Der zwölfbändige Zyklus "Ein Tanz zur Musik der Zeit" - aufgrund seiner inhaltlichen wie formalen Gestaltung immer wieder mit Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" verglichen - gilt als das Hauptwerk des britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von dem gleichnamigen Gemälde des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich-Erzählers Jenkins - der durch so manche biografische Parallele wie Powells Alter Ego anmutet - bietet der "Tanz" eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und aufschlussreichen Einblick geben in die Gedankenwelt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten. Der historische Hintergrund scheint dabei immer wieder überraschend schlaglichtartig auf.In deutscher Sprache ist Powells "Tanz" recht unbekannt geblieben, mangelte es doch bisher an einer Übersetzung des gesamten Zyklus. Drei Anläufe hat es in der Vergangenheit gegeben, alle scheiterten. Die hier vorgestellte Ausgabe startete im Oktober 2015 mit den Bänden 1 bis 4. Sie basiert auf den in den 80er Jahren von Heinz Feldmann (geb. 1935) angefertigten und neu durchgesehenen ersten drei Teilen. Alle Bände stammen aus der Feder desselben Übersetzers, über den Anthony Powell in seinem Tagebuch vermerkte: "I am lucky to have him as a translator."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2018Romanzyklus zu besichtigen
Im Dutzend besser: Anthony Powell komplett auf Deutsch
Ein langer Tanz geht zu Ende, ein "Tanz zur Musik der Zeit", wie Anthony Powell seinen 1951 begonnenen und im Verlauf eines Vierteljahrhunderts fertiggestellten zwölfbändigen Romanzyklus genannt hat. Das ist aber noch wenig gegen die Dauer der deutschen Übersetzungsgeschichte. Der vierte Band, "At Lady Molly's", erschien in Katharina Fockes Übersetzung schon 1961 bei Cotta, aber dann war erst einmal wieder Schluss, bis Heinz Feldmann 1985 beim Münchner Ehrenwirth Verlag eine Gesamtübersetzung begann, die jedoch nach den drei ersten Teilen wegen Erfolglosigkeit abbrach. Da lebte der 1905 geborene Powell noch, so dass sich der deutsche Übersetzer mit ihm hatte austauschen können und das Unternehmen auch ohne Verlag weiter vorantrieb, aber dass der heute selbst dreiundachtzigjährige Feldmann es nach 33 Jahren noch erleben würde, dass seine fast 3500 Seiten umfassende Gesamtübersetzung publiziert werden würde, war nicht zu erwarten. Auch noch nicht, als der Berliner Elfenbein Verlag vor drei Jahren genau dies ankündigte.
Denn wer sollte sich in Deutschland für eine Lebensgeschichte aus der englischen upper class interessieren, wie Powell sie nahe am eigenen Leben erzählt hat? Powell trieb den Bericht eines gewissen Nicolas Jenkins, der als Ich-Erzähler mit dem Autor die wichtigsten biographischen Eckdaten teilt, bis ins Jahr 1971 fort, so dass die Romanhandlung immer näher an die Gegenwart ihrer Leser kam. Heute ist dieses Großbritannien historisch, wobei der Blick auf die im Zyklus erzählten Idiosynkrasien hilfreich sein kann, um Brexit-Britannien zu verstehen. In die Europäischen Gemeinschaften traten die Briten ja erst 1973 ein; "Ein Tanz zur Musik der Zeit" war also der Schwanengesang auf ein eigentümliches Land und dessen tradierte Führungsschicht.
Deshalb sollte man das Buch lesen. Aber auch, weil es extrem unterhaltsam und außerordentlich klug ist. Wenn auch komplex: Die Protagonistenzahl geht in die Hunderte, und selbst im jetzt auf Deutsch erschienenen letzten Band, "Der Klang geheimer Harmonien", tauchen noch neue Figuren auf wie etwa Scorpio Murtlock, der Begründer eines religiösen Kults im Geist der Hippie-Bewegung. In diesem spirituellen und erotischen Netz verstrickt sich die heimliche Hauptfigur des Zyklus, Kenneth Widmerpool, Karrierist, Antagonist von Nicolas Jenkins und schon immer der wahre Liebling der Powell-Leser. Es ist wie beim Baron Charlus in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" - die ambivalenten Figuren sind die interessanteren.
Damit aber genug zum oft totgerittenen Vergleich von Powell und Proust, die sich nirgendwo so nahe sind wie im Lexikon. Dank Heinz Feldmann haben wir nun das große englische Epos des zwanzigsten Jahrhunderts auf Deutsch, und wäre das Lektorat sorgfältig gewesen, wären uns einige unbeholfene Anglizismen erspart geblieben - im zwölften Band nun etwa "in kaltem Blut" statt "kaltblütig". Aber wer würde daran mäkeln wollen, wo es doch sonst so viel zu entdecken gibt? Etwa einen Kniefall Widmerpools, der nicht zufällig in der Romanhandlung Anfang 1971 stattfindet, wenige Monate nach dem von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal für die Toten des Warschauer-Getto-Aufstands. Dass Powell diese weltweit gefeierte Geste vom Buhmann seines Buchs ausführen lässt, wirft ein grelles Licht auf die ideologischen Hintergründe des Romans. Dazu ist im gerade auch auf Deutsch erschienenen Handbuch "Aufforderung zum Tanz", in dem Hilary Spurling die im Zyklus auftauchenden Personen, Orte und Kunstwerke versammelt und erläutert hat, nichts zu finden. Der Tanz um den Text kann jetzt richtig losgehen. Morgen wird in Köln auf einem Bankett anlässlich Powells achtzehnten Todestages die deutsche Sektion der nach ihm benannten Gesellschaft damit fortfahren. Es bleibt weiter viel zu tun. Und erfreulich viel zu lesen.
ANDREAS PLATTHAUS.
Anthony Powell: "Der Klang geheimer Harmonien". Ein Tanz zur Musik der Zeit, Band 12.
Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Elfenbein Verlag, Berlin 2018. 310 S., geb., 22,- [Euro]. Bei Gesamtabnahme des ganzen Zyklus inklusive des Begleitbandes von Hilary Spurling bis zum 31. Dezember 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Dutzend besser: Anthony Powell komplett auf Deutsch
Ein langer Tanz geht zu Ende, ein "Tanz zur Musik der Zeit", wie Anthony Powell seinen 1951 begonnenen und im Verlauf eines Vierteljahrhunderts fertiggestellten zwölfbändigen Romanzyklus genannt hat. Das ist aber noch wenig gegen die Dauer der deutschen Übersetzungsgeschichte. Der vierte Band, "At Lady Molly's", erschien in Katharina Fockes Übersetzung schon 1961 bei Cotta, aber dann war erst einmal wieder Schluss, bis Heinz Feldmann 1985 beim Münchner Ehrenwirth Verlag eine Gesamtübersetzung begann, die jedoch nach den drei ersten Teilen wegen Erfolglosigkeit abbrach. Da lebte der 1905 geborene Powell noch, so dass sich der deutsche Übersetzer mit ihm hatte austauschen können und das Unternehmen auch ohne Verlag weiter vorantrieb, aber dass der heute selbst dreiundachtzigjährige Feldmann es nach 33 Jahren noch erleben würde, dass seine fast 3500 Seiten umfassende Gesamtübersetzung publiziert werden würde, war nicht zu erwarten. Auch noch nicht, als der Berliner Elfenbein Verlag vor drei Jahren genau dies ankündigte.
Denn wer sollte sich in Deutschland für eine Lebensgeschichte aus der englischen upper class interessieren, wie Powell sie nahe am eigenen Leben erzählt hat? Powell trieb den Bericht eines gewissen Nicolas Jenkins, der als Ich-Erzähler mit dem Autor die wichtigsten biographischen Eckdaten teilt, bis ins Jahr 1971 fort, so dass die Romanhandlung immer näher an die Gegenwart ihrer Leser kam. Heute ist dieses Großbritannien historisch, wobei der Blick auf die im Zyklus erzählten Idiosynkrasien hilfreich sein kann, um Brexit-Britannien zu verstehen. In die Europäischen Gemeinschaften traten die Briten ja erst 1973 ein; "Ein Tanz zur Musik der Zeit" war also der Schwanengesang auf ein eigentümliches Land und dessen tradierte Führungsschicht.
Deshalb sollte man das Buch lesen. Aber auch, weil es extrem unterhaltsam und außerordentlich klug ist. Wenn auch komplex: Die Protagonistenzahl geht in die Hunderte, und selbst im jetzt auf Deutsch erschienenen letzten Band, "Der Klang geheimer Harmonien", tauchen noch neue Figuren auf wie etwa Scorpio Murtlock, der Begründer eines religiösen Kults im Geist der Hippie-Bewegung. In diesem spirituellen und erotischen Netz verstrickt sich die heimliche Hauptfigur des Zyklus, Kenneth Widmerpool, Karrierist, Antagonist von Nicolas Jenkins und schon immer der wahre Liebling der Powell-Leser. Es ist wie beim Baron Charlus in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" - die ambivalenten Figuren sind die interessanteren.
Damit aber genug zum oft totgerittenen Vergleich von Powell und Proust, die sich nirgendwo so nahe sind wie im Lexikon. Dank Heinz Feldmann haben wir nun das große englische Epos des zwanzigsten Jahrhunderts auf Deutsch, und wäre das Lektorat sorgfältig gewesen, wären uns einige unbeholfene Anglizismen erspart geblieben - im zwölften Band nun etwa "in kaltem Blut" statt "kaltblütig". Aber wer würde daran mäkeln wollen, wo es doch sonst so viel zu entdecken gibt? Etwa einen Kniefall Widmerpools, der nicht zufällig in der Romanhandlung Anfang 1971 stattfindet, wenige Monate nach dem von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal für die Toten des Warschauer-Getto-Aufstands. Dass Powell diese weltweit gefeierte Geste vom Buhmann seines Buchs ausführen lässt, wirft ein grelles Licht auf die ideologischen Hintergründe des Romans. Dazu ist im gerade auch auf Deutsch erschienenen Handbuch "Aufforderung zum Tanz", in dem Hilary Spurling die im Zyklus auftauchenden Personen, Orte und Kunstwerke versammelt und erläutert hat, nichts zu finden. Der Tanz um den Text kann jetzt richtig losgehen. Morgen wird in Köln auf einem Bankett anlässlich Powells achtzehnten Todestages die deutsche Sektion der nach ihm benannten Gesellschaft damit fortfahren. Es bleibt weiter viel zu tun. Und erfreulich viel zu lesen.
ANDREAS PLATTHAUS.
Anthony Powell: "Der Klang geheimer Harmonien". Ein Tanz zur Musik der Zeit, Band 12.
Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Elfenbein Verlag, Berlin 2018. 310 S., geb., 22,- [Euro]. Bei Gesamtabnahme des ganzen Zyklus inklusive des Begleitbandes von Hilary Spurling bis zum 31. Dezember 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main