaftsbild aus kleinsten Facetten zusammen, die erst in der erzählerischen Reflexion Bedeutsamkeit erlangen, da sie oft Unscheinbares zu betreffen scheinen. Das titelgebende Poussin-Gemälde beispielsweise kommt dem Erzähler in den Sinn, als er Monteure bei Straßenbauarbeiten beobachtet - eine Diskrepanz zwischen Anlass und Bedeutung, die für sein Verfahren charakteristisch ist und uns eben dadurch einnimmt, dass wir durchweg zum eigenen Mitvollzug - förmlich zum Mittanzen - der Reflexionsbewegung aufgefordert bleiben.
Denn Powells Erzählkunst liegt nicht zuletzt im Ungesagten, Ausgesparten, vielleicht auch Unsagbaren, das man nur selbst rekonstruieren kann. Symptomatisch dafür ist vor allem die Zentralfigur, der Erzähler, dem wir ja eigentlich am nächsten stehen sollten und der sich unserer Neugier doch aufs faszinierendste entzieht. Ganz Seismograph feinster sozialer Erschütterungen, gibt er von seinem eigenen Innenleben nur sehr wenig preis. Zwar werden erste pubertäre Verlegen- und Verliebtheiten getreulich übermittelt, ebenso wie eine erste glühende, wenngleich verschwiegene Beziehung zur verheirateten Schwester eines Schulfreunds. Doch die zentralen Beziehungsszenen, Erregungsmomente oder Wendepunkte im Gedanken- und Gefühlsleben, wie Selbsterzähler sie uns seit Rousseaus "Bekenntnissen" sonst auszubreiten pflegen, bleiben unerzählt - und lassen sich nur umso eindringlicher ausmalen.
Auch in der empfindlichen Balance zwischen Bekenntnis und Klatsch, Selbstentblößung und Bloßstellung anderer, behält Powell alias Jenkins also unbeirrbar Anstand und folgt, bei aller Lust zum Plaudern, einer ungeschriebenen Regel stiller Diskretion. In dieser Weise zeugt sein ganzes Werk von tadelloser Eleganz. Wer lieber schnell zur Sache kommt - und gleich zum Essen reingeht -, wird zweifellos enttäuscht. Wer allerdings die wahre Lust im Vorspiel findet, wird davon selten so beglückt wie hier.
TOBIAS DÖRING
Anthony Powell: "Ein Tanz
zur Musik der Zeit".
Bislang erschienen: Bd. 1: "Eine Frage der Erziehung", 255 S., Bd. 2: "Tendenz steigend", 294 S., Bd. 3: "Die Welt des Wechsels", 234 S., Bd. 4: "Bei Lady Molly", 262 S., Bd. 5: "Casanovas chinesisches Restaurant", 256 S. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Elfenbein Verlag, Berlin 2016. Geb., je 22,- [Euro].
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