»Menschenforscher, Menschenversteher, Weltbürger, Jahrhundertmensch« (Die Zeit): Georg Stefan Troller. »Das Wort Jahrhundertzeuge ist ein enorm großes. Bei Troller passt es« (Hamburger Abendblatt). Paris war seine »Lebensschule«. In den 1950er Jahren flanierte der heimatlose jüdische Emigrant durch die Kulturhauptstadt Europas. Seine legendären, hintergründigen Porträts (»Pariser Journal«) kleiner Leute und großer Stars haben den Sohn eines jüdischen Pelzhändlers berühmt gemacht. Sein »Pariser Journal« ist eine Welteroberung und intimes Tagebuch zugleich. Trollers Kunst: Leute dazu zu bringen, etwas von sich preiszugeben, was sie entweder so noch nicht wussten oder geschickt verdrängt oder verborgen hatten. Darin war er, auf seine leise bohrende Weise, unerreicht. Troller: »Man darf sich nicht mit Nebensächlichkeiten abspeisen lassen, die Wahrheit muss heraus.« Coco Chanel, Simone de Beauvoir, Alain Delon, Juliette Gréco, Dichter, Huren, Filmstars, Marktfrauen: der »begnadete Schriftsteller und Filmemacher« (Die Welt) hatte sie alle. Troller schreibt über seine Arbeit: »Zwei Fremde treffen zusammen, und sie geben sich zu erkennen: der eine durch seine offenen Fragen, der andere durch seine offenen Antworten. Sie sind, diesen einen Augenblick lang, Gleichgesinnte, Vertraute, Verschworene. Ist es darum, dass ich Interviews so liebe?«Seine Lieblingsanekdote ist die, wie er Frankreichs Ikone Brigitte Bardot interviewte. »Madame, was war der schönste Tag in Ihrem Leben?«, habe er sie gefragt, und sie habe geantwortet: »Es war eine Nacht.« »Und was trugen Sie in jener Nacht?'« »Lippenstift.« Er schob nach: »Was war die dümmste Frage, die man Ihnen je gestellt hat?« Sie antwortete: »Diese.« Die Berliner Morgenpost schreibt voller Bewunderung: »Troller liebt die bescheidene Inszenierung. Er ist ein Mensch, der groß wird, indem er sich klein macht. Eine Seltenheit. Seine Erinnerungen sind eine Einladung in eine Welt, die es so nicht mehr gibt.«Der Band enthält seltene, erst kürzlich wiedergefundene Fotografien von Paris, die er selbst aufnahm. Troller: »Verwinkelte Quartiere, in denen Altes und Neues, Erhabenes und Gemeines, Pikfeines und Verlottertes sich vermischen und ineinander übergehen.« Ein lehrreiches Amüsement!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.04.2018Alles längst abgerissen und verbaut
Als junger Mann ist Georg Stefan Troller durch die verwinkelten Quartiere des Pariser Kleinbürgertums spaziert, hat mit den Menschen gesprochen und sie fotografiert. Seine Texte erschienen in Büchern, die Bilder aber schienen für immer verloren. Jetzt sind sie aufgetaucht.
Von Freddy Langer
Das kann schon passieren, dass man mit knapp hundert Jahren das eine vergessen hat und das andere für immer verloren glaubt. Aber wenn dann beim Stöbern in alten Schachteln unerwartet ein kleiner Stapel von Fotografien auftaucht, Schwarzweißabzüge aus den fünfziger Jahren, einst selbst aufgenommen, entwickelt und abgezogen, dann kommt auch die Erinnerung zurück an diese "schrecklich-schöne, verkommene, aber heimelige Märchenwelt", wie Georg Stefan Troller die verwinkelten Quartiere von Paris heute nennt, durch die er damals gestromert ist, die Leica in der Hand, den Belichtungsmesser um den Hals gehängt, nichts erwartend, aber für alles offen, Gerüche, Begegnungen, Szenerien, in denen, wie er schreibt, Altes und Neues, Erhabenes und Gemeines, Piekfeines und Verlottertes sich vermischten und ineinander übergingen. "Wie es eben damals im Volkscharakter des Parisers lag", fasst er das zusammen, ganz nonchalant - und doch zugleich mit einer Strenge, die jeden Einspruch verbietet.
Aber das war ja auch sein Thema: der Volkscharakter des Parisers. Das Schicksal hatte Troller nach Paris geführt, die Unbilden der Politik und Geschichte zunächst, als er mit sechzehn vor den Nazis von Wien aus über die Tschechoslowakei nach Frankreich geflohen war. Als die Deutschen auch dort einmarschierten, pendelte er mehrmals zwischen Europa und Amerika hin und her und kam am Ende doch zurück nach Paris, 1949, eines Stipendiums wegen, das er allerdings nie in Anspruch nahm, um stattdessen zunächst für Radiosender, einige Jahre später auch im deutschen Fernsehen über die Stadt zu berichten. Stets dicht am Leben. Dem der Stadt. Und auch dem eigenen. So widmete er seinen ersten Fernsehbeitrag der alten Marktstraße Rue Mouffetard und jenen Läden, in denen er 1940 stundenlang Schlange gestanden hatte für ein Viertelpfund Schweinefleisch, Geschäften, in denen er damals, als Zwanzigjähriger schlecht behandelt wurde und in denen man ihn jetzt zuvorkommend bediente. "Ich kenne niemanden mehr, keiner kennt mich", notierte er am Ende des Drehtags, dem 2. Dezember 1961, in sein Journal. "Nur eine blinde Alte, die, mitten auf der Straße stehend, mit zittriger Stimme drei Zitronen anbietet, kommt mir vertraut vor."
"Ein Traum von Paris" heißt nun ein bezauberndes Büchlein, in dem Troller dem großartigen Fund seiner alten Schwarzweißfotografien aus den fünfziger Jahren kurze Texte aus drei Jahrzehnten gegenübergestellt hat. Ihr Leitmotiv versteckt sich in einem Nebensatz: "... alles inzwischen längst abgerissen und verbaut." Aber so ist das schon immer gewesen in Paris, und natürlich macht Troller auch die permanente Veränderung der Stadt zum Thema, keineswegs getränkt in Nostalgie, vielmehr präzise analysierend. Die Pariser, führt er aus, achteten ihre Stadt, ohne "in närrische Verliebtheit oder auch Schmuckkästchen-Mentalität" zu verfallen. Sie seien keine Romantiker, sondern Realisten bis hin zum Zynismus. Eher klagten sie deshalb über die Verhunzung der französischen Sprache als über den Abriss eines alten Straßenzugs. "Das nimmt man hin als unabwendbar, auch weil durch die Jahrhunderte zumeist etwas Schönes oder Passendes an die Stelle gesetzt wurde." Dass man das von der Gegenwart nicht immer behaupten kann, verschweigt er nicht.
Es war ein kleinbürgerliches, fast dörfliches Paris, das Troller sich als junger Mann erwanderte. Belleville, Ménilmontant, Butte aux Cailles - "der Wachtelberg": Gegenden, in denen sich Handwerker und Arbeiter zwischen baufälligen Gebäuden mit Außentoilette und kopfsteingepflasterten Hinterhöfen ihre kleinen Paradiese eingerichtet hatten, in denen Kinder ihre Abenteuerspielplätze fanden, ohne die Vokabel je gehört zu haben, und in denen die Menschen mitunter Unglaubliches berichteten. Da drüben hat Modigliani gewohnt, erzählt ihm eine steinalte Bildhauerin, und als seine Wirtin starb, fand man in ihrem Keller einige seiner Bilder, halb von Mäusen zerfressen. Und ein Alter fragt ihn, ob er wisse, was das heißt: eine Flasche zu kurz zu sein. Dass er nämlich erst zwei Flaschen Rotwein getrunken habe, aber drei brauche. "Woher soll sie kommen, die dritte, wenn nicht von dir? Also gib schon, gib, oder lass mich in Frieden."
Vielleicht waren Trollers Expeditionen durch den Stadtdschungel für ihn, den Vertriebenen und Getriebenen, auch so etwas wie eine Suche nach Heimat oder Zuhause. Ihn beschäftigte nicht nur die Frage: Wo bin ich hier gelandet? Vielmehr schimmert gleichsam als Wasserzeichen durch die Bilder ebenso wie durch seine Texte die Frage hindurch: Darf ich hier sein? Was muss man tun, um dazuzugehören? Und wie lange dauert es?
Georg Stefan Troller ist jetzt sechsundneunzig Jahre alt. Er wohnt noch immer in Paris. In seinem Adressbüchlein stehen die Telefonnummern von Jacques Chirac und Coco Chanel, von Dior und Alain Delon. Seine Beziehung zur Stadt nennt er eine Hassliebe, und ihre Verlockungen vergleicht er mit der Koketterie einer bezaubernden, wenn auch nicht mehr ganz jungen Frau, wenn Paris ihm zuflüstert: "Erkunde mich ... erfahre mich ... nimm mich in Besitz!" Wenn das so einfach wäre.
"Ein Traum von Paris" von Georg Stefan Troller. Corso im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2017. 176 Seiten, zahlreiche Schwarzweißfotografien. Gebunden, 19 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als junger Mann ist Georg Stefan Troller durch die verwinkelten Quartiere des Pariser Kleinbürgertums spaziert, hat mit den Menschen gesprochen und sie fotografiert. Seine Texte erschienen in Büchern, die Bilder aber schienen für immer verloren. Jetzt sind sie aufgetaucht.
Von Freddy Langer
Das kann schon passieren, dass man mit knapp hundert Jahren das eine vergessen hat und das andere für immer verloren glaubt. Aber wenn dann beim Stöbern in alten Schachteln unerwartet ein kleiner Stapel von Fotografien auftaucht, Schwarzweißabzüge aus den fünfziger Jahren, einst selbst aufgenommen, entwickelt und abgezogen, dann kommt auch die Erinnerung zurück an diese "schrecklich-schöne, verkommene, aber heimelige Märchenwelt", wie Georg Stefan Troller die verwinkelten Quartiere von Paris heute nennt, durch die er damals gestromert ist, die Leica in der Hand, den Belichtungsmesser um den Hals gehängt, nichts erwartend, aber für alles offen, Gerüche, Begegnungen, Szenerien, in denen, wie er schreibt, Altes und Neues, Erhabenes und Gemeines, Piekfeines und Verlottertes sich vermischten und ineinander übergingen. "Wie es eben damals im Volkscharakter des Parisers lag", fasst er das zusammen, ganz nonchalant - und doch zugleich mit einer Strenge, die jeden Einspruch verbietet.
Aber das war ja auch sein Thema: der Volkscharakter des Parisers. Das Schicksal hatte Troller nach Paris geführt, die Unbilden der Politik und Geschichte zunächst, als er mit sechzehn vor den Nazis von Wien aus über die Tschechoslowakei nach Frankreich geflohen war. Als die Deutschen auch dort einmarschierten, pendelte er mehrmals zwischen Europa und Amerika hin und her und kam am Ende doch zurück nach Paris, 1949, eines Stipendiums wegen, das er allerdings nie in Anspruch nahm, um stattdessen zunächst für Radiosender, einige Jahre später auch im deutschen Fernsehen über die Stadt zu berichten. Stets dicht am Leben. Dem der Stadt. Und auch dem eigenen. So widmete er seinen ersten Fernsehbeitrag der alten Marktstraße Rue Mouffetard und jenen Läden, in denen er 1940 stundenlang Schlange gestanden hatte für ein Viertelpfund Schweinefleisch, Geschäften, in denen er damals, als Zwanzigjähriger schlecht behandelt wurde und in denen man ihn jetzt zuvorkommend bediente. "Ich kenne niemanden mehr, keiner kennt mich", notierte er am Ende des Drehtags, dem 2. Dezember 1961, in sein Journal. "Nur eine blinde Alte, die, mitten auf der Straße stehend, mit zittriger Stimme drei Zitronen anbietet, kommt mir vertraut vor."
"Ein Traum von Paris" heißt nun ein bezauberndes Büchlein, in dem Troller dem großartigen Fund seiner alten Schwarzweißfotografien aus den fünfziger Jahren kurze Texte aus drei Jahrzehnten gegenübergestellt hat. Ihr Leitmotiv versteckt sich in einem Nebensatz: "... alles inzwischen längst abgerissen und verbaut." Aber so ist das schon immer gewesen in Paris, und natürlich macht Troller auch die permanente Veränderung der Stadt zum Thema, keineswegs getränkt in Nostalgie, vielmehr präzise analysierend. Die Pariser, führt er aus, achteten ihre Stadt, ohne "in närrische Verliebtheit oder auch Schmuckkästchen-Mentalität" zu verfallen. Sie seien keine Romantiker, sondern Realisten bis hin zum Zynismus. Eher klagten sie deshalb über die Verhunzung der französischen Sprache als über den Abriss eines alten Straßenzugs. "Das nimmt man hin als unabwendbar, auch weil durch die Jahrhunderte zumeist etwas Schönes oder Passendes an die Stelle gesetzt wurde." Dass man das von der Gegenwart nicht immer behaupten kann, verschweigt er nicht.
Es war ein kleinbürgerliches, fast dörfliches Paris, das Troller sich als junger Mann erwanderte. Belleville, Ménilmontant, Butte aux Cailles - "der Wachtelberg": Gegenden, in denen sich Handwerker und Arbeiter zwischen baufälligen Gebäuden mit Außentoilette und kopfsteingepflasterten Hinterhöfen ihre kleinen Paradiese eingerichtet hatten, in denen Kinder ihre Abenteuerspielplätze fanden, ohne die Vokabel je gehört zu haben, und in denen die Menschen mitunter Unglaubliches berichteten. Da drüben hat Modigliani gewohnt, erzählt ihm eine steinalte Bildhauerin, und als seine Wirtin starb, fand man in ihrem Keller einige seiner Bilder, halb von Mäusen zerfressen. Und ein Alter fragt ihn, ob er wisse, was das heißt: eine Flasche zu kurz zu sein. Dass er nämlich erst zwei Flaschen Rotwein getrunken habe, aber drei brauche. "Woher soll sie kommen, die dritte, wenn nicht von dir? Also gib schon, gib, oder lass mich in Frieden."
Vielleicht waren Trollers Expeditionen durch den Stadtdschungel für ihn, den Vertriebenen und Getriebenen, auch so etwas wie eine Suche nach Heimat oder Zuhause. Ihn beschäftigte nicht nur die Frage: Wo bin ich hier gelandet? Vielmehr schimmert gleichsam als Wasserzeichen durch die Bilder ebenso wie durch seine Texte die Frage hindurch: Darf ich hier sein? Was muss man tun, um dazuzugehören? Und wie lange dauert es?
Georg Stefan Troller ist jetzt sechsundneunzig Jahre alt. Er wohnt noch immer in Paris. In seinem Adressbüchlein stehen die Telefonnummern von Jacques Chirac und Coco Chanel, von Dior und Alain Delon. Seine Beziehung zur Stadt nennt er eine Hassliebe, und ihre Verlockungen vergleicht er mit der Koketterie einer bezaubernden, wenn auch nicht mehr ganz jungen Frau, wenn Paris ihm zuflüstert: "Erkunde mich ... erfahre mich ... nimm mich in Besitz!" Wenn das so einfach wäre.
"Ein Traum von Paris" von Georg Stefan Troller. Corso im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2017. 176 Seiten, zahlreiche Schwarzweißfotografien. Gebunden, 19 Euro.
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»Ein Traum von Paris« ist eine Einladung in eine Welt, die es so nicht mehr gibt: kein Reiseratgeber, sondern ein Schwärmen über alte Gebäude und Schlupfwinkel, über Treppchen und Passagen, die für ihn den Charme dieser Stadt ausmachten. Neue Ruhr Zeitung NLE1 NR.232