Der zwölfbändige Zyklus "Ein Tanz zur Musik der Zeit" - aufgrund seiner inhaltlichen wie formalen Gestaltung immer wieder mit Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" verglichen - gilt als das Hauptwerk des britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von dem gleichnamigen Bild des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich-Erzählers Jenkins - der durch so manche biografische Parallele wie Powells Alter Ego anmutet - bietet der "Tanz" eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und aufschlussreichen Einblick geben in die Gedankenwelt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten. So eröffnet Powell seinen "Tanz" in dem Band "Eine Frage der Erziehung" mit Szenen der Jugend: Jenkins in der Abschlussklasse des College, während eines Sprachaufenthalts in Frankreich sowie beim Five O' Clock Tea seines Universitätsprofessors. Jahre später sehen wir ihn im zweiten Teil, "Tendenz: steigend", auf Bällen und Partys der Oberklasse, aber auch der Boheme, wo er neue und immer wieder alte Bekannte trifft - sowie erste Liebschaften erlebt. Geheimnisvolle spiritistische Sitzungen und Dinnerpartys kennzeichnen den dritten Teil, "Die Welt des Wechsels", bis im vierten, "Bei Lady Molly", der Erzähler während eines Wochenendaufenthalts ein Schloss besucht, wo er seine zukünftige Frau kennenlernt. Der historische Hintergrund, die Jahre zwischen 1921 und 1934, scheint dabei immer wieder überraschend schlaglichtartig auf.
In deutscher Sprache ist Powells "Tanz" recht unbekannt geblieben, mangelte es doch bisher an einer Übersetzung des gesamten Zyklus. Drei Anläufe hat es in der Vergangenheit gegeben, alle scheiterten. Die hier angekündigte Ausgabe startet mit den Bänden 1 bis 4. Sie basiert auf den in den 80er Jahren von Heinz Feldmann (geb. 1935) angefertigten und noch einmal vollständig durchgesehenen ersten drei Teilen. Die Bände 5 bis 12 werden in halbjährlichem Rhythmus zwischen Frühjahr 2016 und Herbst 2019 erscheinen - aus der Feder desselben Übersetzers, über den Anthony Powell in seinem Tagebuch vermerkte: "I am lucky to have him as a translator."
In deutscher Sprache ist Powells "Tanz" recht unbekannt geblieben, mangelte es doch bisher an einer Übersetzung des gesamten Zyklus. Drei Anläufe hat es in der Vergangenheit gegeben, alle scheiterten. Die hier angekündigte Ausgabe startet mit den Bänden 1 bis 4. Sie basiert auf den in den 80er Jahren von Heinz Feldmann (geb. 1935) angefertigten und noch einmal vollständig durchgesehenen ersten drei Teilen. Die Bände 5 bis 12 werden in halbjährlichem Rhythmus zwischen Frühjahr 2016 und Herbst 2019 erscheinen - aus der Feder desselben Übersetzers, über den Anthony Powell in seinem Tagebuch vermerkte: "I am lucky to have him as a translator."
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Anthony Powell war vom Scheitel bis zur Sohle ein englischer Tory, stellt Andreas Isenschmid klar. Seine Romane sind nichts anderes als in Fiktion verwandelte Upperclass-Memoiren, im Tode einer anekdotischen, spitz-ironischen Club-Konversation, ohne erkennbare Handlung. Und Isenschmid liebt das: Schlichtweg großartig, unwiderstehlich findet er die Romane um den Internatszögling Nick Jenkins, der im Laufe der zehn Bände von Hunderten von Figuren erzählt, denen er auf Parties, bei Abendessen oder Ausflügen aufs Land begegnet ist. Was den Rezensenten neben dem minimalistischen Stil besonders für Powell einnimmt, ist sein von grenzenloser Neugier angetriebener Geist, der viel wissen wolle, gern auch das Seltsame und Exzentrische, aber eben nicht alles. Er kann auch Dinge sein lassen. Vor allem den Liebhabern langer Romanreisen kann Isenschmid das Werk empfehlen: Als Geschichtsschreibung besser als Balzac, weniger überfrachtet als Proust und natürlich lange nicht so exhibitionistisch wie Knausgard. Ausdrücklich lobt Andreas Isenschmid den Wagemut des Verlegers Ingo Drzecnik, der die ersten vier von zehn Bänden gestemmt hat, sowie die elegante Übersetzung Heinz Feldmanns.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2016Die Musik dieses Erzählers ist mitreißend
Ein Werk, das lange im Schatten der modernen Avantgarde übersehen wurde, entpuppt sich als Gipfeltext des zwanzigsten Jahrhunderts: Anthony Powells "Tanz zur Musik der Zeit" erscheint erstmals vollständig auf Deutsch.
Die stärksten Regeln einer besseren Gesellschaft sind stets ungeschriebene, denn ihre Einhaltung zeigt zuverlässig, wer eigentlich dazugehört. Was nicht eigens gesagt, geschweige denn geschrieben werden muss, verbindet alle, die es wissen, auf das selbstverständlichste und stellt die Außenseiter, Aufsteiger und Möchtegern-Mitglieder, die darüber stolpern, schnellstens und empfindlich bloß. Da gibt es etwa jene unbestimmte, aber unverzichtbare Zeitspanne vor dem Essen, da man den Appetit noch zügelt und sich bei einem guten Drink der leichten Konversation mit Tischnachbarn hingibt: Wer die versäumt oder verletzt, gibt allzu deutlich zu verstehen, dass Nahrungsaufnahme ihm wichtiger als die Geselligkeit beim Essen ist und schließt sich damit, ob unbedarft oder unwillig, aus den eleganten Kreisen aus. Kingsley Amis meinte daher einmal, dass der niederschmetterndste Ausdruck im Englischen die brutale Aufforderung "Wir können gleich zum Essen reingehen" sei, eben weil sie alle Gäste um den Genuss zweckfreier Unterhaltung bringt. Nur plumpe Geister, denen feine Unterschiede fremd sind, können ernsthaft meinen, dass solch ein Sittenbruch belanglos ist.
Diese Erfahrung macht auch Nicholas Jenkins, Erzähler und Alter Ego des englischen Gesellschaftsautors Anthony Powell. Ein alter Bekannter aus gemeinsamen Schultagen in Eton namens Widmerpool, etwas älter und schon länger im Geschäftsleben der City etabliert, lädt ihn zum Lunch in seinen Club, versagt dann aber nicht nur das gehörige Glas Sherry, sondern ordert auch bei Tisch nichts anderes als etwas kalte Zunge und ein Wasser. Offensichtlich ist er fest entschlossen, die Zusammenkunft so zügig wie pragmatisch hinter sich zu bringen. Der Affront bleibt nicht unbemerkt, wird aber - und hierin zeigt sich wahre Kinderstube - mit englischer Gelassenheit bewältigt, wenn Jenkins darauf lapidar erklärt: "Ich bestellte alles, was ich angesichts seiner eigenen Genügsamkeit mit einigem Anstand bestellen konnte." Wer eine soziale Krise so beherrscht wie unauffällig löst, entlarvt sein dreistes Gegenüber umstandslos als Parvenü.
Die Szene ist bezeichnend für Powells epochalen Romanzyklus. Sie stammt aus dem Roman "Bei Lady Molly", dem vierten Band der Folge, angesiedelt Mitte der dreißiger Jahre, der schon in seinem Titel die soziale Form gehobener Gesellschaften, die den gesamten Zyklus prägt, ankündigt. Widmerpool, obgleich mit den erforderlichen Weihen einer elitären Internatserziehung ausgestattet, wie sie für England nun einmal dazugehört, ist hier wie stets der Außenstehende, Ungeschliffene und wohl auch Unbekümmerte, der dem Erzähler und allen seinesgleichen zu verstehen gibt, wovon sie sich absetzen wollen. Sein Vater hat das große Geld, das ihm einst das Entree in deren Kreise bot, ausgerechnet im Jauchehandel gemacht, einer gewiss nützlichen und für die Agrarwirtschaft unverzichtbaren Tätigkeit, aber selbstverständlich einer, über die man tunlichst schweigt. Dass solche Regeln ihn nicht kümmern, ja, dass er sie nur umso lustvoller missachtet, je mehr ihn sein geschäftlicher Erfolg auch in der höheren Gesellschaft voranbringt, macht Widmerpool zum Gegenspieler aller Hüter des Herkömmlichen, Eleganten und Bewährten, die er so wie eben wie Jenkins vor den Kopf stößt - ein englischer Lopachin, zupackend und noch im Smoking hemdsärmelig, der jeden Kirschgarten gern abholzt, wenn sich auf diese Art Geschäfte machen lassen.
Das ist die gesellschaftliche Grundspannung, nicht anders als in Tschechows melancholischer Komödie, die den gewaltigen Erzählkosmos, den Powell über zwölf Bände entfaltet, zusammenhält. "Ein Tanz zur Musik der Zeit", erschienen in den Jahren 1951 bis 1976, ist ein erzählerisches Großprojekt, das vorsätzlich nicht nur auf gängige Plotmuster und erwartbare Spannungselemente verzichtet, sondern auch die eigene Monumentalität durch einen ungezwungenen und sehr vertraulichen, aber dennoch stets diskreten Kammerton gepflegter Unterhaltung überspielt. Ebendarin zeigt sich wahres Understatement: dass es die Anstrengung, die einer Großleistung zugrunde liegen muss, nicht preisgibt. Umso lauter dürfen wir als Nutznießer und Leser das großartige Engagement des Übersetzers Heinz Feldmann sowie des Berliner Elfenbein Verlags rühmen, diesen nahezu vergessenen Gipfeltext des 20. Jahrhunderts jetzt endlich vollständig auf Deutsch, dazu in schöner Aufmachung, zugänglich zu machen. Nach einem ersten Anlauf in den achtziger Jahren ist nun der Neustart der gesamten Serie glänzend gelungen; fünf Bände liegen vor, die weiteren sollen halbjährlich folgen: ein Roman-fleuve der Meisterklasse, ein Fest feinsinniger Erzählkunst!
Der Titel des gesamten Zyklus verweist auf ein Gemälde von Nicholas Poussin von 1634, in einer Londoner Privatsammlung befindlich, das dem rückschauenden Erzähler in den Sinn kommt, als er Szenen seines Lebens in Erinnerung Revue passieren lässt. Gleich auf den ersten Seiten verwendet er ausufernd schöne "Gedanken an das irdische Leben: an die Menschen, wie sie, nach außen gewandt wie die Jahreszeiten, sich Hand in Hand in verschlungenem Rhythmus bewegen: wie sie langsam, methodisch und manchmal leicht unsicher schreiten in Wendungen, die erkennbare Formen annehmen, oder wie sie ausbrechen in wilde, scheinbar sinnlose Drehsprünge, während ihre Partner verschwinden, nur um dann wieder zu erscheinen und erneut dem Schaustück eine Struktur zu geben; wie sie unfähig sind, die Melodie, und unfähig vielleicht auch, die Schritte des Tanzes zu bestimmen."
Das ist zugleich die Selbstbeschreibung der Erzählstrukturen und -verfahren, die auf den folgenden mehr als 3000 Seiten aufgeboten werden - mit hunderten Figuren, unzähligen Zusammenkünften, in ständig wechselnden Verbindungen und Konstellationen - und uns sehr bald mit immer stärkerem Sog mitreißen. Anfangs versteht man gewiss kaum, in welchen Schleifen oder Wendungen sich Jenkins' Geschichte anlässt, und weiß nicht, nach welchem Rhythmus sich seine ausschweifenden Erinnerungen gliedern. Je länger wir ihm jedoch folgen, desto mehr zieht uns seine Erzählbewegung mit, genau wie Tanzschritte, die man unauffällig, fast schon unwillkürlich durch einen Tanzpartner erlernt, und desto williger überlässt man sich bald solcher Führung, bis sie einen schließlich rückhaltlos mitreißt.
Dabei ist das Geschehen, jedenfalls der bislang vorliegenden Bände, denkbar ereignisarm. Sie umfassen die Zwischenkriegszeit der zwanziger und dreißiger Jahre. Jenkins, wie sein Autor Jahrgang 1905, verbringt die prägenden Jugendjahre erst in Eton, dann in Oxford, geht anschließend ins Londoner Verlagsleben, schreibt einen Roman und verdingt sich als Skriptwriter beim Film. Auch wenn dabei gewisse Vorfälle und Unfälle nicht ausbleiben, ist deren Schilderung doch zumeist ziemlich einsilbig und folgenlos. Viel breiteren Raum nehmen die Gesellschaftspanoramen, die er aufrollt, ein: Dinner Partys auf dem Herrenhaus, Cocktail Partys in Belgravia, Tanz- und Teegesellschaften in Mayfair oder auch mal Soho, Ausflüge mit dem Automobil, Klassentreffen im "Ritz". Man kennt sich hier, auch wenn man sich noch nie begegnet ist, weil man doch immerhin von der Familie weiß und damit schon die wichtigste Gewähr zur Einordnung von Unbekannten hat. All das wird vielstimmig eingefangen und vom teilnehmenden Beobachter mit Reden, Gesten oder Blicken, so verfänglich oder unauffällig sie auch sein mögen, wunderbar vermittelt - getreu jener Maxime, die Oscar Wilde einst für die eigentliche Lebenskunst ausgab: nur Konversation, keine Handlung!
Was dem Autor Anthony Powell (1905 bis 2000) lange als verstockter Konservativismus vorgehalten wurde - und was wohl auch dazu geführt hat, dass sein Werk jahrzehntelang im Schatten der modernistischen Avantgarde rechts liegengelassen wurde -, das entpuppt sich daher hier als Ausdruck eines Anstands, der vor jeder Kleinigkeit Respekt hat. So setzt sich denn sein großes, zunehmend detailgesättigtes Gesellschaftsbild aus kleinsten Facetten zusammen, die erst in der erzählerischen Reflexion Bedeutsamkeit erlangen, da sie oft Unscheinbares zu betreffen scheinen. Das titelgebende Poussin-Gemälde beispielsweise kommt dem Erzähler in den Sinn, als er Monteure bei Straßenbauarbeiten beobachtet - eine Diskrepanz zwischen Anlass und Bedeutung, die für sein Verfahren charakteristisch ist und uns eben dadurch einnimmt, dass wir durchweg zum eigenen Mitvollzug - förmlich zum Mittanzen - der Reflexionsbewegung aufgefordert bleiben.
Denn Powells Erzählkunst liegt nicht zuletzt im Ungesagten, Ausgesparten, vielleicht auch Unsagbaren, das man nur selbst rekonstruieren kann. Symptomatisch dafür ist vor allem die Zentralfigur, der Erzähler, dem wir ja eigentlich am nächsten stehen sollten und der sich unserer Neugier doch aufs faszinierendste entzieht. Ganz Seismograph feinster sozialer Erschütterungen, gibt er von seinem eigenen Innenleben nur sehr wenig preis. Zwar werden erste pubertäre Verlegen- und Verliebtheiten getreulich übermittelt, ebenso wie eine erste glühende, wenngleich verschwiegene Beziehung zur verheirateten Schwester eines Schulfreunds. Doch die zentralen Beziehungsszenen, Erregungsmomente oder Wendepunkte im Gedanken- und Gefühlsleben, wie Selbsterzähler sie uns seit Rousseaus "Bekenntnissen" sonst auszubreiten pflegen, bleiben unerzählt - und lassen sich nur umso eindringlicher ausmalen.
Auch in der empfindlichen Balance zwischen Bekenntnis und Klatsch, Selbstentblößung und Bloßstellung anderer, behält Powell alias Jenkins also unbeirrbar Anstand und folgt, bei aller Lust zum Plaudern, einer ungeschriebenen Regel stiller Diskretion. In dieser Weise zeugt sein ganzes Werk von tadelloser Eleganz. Wer lieber schnell zur Sache kommt - und gleich zum Essen reingeht -, wird zweifellos enttäuscht. Wer allerdings die wahre Lust im Vorspiel findet, wird davon selten so beglückt wie hier.
TOBIAS DÖRING
Anthony Powell: "Ein Tanz
zur Musik der Zeit".
Bislang erschienen: Bd. 1: "Eine Frage der Erziehung", 255 S., Bd. 2: "Tendenz steigend", 294 S., Bd. 3: "Die Welt des Wechsels", 234 S., Bd. 4: "Bei Lady Molly", 262 S., Bd. 5: "Casanovas chinesisches Restaurant", 256 S. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Elfenbein Verlag, Berlin 2016. Geb., je 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Werk, das lange im Schatten der modernen Avantgarde übersehen wurde, entpuppt sich als Gipfeltext des zwanzigsten Jahrhunderts: Anthony Powells "Tanz zur Musik der Zeit" erscheint erstmals vollständig auf Deutsch.
Die stärksten Regeln einer besseren Gesellschaft sind stets ungeschriebene, denn ihre Einhaltung zeigt zuverlässig, wer eigentlich dazugehört. Was nicht eigens gesagt, geschweige denn geschrieben werden muss, verbindet alle, die es wissen, auf das selbstverständlichste und stellt die Außenseiter, Aufsteiger und Möchtegern-Mitglieder, die darüber stolpern, schnellstens und empfindlich bloß. Da gibt es etwa jene unbestimmte, aber unverzichtbare Zeitspanne vor dem Essen, da man den Appetit noch zügelt und sich bei einem guten Drink der leichten Konversation mit Tischnachbarn hingibt: Wer die versäumt oder verletzt, gibt allzu deutlich zu verstehen, dass Nahrungsaufnahme ihm wichtiger als die Geselligkeit beim Essen ist und schließt sich damit, ob unbedarft oder unwillig, aus den eleganten Kreisen aus. Kingsley Amis meinte daher einmal, dass der niederschmetterndste Ausdruck im Englischen die brutale Aufforderung "Wir können gleich zum Essen reingehen" sei, eben weil sie alle Gäste um den Genuss zweckfreier Unterhaltung bringt. Nur plumpe Geister, denen feine Unterschiede fremd sind, können ernsthaft meinen, dass solch ein Sittenbruch belanglos ist.
Diese Erfahrung macht auch Nicholas Jenkins, Erzähler und Alter Ego des englischen Gesellschaftsautors Anthony Powell. Ein alter Bekannter aus gemeinsamen Schultagen in Eton namens Widmerpool, etwas älter und schon länger im Geschäftsleben der City etabliert, lädt ihn zum Lunch in seinen Club, versagt dann aber nicht nur das gehörige Glas Sherry, sondern ordert auch bei Tisch nichts anderes als etwas kalte Zunge und ein Wasser. Offensichtlich ist er fest entschlossen, die Zusammenkunft so zügig wie pragmatisch hinter sich zu bringen. Der Affront bleibt nicht unbemerkt, wird aber - und hierin zeigt sich wahre Kinderstube - mit englischer Gelassenheit bewältigt, wenn Jenkins darauf lapidar erklärt: "Ich bestellte alles, was ich angesichts seiner eigenen Genügsamkeit mit einigem Anstand bestellen konnte." Wer eine soziale Krise so beherrscht wie unauffällig löst, entlarvt sein dreistes Gegenüber umstandslos als Parvenü.
Die Szene ist bezeichnend für Powells epochalen Romanzyklus. Sie stammt aus dem Roman "Bei Lady Molly", dem vierten Band der Folge, angesiedelt Mitte der dreißiger Jahre, der schon in seinem Titel die soziale Form gehobener Gesellschaften, die den gesamten Zyklus prägt, ankündigt. Widmerpool, obgleich mit den erforderlichen Weihen einer elitären Internatserziehung ausgestattet, wie sie für England nun einmal dazugehört, ist hier wie stets der Außenstehende, Ungeschliffene und wohl auch Unbekümmerte, der dem Erzähler und allen seinesgleichen zu verstehen gibt, wovon sie sich absetzen wollen. Sein Vater hat das große Geld, das ihm einst das Entree in deren Kreise bot, ausgerechnet im Jauchehandel gemacht, einer gewiss nützlichen und für die Agrarwirtschaft unverzichtbaren Tätigkeit, aber selbstverständlich einer, über die man tunlichst schweigt. Dass solche Regeln ihn nicht kümmern, ja, dass er sie nur umso lustvoller missachtet, je mehr ihn sein geschäftlicher Erfolg auch in der höheren Gesellschaft voranbringt, macht Widmerpool zum Gegenspieler aller Hüter des Herkömmlichen, Eleganten und Bewährten, die er so wie eben wie Jenkins vor den Kopf stößt - ein englischer Lopachin, zupackend und noch im Smoking hemdsärmelig, der jeden Kirschgarten gern abholzt, wenn sich auf diese Art Geschäfte machen lassen.
Das ist die gesellschaftliche Grundspannung, nicht anders als in Tschechows melancholischer Komödie, die den gewaltigen Erzählkosmos, den Powell über zwölf Bände entfaltet, zusammenhält. "Ein Tanz zur Musik der Zeit", erschienen in den Jahren 1951 bis 1976, ist ein erzählerisches Großprojekt, das vorsätzlich nicht nur auf gängige Plotmuster und erwartbare Spannungselemente verzichtet, sondern auch die eigene Monumentalität durch einen ungezwungenen und sehr vertraulichen, aber dennoch stets diskreten Kammerton gepflegter Unterhaltung überspielt. Ebendarin zeigt sich wahres Understatement: dass es die Anstrengung, die einer Großleistung zugrunde liegen muss, nicht preisgibt. Umso lauter dürfen wir als Nutznießer und Leser das großartige Engagement des Übersetzers Heinz Feldmann sowie des Berliner Elfenbein Verlags rühmen, diesen nahezu vergessenen Gipfeltext des 20. Jahrhunderts jetzt endlich vollständig auf Deutsch, dazu in schöner Aufmachung, zugänglich zu machen. Nach einem ersten Anlauf in den achtziger Jahren ist nun der Neustart der gesamten Serie glänzend gelungen; fünf Bände liegen vor, die weiteren sollen halbjährlich folgen: ein Roman-fleuve der Meisterklasse, ein Fest feinsinniger Erzählkunst!
Der Titel des gesamten Zyklus verweist auf ein Gemälde von Nicholas Poussin von 1634, in einer Londoner Privatsammlung befindlich, das dem rückschauenden Erzähler in den Sinn kommt, als er Szenen seines Lebens in Erinnerung Revue passieren lässt. Gleich auf den ersten Seiten verwendet er ausufernd schöne "Gedanken an das irdische Leben: an die Menschen, wie sie, nach außen gewandt wie die Jahreszeiten, sich Hand in Hand in verschlungenem Rhythmus bewegen: wie sie langsam, methodisch und manchmal leicht unsicher schreiten in Wendungen, die erkennbare Formen annehmen, oder wie sie ausbrechen in wilde, scheinbar sinnlose Drehsprünge, während ihre Partner verschwinden, nur um dann wieder zu erscheinen und erneut dem Schaustück eine Struktur zu geben; wie sie unfähig sind, die Melodie, und unfähig vielleicht auch, die Schritte des Tanzes zu bestimmen."
Das ist zugleich die Selbstbeschreibung der Erzählstrukturen und -verfahren, die auf den folgenden mehr als 3000 Seiten aufgeboten werden - mit hunderten Figuren, unzähligen Zusammenkünften, in ständig wechselnden Verbindungen und Konstellationen - und uns sehr bald mit immer stärkerem Sog mitreißen. Anfangs versteht man gewiss kaum, in welchen Schleifen oder Wendungen sich Jenkins' Geschichte anlässt, und weiß nicht, nach welchem Rhythmus sich seine ausschweifenden Erinnerungen gliedern. Je länger wir ihm jedoch folgen, desto mehr zieht uns seine Erzählbewegung mit, genau wie Tanzschritte, die man unauffällig, fast schon unwillkürlich durch einen Tanzpartner erlernt, und desto williger überlässt man sich bald solcher Führung, bis sie einen schließlich rückhaltlos mitreißt.
Dabei ist das Geschehen, jedenfalls der bislang vorliegenden Bände, denkbar ereignisarm. Sie umfassen die Zwischenkriegszeit der zwanziger und dreißiger Jahre. Jenkins, wie sein Autor Jahrgang 1905, verbringt die prägenden Jugendjahre erst in Eton, dann in Oxford, geht anschließend ins Londoner Verlagsleben, schreibt einen Roman und verdingt sich als Skriptwriter beim Film. Auch wenn dabei gewisse Vorfälle und Unfälle nicht ausbleiben, ist deren Schilderung doch zumeist ziemlich einsilbig und folgenlos. Viel breiteren Raum nehmen die Gesellschaftspanoramen, die er aufrollt, ein: Dinner Partys auf dem Herrenhaus, Cocktail Partys in Belgravia, Tanz- und Teegesellschaften in Mayfair oder auch mal Soho, Ausflüge mit dem Automobil, Klassentreffen im "Ritz". Man kennt sich hier, auch wenn man sich noch nie begegnet ist, weil man doch immerhin von der Familie weiß und damit schon die wichtigste Gewähr zur Einordnung von Unbekannten hat. All das wird vielstimmig eingefangen und vom teilnehmenden Beobachter mit Reden, Gesten oder Blicken, so verfänglich oder unauffällig sie auch sein mögen, wunderbar vermittelt - getreu jener Maxime, die Oscar Wilde einst für die eigentliche Lebenskunst ausgab: nur Konversation, keine Handlung!
Was dem Autor Anthony Powell (1905 bis 2000) lange als verstockter Konservativismus vorgehalten wurde - und was wohl auch dazu geführt hat, dass sein Werk jahrzehntelang im Schatten der modernistischen Avantgarde rechts liegengelassen wurde -, das entpuppt sich daher hier als Ausdruck eines Anstands, der vor jeder Kleinigkeit Respekt hat. So setzt sich denn sein großes, zunehmend detailgesättigtes Gesellschaftsbild aus kleinsten Facetten zusammen, die erst in der erzählerischen Reflexion Bedeutsamkeit erlangen, da sie oft Unscheinbares zu betreffen scheinen. Das titelgebende Poussin-Gemälde beispielsweise kommt dem Erzähler in den Sinn, als er Monteure bei Straßenbauarbeiten beobachtet - eine Diskrepanz zwischen Anlass und Bedeutung, die für sein Verfahren charakteristisch ist und uns eben dadurch einnimmt, dass wir durchweg zum eigenen Mitvollzug - förmlich zum Mittanzen - der Reflexionsbewegung aufgefordert bleiben.
Denn Powells Erzählkunst liegt nicht zuletzt im Ungesagten, Ausgesparten, vielleicht auch Unsagbaren, das man nur selbst rekonstruieren kann. Symptomatisch dafür ist vor allem die Zentralfigur, der Erzähler, dem wir ja eigentlich am nächsten stehen sollten und der sich unserer Neugier doch aufs faszinierendste entzieht. Ganz Seismograph feinster sozialer Erschütterungen, gibt er von seinem eigenen Innenleben nur sehr wenig preis. Zwar werden erste pubertäre Verlegen- und Verliebtheiten getreulich übermittelt, ebenso wie eine erste glühende, wenngleich verschwiegene Beziehung zur verheirateten Schwester eines Schulfreunds. Doch die zentralen Beziehungsszenen, Erregungsmomente oder Wendepunkte im Gedanken- und Gefühlsleben, wie Selbsterzähler sie uns seit Rousseaus "Bekenntnissen" sonst auszubreiten pflegen, bleiben unerzählt - und lassen sich nur umso eindringlicher ausmalen.
Auch in der empfindlichen Balance zwischen Bekenntnis und Klatsch, Selbstentblößung und Bloßstellung anderer, behält Powell alias Jenkins also unbeirrbar Anstand und folgt, bei aller Lust zum Plaudern, einer ungeschriebenen Regel stiller Diskretion. In dieser Weise zeugt sein ganzes Werk von tadelloser Eleganz. Wer lieber schnell zur Sache kommt - und gleich zum Essen reingeht -, wird zweifellos enttäuscht. Wer allerdings die wahre Lust im Vorspiel findet, wird davon selten so beglückt wie hier.
TOBIAS DÖRING
Anthony Powell: "Ein Tanz
zur Musik der Zeit".
Bislang erschienen: Bd. 1: "Eine Frage der Erziehung", 255 S., Bd. 2: "Tendenz steigend", 294 S., Bd. 3: "Die Welt des Wechsels", 234 S., Bd. 4: "Bei Lady Molly", 262 S., Bd. 5: "Casanovas chinesisches Restaurant", 256 S. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Elfenbein Verlag, Berlin 2016. Geb., je 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main