Produktdetails
- Rowohlt Jahrhundert
- Verlag: Rowohlt TB.
- Abmessung: 190mm
- Gewicht: 287g
- ISBN-13: 9783499400865
- ISBN-10: 3499400863
- Artikelnr.: 25000044
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2009Sagt einfach, was ihr wollt
Wenn ein Unglück jedem zustoßen könnte, erreichen die Versuche, es zu bewältigen, universale Gültigkeit: James Agees Roman "Ein Todesfall in der Familie" ist neu zu entdecken.
Von Jochen Schimmang
Es beginnt mit einem Bild vom Paradies. "Knoxville, Sommer 1915" sind diese sechs Seiten überschrieben, und selten ist wohl eine amerikanische Vorstadtidylle so voller Empathie und zugleich ohne jeden falschen Ton beschrieben und gefeiert worden. Die Welt, in aller Unvollkommenheit, sagen diese sechs großartigen Seiten, ist in Ordnung, und der kleine Rufus ist gut in ihr aufgehoben.
Wo das Paradies so demonstrativ an den Anfang gestellt wird, kann anschließend nur das allergrößte Unglück eintreten, das wissen wir aus der Bibel. Zunächst aber werden die Personen vorgestellt, die das Unglück treffen wird, und noch werden sie in der Geborgenheit ihrer familiären Idylle und im Schutz ihrer gegenseitigen Zuneigung gezeigt: Jay Follett, der Vater, seine etwas frömmlerische, aber nicht bigotte Frau Mary und der Sohn Rufus, der mit dem Vater ins Kino gehen und Charlie Chaplin sehen darf. Als die beiden wieder nach Hause kommen, schläft die kleine Schwester Catherine schon, und auch ihr Bruder wird nun ins Bett geschickt.
Dann kommt mitten in der Nacht ein Anruf von Jays Bruder: dem Vater gehe es schlecht, vielleicht stehe das Allerschlimmste bevor. Jay entschließt sich, sich ins Auto zu setzen und hinzufahren, obwohl er weiß, dass sein Bruder, ein um Anerkennung und Liebe buhlender Alkoholiker (und Bestattungsunternehmer), zu Übertreibungen neigt. Also steht er mitten in der Nacht auf und macht sich fertig (nur selten ist der Ritus der männlichen Rasur so exakt und seiner Bedeutung entsprechend beschrieben worden), seine Frau macht ihm ein veritables amerikanisches Frühstück, und die beiden nehmen Abschied voneinander. Dem Leser ist hier natürlich schon klar, dass dies die letzten gemeinsamen Momente der jungen Eheleute sind (Jay Follett ist 36) und die Tragödie sich vorbereitet, und man verfolgt diese einzelnen Gesten der Liebe, der neckenden Zuneigung und der Fürsorglichkeit schon mit der Trauer des Wissenden. Am nächsten Abend werde er gewiss wieder da sein, sagt Jay, aber mit dem Abendessen solle man nicht auf ihn warten.
Jay Follett verunglückt auf der Rückfahrt von seinem Vater, um den es in der Tat so schlimm nicht stand, tödlich. Seine Frau Mary erhält zunächst nur einen Anruf, ihr Mann habe einen Unfall gehabt, ob nicht ein Verwandter kommen könne, um ihn zu holen. Marys Bruder Andrew lässt sich von einem Nachbarn, Walter Starr, an die Unglücksstelle fahren, und quälend lange fragt sich Mary, zusammen mit Rufus' Tante Hannah, die zu ihr gekommen ist, nach der Schwere des Unfalls, bis ihr aus all dem, was am Telefon nicht gesagt wurde, unabweisbar klar wird, dass ihr Mann tot ist.
So setzt der zweite Teil des Buches ein, der in allen Verästelungen nach und nach die Gefühle der Trauernden beschreibt, die sich bei Mary versammeln: ihrer Eltern, Hannahs, Andrews und natürlich Marys Gefühle selbst. Das erinnert manchmal an die Vivisektion von Empfindungen, wie wir sie später bei Harold Brodkey kennengelernt haben, jedoch nicht in dessen Konzentration. James Agees Roman war zwar abgeschlossen, jedoch noch nicht überarbeitet, als er selbst 1955 mit 46 Jahren starb, und man darf annehmen, dass er noch wesentliche Kürzungen an diesem zweiten Teil vorgenommen hätte, in dem es einige Redundanzen gibt. Zugleich enthält er jedoch einige ganz exzellente Passagen, vor allen anderen die, in der die kleine Trauergemeinde anlässlich einer Bagatelle zu lachen beginnt und kaum wieder aufhören kann, weil das Bedürfnis nach Entlastung vom schrecklichen Unglück sich Bahn bricht.
Denn gerade im christlichen Milieu - und Mary ist eine gute Katholikin - lastet die Trauer ja schwer und nimmt düstere und zuweilen auch muffige Züge an. Das Inbild dafür ist der Priester, der im dritten Teil eintrifft und sich weigert, wie wir erst gegen Ende erfahren, Jay mit dem vollen Ritual zu beerdigen, weil dieser nicht getauft ist. Über den ganzen Roman hinweg findet ein teils ausgesprochener, teils stummer Kampf zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen der Familie statt. Heute, nach Rückkehr des religiösen Fundamentalismus, liest sich das durchaus aktuell.
Dieser dritte Teil wird überwiegend aus der Perspektive der beiden Kinder geschildert, die inzwischen wach sind und vom Tod ihres Vaters erfahren haben. Während Rufus schließlich beim letzten Blick auf seinen aufgebahrten Vater begreift, was es heißt, tot zu sein, wird seine kleine Schwester Catherine das nicht verstehen. Beide aber spüren, dass der fremde schwarze Mann, der da ins Haus gekommen ist, der Priester eben, für ihre Mutter nicht gut ist, und sie empfinden Widerwillen, wenn dieser Priester die Hände auf ihre Schultern legt. Und die Trauernden nimmt Rufus so wahr: "In dem kalten Licht, das durch dieses eine Fenster fiel, hob sich eine Menge dunkler Gestalten ab, die trostlos auf Stuhlkanten hockten, schwer und urtümlich wie Bären in einer Grube."
An der Beisetzung selbst nehmen die Kinder nicht teil, sondern werden von Walter Starr, dem Nachbarn, in seine Obhut genommen. Obwohl nur eine Randfigur, ist dieser Starr (neben dem verunglückten Vater) die sympathischste und lichteste Gestalt des ganzen Buches. Er fährt die Kinder heimlich in eine Seitenstraße, von der aus man beobachten kann, wie der tote Vater in seinem Sarg aus dem Haus getragen und abtransportiert wird. Zunächst bittet er die Kinder, zu Hause nichts davon zu erzählen, doch dann: "Sagt einfach, was ihr wollt." Starr gibt den Kindern die Freiheit, die die hier besonders starren Regeln der Konvention ihnen nehmen wollen, und man darf für sie hoffen.
Agees Roman hat einen stark autobiographischen Hintergrund (Agees Vater starb 1915 bei einem Autounfall), aber er hat zum Glück keine "autobiographischen Züge". Das heißt, der Autor hat das Material wirklich in einen Roman verwandeln können, vor allem kraft seiner Sprache, und dieser Roman hat 1957 posthum auch zu Recht den Pulitzerpreis erhalten. Ebenso gut ist es, dass er nun wieder in - von Ingo Herzke überarbeiteter - deutscher Übersetzung vorliegt (die deutsche Erstausgabe erschien 1962) und der Autorenname James Agee auch bei uns nicht mehr mit dem Drehbuch zu "African Queen" assoziiert werden muss, sondern in die amerikanische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts eingeschrieben werden kann.
James Agee: "Ein Todesfall in der Familie". Roman. Aus dem Englischen von Gerda von Uslar. In der Überarbeitung von Ingo Herzke. C. H. Beck Verlag, München 2009. 399 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn ein Unglück jedem zustoßen könnte, erreichen die Versuche, es zu bewältigen, universale Gültigkeit: James Agees Roman "Ein Todesfall in der Familie" ist neu zu entdecken.
Von Jochen Schimmang
Es beginnt mit einem Bild vom Paradies. "Knoxville, Sommer 1915" sind diese sechs Seiten überschrieben, und selten ist wohl eine amerikanische Vorstadtidylle so voller Empathie und zugleich ohne jeden falschen Ton beschrieben und gefeiert worden. Die Welt, in aller Unvollkommenheit, sagen diese sechs großartigen Seiten, ist in Ordnung, und der kleine Rufus ist gut in ihr aufgehoben.
Wo das Paradies so demonstrativ an den Anfang gestellt wird, kann anschließend nur das allergrößte Unglück eintreten, das wissen wir aus der Bibel. Zunächst aber werden die Personen vorgestellt, die das Unglück treffen wird, und noch werden sie in der Geborgenheit ihrer familiären Idylle und im Schutz ihrer gegenseitigen Zuneigung gezeigt: Jay Follett, der Vater, seine etwas frömmlerische, aber nicht bigotte Frau Mary und der Sohn Rufus, der mit dem Vater ins Kino gehen und Charlie Chaplin sehen darf. Als die beiden wieder nach Hause kommen, schläft die kleine Schwester Catherine schon, und auch ihr Bruder wird nun ins Bett geschickt.
Dann kommt mitten in der Nacht ein Anruf von Jays Bruder: dem Vater gehe es schlecht, vielleicht stehe das Allerschlimmste bevor. Jay entschließt sich, sich ins Auto zu setzen und hinzufahren, obwohl er weiß, dass sein Bruder, ein um Anerkennung und Liebe buhlender Alkoholiker (und Bestattungsunternehmer), zu Übertreibungen neigt. Also steht er mitten in der Nacht auf und macht sich fertig (nur selten ist der Ritus der männlichen Rasur so exakt und seiner Bedeutung entsprechend beschrieben worden), seine Frau macht ihm ein veritables amerikanisches Frühstück, und die beiden nehmen Abschied voneinander. Dem Leser ist hier natürlich schon klar, dass dies die letzten gemeinsamen Momente der jungen Eheleute sind (Jay Follett ist 36) und die Tragödie sich vorbereitet, und man verfolgt diese einzelnen Gesten der Liebe, der neckenden Zuneigung und der Fürsorglichkeit schon mit der Trauer des Wissenden. Am nächsten Abend werde er gewiss wieder da sein, sagt Jay, aber mit dem Abendessen solle man nicht auf ihn warten.
Jay Follett verunglückt auf der Rückfahrt von seinem Vater, um den es in der Tat so schlimm nicht stand, tödlich. Seine Frau Mary erhält zunächst nur einen Anruf, ihr Mann habe einen Unfall gehabt, ob nicht ein Verwandter kommen könne, um ihn zu holen. Marys Bruder Andrew lässt sich von einem Nachbarn, Walter Starr, an die Unglücksstelle fahren, und quälend lange fragt sich Mary, zusammen mit Rufus' Tante Hannah, die zu ihr gekommen ist, nach der Schwere des Unfalls, bis ihr aus all dem, was am Telefon nicht gesagt wurde, unabweisbar klar wird, dass ihr Mann tot ist.
So setzt der zweite Teil des Buches ein, der in allen Verästelungen nach und nach die Gefühle der Trauernden beschreibt, die sich bei Mary versammeln: ihrer Eltern, Hannahs, Andrews und natürlich Marys Gefühle selbst. Das erinnert manchmal an die Vivisektion von Empfindungen, wie wir sie später bei Harold Brodkey kennengelernt haben, jedoch nicht in dessen Konzentration. James Agees Roman war zwar abgeschlossen, jedoch noch nicht überarbeitet, als er selbst 1955 mit 46 Jahren starb, und man darf annehmen, dass er noch wesentliche Kürzungen an diesem zweiten Teil vorgenommen hätte, in dem es einige Redundanzen gibt. Zugleich enthält er jedoch einige ganz exzellente Passagen, vor allen anderen die, in der die kleine Trauergemeinde anlässlich einer Bagatelle zu lachen beginnt und kaum wieder aufhören kann, weil das Bedürfnis nach Entlastung vom schrecklichen Unglück sich Bahn bricht.
Denn gerade im christlichen Milieu - und Mary ist eine gute Katholikin - lastet die Trauer ja schwer und nimmt düstere und zuweilen auch muffige Züge an. Das Inbild dafür ist der Priester, der im dritten Teil eintrifft und sich weigert, wie wir erst gegen Ende erfahren, Jay mit dem vollen Ritual zu beerdigen, weil dieser nicht getauft ist. Über den ganzen Roman hinweg findet ein teils ausgesprochener, teils stummer Kampf zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen der Familie statt. Heute, nach Rückkehr des religiösen Fundamentalismus, liest sich das durchaus aktuell.
Dieser dritte Teil wird überwiegend aus der Perspektive der beiden Kinder geschildert, die inzwischen wach sind und vom Tod ihres Vaters erfahren haben. Während Rufus schließlich beim letzten Blick auf seinen aufgebahrten Vater begreift, was es heißt, tot zu sein, wird seine kleine Schwester Catherine das nicht verstehen. Beide aber spüren, dass der fremde schwarze Mann, der da ins Haus gekommen ist, der Priester eben, für ihre Mutter nicht gut ist, und sie empfinden Widerwillen, wenn dieser Priester die Hände auf ihre Schultern legt. Und die Trauernden nimmt Rufus so wahr: "In dem kalten Licht, das durch dieses eine Fenster fiel, hob sich eine Menge dunkler Gestalten ab, die trostlos auf Stuhlkanten hockten, schwer und urtümlich wie Bären in einer Grube."
An der Beisetzung selbst nehmen die Kinder nicht teil, sondern werden von Walter Starr, dem Nachbarn, in seine Obhut genommen. Obwohl nur eine Randfigur, ist dieser Starr (neben dem verunglückten Vater) die sympathischste und lichteste Gestalt des ganzen Buches. Er fährt die Kinder heimlich in eine Seitenstraße, von der aus man beobachten kann, wie der tote Vater in seinem Sarg aus dem Haus getragen und abtransportiert wird. Zunächst bittet er die Kinder, zu Hause nichts davon zu erzählen, doch dann: "Sagt einfach, was ihr wollt." Starr gibt den Kindern die Freiheit, die die hier besonders starren Regeln der Konvention ihnen nehmen wollen, und man darf für sie hoffen.
Agees Roman hat einen stark autobiographischen Hintergrund (Agees Vater starb 1915 bei einem Autounfall), aber er hat zum Glück keine "autobiographischen Züge". Das heißt, der Autor hat das Material wirklich in einen Roman verwandeln können, vor allem kraft seiner Sprache, und dieser Roman hat 1957 posthum auch zu Recht den Pulitzerpreis erhalten. Ebenso gut ist es, dass er nun wieder in - von Ingo Herzke überarbeiteter - deutscher Übersetzung vorliegt (die deutsche Erstausgabe erschien 1962) und der Autorenname James Agee auch bei uns nicht mehr mit dem Drehbuch zu "African Queen" assoziiert werden muss, sondern in die amerikanische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts eingeschrieben werden kann.
James Agee: "Ein Todesfall in der Familie". Roman. Aus dem Englischen von Gerda von Uslar. In der Überarbeitung von Ingo Herzke. C. H. Beck Verlag, München 2009. 399 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Drehbuchautor der "African Queen" kennt Jochen Schimmang den Autor James Agee, als einen der bedeutendsten amerikanischen Filmkritiker des vergangenen Jahrhunderts offenbar nicht. Immerhin hat er ihn nun wenigstens als Romanautor entdeckt, dessen einziges Werk in nach Ansicht des Rezensenten sehr gelungener überarbeiteter deutscher Übersetzung vorliegt. Erzählt wird, nach idyllischem Beginn, die finstere Geschichte einer unglücklichen Familie. Jay Follett, Ehemann und Vater eines Sohns und einer Tochter, kommt bei einem Autounfall ums Leben. Davon, wie die Familie damit zurande kommt, erzählt der Roman aus verschiedenen Perspektiven. Schimmang bedauert etwas, dass Agee selbst starb, bevor er den zweiten und dritten Teil überarbeiten könnte. Darum sei der konzentrierte erste mit einigen Höhepunkten der stärkste. Daran, dass das Buch auch als ganzes lesenswert ist, lässt der Rezensent jedoch keinen Zweifel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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