»In allen Erwachsenen wohnt ein Kind.« Jostein Gaarder
Jakop Jacobsen ist schüchtern und schon immer ein Einzelgänger gewesen. Sein bester Freund Pelle ist eine Handpuppe, mit der er lange Gespräche führt und die deutlich schlagfertiger ist als er selbst. Und er hat ein merkwürdiges Hobby: Jakop geht gern auf Beerdigungen fremder Menschen. Er gibt sich dort als Freund des Toten aus, bei den Familien der Toten fühlt er sich wohl. Dumm nur, wenn jemand sein falsches Spiel durchschaut ... So wie Agnes. Jakop verliebt sich in sie und hofft, dass sie ihn trotz seiner Eigenarten und des vorlauten Pelle erhört.
Jakop Jacobsen ist schüchtern und schon immer ein Einzelgänger gewesen. Sein bester Freund Pelle ist eine Handpuppe, mit der er lange Gespräche führt und die deutlich schlagfertiger ist als er selbst. Und er hat ein merkwürdiges Hobby: Jakop geht gern auf Beerdigungen fremder Menschen. Er gibt sich dort als Freund des Toten aus, bei den Familien der Toten fühlt er sich wohl. Dumm nur, wenn jemand sein falsches Spiel durchschaut ... So wie Agnes. Jakop verliebt sich in sie und hofft, dass sie ihn trotz seiner Eigenarten und des vorlauten Pelle erhört.
Sprachlich ein Hochgenuss Preußische Allgemeine Zeitung 20190531
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2017Alle Wörter werden Brüder
In Jostein Gaarders Roman "Ein treuer Freund" wird ein Sprachwissenschaftler zum Beerdigungsjunkie
Es ist ein bisschen aus der Mode gekommen, sich für sprachgeschichtliche Details zu begeistern. Einigen Lesern, die Jostein Gaarders neuen Roman "Ein treuer Freund" in die Hand nehmen, wird es daher nicht anders gehen als jenen, die seinem liebenswürdigen Protagonisten Jakob Jacobsen am Rande diverser Beerdigungen begegnen: Man hört dem guten Mann eine Weile gern zu, wird seiner linguistischen Monologe aber schnell überdrüssig.
Über den Vornamen eines Verstorbenen beispielsweise weiß Jacobsen beim Leichenschmaus zu erzählen: "Erik ist verwandt mit dem keltischen Wort für König, *rix, lateinisch rex, im Sanskrit raja, im heutigen Irisch ri, das wir auch in der schwedischen Bezeichnung für Schweden, Sverige, finden." Bleibt Gegenwehr aus, fügt er erläuternd hinzu: "Das alles leitet sich . . . vom indogermanischen *reg- her, wie in recht und richtig oder in den Fremdwörtern Rektor, regieren und nicht zu vergessen: korrekt!" Und so geht das am laufenden Band: Kotelett-Alarm.
In Situationen wie diesen braucht man entweder einen Schnaps oder ausgeprägtes Interesse für die Nordistik. Am besten gleich beides, was bei der Beerdigung Erik Lundins, die zu Beginn dieses kleinen originellen Romans steht, glücklicherweise der Fall ist: Der Verstorbene war Professor für Altnordische Philologie an der Universität Oslo und Jacobsen sein Student. Der Tischnachbarin, die er mit einer Wortgeschichte nach der anderen unterhält, ist die Faszination für die Geschichte der indogermanischen Sprachen daher nicht fremd.
Fremd ist ihr nur Jacobsen selbst. Aber so ist es auf manchen Beerdigungen, die Jacobsen besucht: Die Trauernden kennen ihn nicht, und er selbst kennt die Verstorbenen selten. Er sucht die Feiern auf, um Lebensgeschichten zu hören, selbst Geschichten erzählen zu dürfen und Teil einer Gemeinschaft zu sein, die ihm ansonsten fehlt. Er reimt sich eine biographische Verbindung zu den Toten zusammen und nimmt eine Rolle ein, die er wie ein Schauspieler spielt.
Gleichzeitig bestaunt Jacobsen, was sich bei diesen Gelegenheiten an Verwandtschaftsbeziehungen erkennen lässt, geradewegs so, wie der Norweger auch das Beziehungsgeflecht seiner Sprachfamilie, der indogermanischen, erforscht: "Hier haben meine Wörter ihre Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern, ihre Tanten und Onkel, ihre Vettern und Kusinen ersten, zweiten und dritten Grades." Das ist die einzige Familie, der er sich wirklich zugehörig fühlt. Und sie sagt womöglich nicht weniger über die eigene Identität aus als eine echte.
Man ahnt es: "Ein treuer Freund" liest sich streckenweise wie die Schnupperstunde eines Instituts für Skandinavistik, überall lauern Wort-, Orts- und teils auch Göttergeschichten. Jostein Gaarder, 1991 Autor des Philosophie-Bestsellers "Sofies Welt" (zuletzt erschien von ihm ein Jugendbuch zur Klimafrage, das der deutsche Verlag unter dem Titel "Noras Welt" auf den Markt brachte, während es im Original "Anna" heißt), kann das Belehren nicht lassen.
Aber er weiß natürlich auch, wie man es macht. Das hat er mit seinem Antihelden Jakob Jacobsen gemeinsam, der Gymnasiallehrer ist, wie auch sein Erfinder Gaarder einmal einer war, und sein Wissen zuweilen eleganter an den Mann bringt als am Rande einer Beerdigung.
Jacobsens Trick besteht darin, dass er bei populärwissenschaftlichen Vorträgen gemeinsam mit einer Handpuppe auftritt. Dabei ist es der drolligste Einfall des Romans, dass der schüchterne, vielleicht gar zum Autismus neigende Jacobsen auch privat mit dieser Handpuppe zusammenlebt. Sie heißt Pelle und ist seit Kindestagen seine "wichtigste Stütze" - ein "Mann in den besten Jahren", wie Jacobsen sagt. Er verwendet hier fast denselben Ausdruck, mit dem Astrid Lindgren einst Karlsson vom Dach beschrieb, den Gefährten Lillebrors. Wenn Mann und Puppe zusammen reden - und sie reden offenbar viel -, plaudert Pelle im Dialekt von Hallingdal und Jacobsen in jenem standardisierten Norwegisch, das man vor allem in der Hauptstadt hören kann.
Der Roman, der aus der Perspektive des Etymologie-Nerds erzählt wird, verheimlicht die Existenz der Puppe zunächst. Er hebt sich die Enthüllung für den Moment auf, in dem sich erste Ermüdungserscheinungen beim Leser einstellen, und dann wirkt sie wie ein Energieschub. Zu Beginn jedoch ist nur Jacobsen da, ein kultivierter Mann, der am norwegischen Nationalfeiertag des Jahres 2013 in einem Zimmer auf der schwedischen Insel Gotland sitzt und einen Brief schreibt.
In diesem Brief, der sich allmählich zum Lebensbericht mit Rechtfertigungscharakter auswächst, erzählt er von einer Todesanzeige aus dem Jahr 2001 und einer Beerdigung in der Vestre-Aker-Kirche in Oslo, von weiteren Trauerfeiern, die er besuchte, und schließlich: von der Begegnung mit Agnes. An sie ist der Brief adressiert.
Er will sich Agnes erklären. Und das kann man verstehen, wenn sich einer als "ungebetener Gast im Leben anderer Menschen" auf Beerdigungen einschleicht, bis seine Lügen auffallen. Man begreift bald auch den zarten, leicht verschämten Ton, den Jacobsen anschlägt. Jacobsen ist ein einsamer Mensch, der sich danach sehnt, durch Liebe erlöst zu werden. Der eine gescheiterte Ehe hinter sich hat, keine Kinder. Ein Introvertierter, der aus einer einmal betretenen Gedankenwelt nicht mehr herauskommt und womöglich längst trinkt.
Diese Geschichte, die schon der "lebensnotwendigen" Beerdigungsbesuche wegen viele kleine Geschichten mitbringt, ist mehr als die Verpackung eines gewagten Abstechers in die Sprachwissenschaft. Gelegentlich fließt sie etwas kraftlos dahin. Aber sie trägt als Einsamkeitsstudie, vermittelt Grundlegendes über das Menschsein an sich, und in der klaren, von Gabriele Haefs in flüssiges Deutsch übersetzten Erzählstimme, die Gaarder zu eigen ist, verfängt sie selbst dann, wenn man den Linguistik-Fimmel des Protagonisten als lästig empfindet.
MATTHIAS HANNEMANN
Jostein Gaarder: "Ein treuer Freund".
Roman.
Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs. Hanser
Verlag, München 2017.
272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Jostein Gaarders Roman "Ein treuer Freund" wird ein Sprachwissenschaftler zum Beerdigungsjunkie
Es ist ein bisschen aus der Mode gekommen, sich für sprachgeschichtliche Details zu begeistern. Einigen Lesern, die Jostein Gaarders neuen Roman "Ein treuer Freund" in die Hand nehmen, wird es daher nicht anders gehen als jenen, die seinem liebenswürdigen Protagonisten Jakob Jacobsen am Rande diverser Beerdigungen begegnen: Man hört dem guten Mann eine Weile gern zu, wird seiner linguistischen Monologe aber schnell überdrüssig.
Über den Vornamen eines Verstorbenen beispielsweise weiß Jacobsen beim Leichenschmaus zu erzählen: "Erik ist verwandt mit dem keltischen Wort für König, *rix, lateinisch rex, im Sanskrit raja, im heutigen Irisch ri, das wir auch in der schwedischen Bezeichnung für Schweden, Sverige, finden." Bleibt Gegenwehr aus, fügt er erläuternd hinzu: "Das alles leitet sich . . . vom indogermanischen *reg- her, wie in recht und richtig oder in den Fremdwörtern Rektor, regieren und nicht zu vergessen: korrekt!" Und so geht das am laufenden Band: Kotelett-Alarm.
In Situationen wie diesen braucht man entweder einen Schnaps oder ausgeprägtes Interesse für die Nordistik. Am besten gleich beides, was bei der Beerdigung Erik Lundins, die zu Beginn dieses kleinen originellen Romans steht, glücklicherweise der Fall ist: Der Verstorbene war Professor für Altnordische Philologie an der Universität Oslo und Jacobsen sein Student. Der Tischnachbarin, die er mit einer Wortgeschichte nach der anderen unterhält, ist die Faszination für die Geschichte der indogermanischen Sprachen daher nicht fremd.
Fremd ist ihr nur Jacobsen selbst. Aber so ist es auf manchen Beerdigungen, die Jacobsen besucht: Die Trauernden kennen ihn nicht, und er selbst kennt die Verstorbenen selten. Er sucht die Feiern auf, um Lebensgeschichten zu hören, selbst Geschichten erzählen zu dürfen und Teil einer Gemeinschaft zu sein, die ihm ansonsten fehlt. Er reimt sich eine biographische Verbindung zu den Toten zusammen und nimmt eine Rolle ein, die er wie ein Schauspieler spielt.
Gleichzeitig bestaunt Jacobsen, was sich bei diesen Gelegenheiten an Verwandtschaftsbeziehungen erkennen lässt, geradewegs so, wie der Norweger auch das Beziehungsgeflecht seiner Sprachfamilie, der indogermanischen, erforscht: "Hier haben meine Wörter ihre Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern, ihre Tanten und Onkel, ihre Vettern und Kusinen ersten, zweiten und dritten Grades." Das ist die einzige Familie, der er sich wirklich zugehörig fühlt. Und sie sagt womöglich nicht weniger über die eigene Identität aus als eine echte.
Man ahnt es: "Ein treuer Freund" liest sich streckenweise wie die Schnupperstunde eines Instituts für Skandinavistik, überall lauern Wort-, Orts- und teils auch Göttergeschichten. Jostein Gaarder, 1991 Autor des Philosophie-Bestsellers "Sofies Welt" (zuletzt erschien von ihm ein Jugendbuch zur Klimafrage, das der deutsche Verlag unter dem Titel "Noras Welt" auf den Markt brachte, während es im Original "Anna" heißt), kann das Belehren nicht lassen.
Aber er weiß natürlich auch, wie man es macht. Das hat er mit seinem Antihelden Jakob Jacobsen gemeinsam, der Gymnasiallehrer ist, wie auch sein Erfinder Gaarder einmal einer war, und sein Wissen zuweilen eleganter an den Mann bringt als am Rande einer Beerdigung.
Jacobsens Trick besteht darin, dass er bei populärwissenschaftlichen Vorträgen gemeinsam mit einer Handpuppe auftritt. Dabei ist es der drolligste Einfall des Romans, dass der schüchterne, vielleicht gar zum Autismus neigende Jacobsen auch privat mit dieser Handpuppe zusammenlebt. Sie heißt Pelle und ist seit Kindestagen seine "wichtigste Stütze" - ein "Mann in den besten Jahren", wie Jacobsen sagt. Er verwendet hier fast denselben Ausdruck, mit dem Astrid Lindgren einst Karlsson vom Dach beschrieb, den Gefährten Lillebrors. Wenn Mann und Puppe zusammen reden - und sie reden offenbar viel -, plaudert Pelle im Dialekt von Hallingdal und Jacobsen in jenem standardisierten Norwegisch, das man vor allem in der Hauptstadt hören kann.
Der Roman, der aus der Perspektive des Etymologie-Nerds erzählt wird, verheimlicht die Existenz der Puppe zunächst. Er hebt sich die Enthüllung für den Moment auf, in dem sich erste Ermüdungserscheinungen beim Leser einstellen, und dann wirkt sie wie ein Energieschub. Zu Beginn jedoch ist nur Jacobsen da, ein kultivierter Mann, der am norwegischen Nationalfeiertag des Jahres 2013 in einem Zimmer auf der schwedischen Insel Gotland sitzt und einen Brief schreibt.
In diesem Brief, der sich allmählich zum Lebensbericht mit Rechtfertigungscharakter auswächst, erzählt er von einer Todesanzeige aus dem Jahr 2001 und einer Beerdigung in der Vestre-Aker-Kirche in Oslo, von weiteren Trauerfeiern, die er besuchte, und schließlich: von der Begegnung mit Agnes. An sie ist der Brief adressiert.
Er will sich Agnes erklären. Und das kann man verstehen, wenn sich einer als "ungebetener Gast im Leben anderer Menschen" auf Beerdigungen einschleicht, bis seine Lügen auffallen. Man begreift bald auch den zarten, leicht verschämten Ton, den Jacobsen anschlägt. Jacobsen ist ein einsamer Mensch, der sich danach sehnt, durch Liebe erlöst zu werden. Der eine gescheiterte Ehe hinter sich hat, keine Kinder. Ein Introvertierter, der aus einer einmal betretenen Gedankenwelt nicht mehr herauskommt und womöglich längst trinkt.
Diese Geschichte, die schon der "lebensnotwendigen" Beerdigungsbesuche wegen viele kleine Geschichten mitbringt, ist mehr als die Verpackung eines gewagten Abstechers in die Sprachwissenschaft. Gelegentlich fließt sie etwas kraftlos dahin. Aber sie trägt als Einsamkeitsstudie, vermittelt Grundlegendes über das Menschsein an sich, und in der klaren, von Gabriele Haefs in flüssiges Deutsch übersetzten Erzählstimme, die Gaarder zu eigen ist, verfängt sie selbst dann, wenn man den Linguistik-Fimmel des Protagonisten als lästig empfindet.
MATTHIAS HANNEMANN
Jostein Gaarder: "Ein treuer Freund".
Roman.
Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs. Hanser
Verlag, München 2017.
272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.04.2017Pelle und der
Puppenspieler
Jostein Gaarders neuer Roman
„Ein treuer Freund“
Wie Prousts Marcel, so befindet sich auch Jakob, der Erzähler von Jostein Gaarders neuestem Roman, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Anders aber als Marcel tut er dies nicht, indem er von Soiree zu Soiree zieht, er streift vielmehr von Beerdigung zu Beerdigung. Fast jedes Kapitel des Buches führt eine andere Trauergemeinde vor. Die Gäste des Leichenschmauses kennen sich teilweise nur, sie lernen sich aber im Gang der Handlung immer besser kennen, nicht zuletzt wegen der wahren oder fingierten Berichte, die Jakob über die verstorbenen Personen oder deren Verwandte und Freunde erzählt.
Jakob ist stets der Eindringling, der nicht zur Familie gehört und auch nicht zum engeren Freundeskreis des Verstorbenen. Er ist ein „Eigenbrötler und Außenseiter“, der eine schwere Kindheit hinter sich hat. Dadurch entstand seine seltsame Neigung, sich Leidtragenden anzuschließen, denn er ist nicht eigentlich auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, sondern vor allem auf der nach der verlorenen Familie.
Kein Fest vereinigt die in alle Welt versprengte Familie heutzutage noch einmal so vollzählig wie die Beerdigung. Jakob aber, der Eindringling in diese Intimität, tischt bei den Gastmahlen danach Gedanken an noch ganz andere Familien auf: solche nämlich von Wörtern. Wortfamilien vor allem faszinieren diesen Philologen und Nordisten, der sich mit dem Ursprung der Sprache, mit altnordischen Mythen und dem „prekären Machtgefüge zwischen Göttern und Trollen“ beschäftigt.
Bei den Belehrungen der Tischgesellschaften über das, was er die „Erbwörter“ nennt, gerät er nicht selten in Streit mit jungen Frauen, die, als Schülerinnen etwa eines gerade zu Grabe getragenen Professors, selbst mit der Wissenschaft vertraut sind und sich in ein intellektuelles Gefecht mit dem Kollegen wagen. Dieses neue Buch von Jostein Gaarder, der schon in seinem internationalen Bestseller „Sofies Welt“ mit der Briefform spielte, ist daher auch ein Buch der starken und kämpferischen Frauen – und Frauen, falls sie das Buch lesen sollten, werden sich denn auch der etymologischen Lektionen erfreuen, durch die sie etwa erfahren, dass zwischen so bedeutungsfernen Wörter wie „Dom“ und „Dame“ ein „erbwortschaftlicher“ Zusammenhang besteht.
Was aber hat es nun mit dem „treuen Freund“ auf sich, der dem Buch den Titel gibt und der diesen Monolog eines versponnen Wissenschaftlers zum Roman macht? Eigentlich nämlich ist das Buch kein Roman, sondern ein Brief, und Pelle ist darin des Schreibers Freund, in den sich Agnes, die Adressatin der Blätter, zu dessen Unglück verliebt. Diesen Freund Pelle „streift“ der Erzähler des Öfteren „über den Arm“ – und der verdutzte Leser fragt sich, was das denn zu bedeuten habe? Aus spärlichen Andeutungen des Autors reimt er sich zusammen, was jener sehr spät erst ausdrücklich sagt: Pelle ist „eine sorgfältig gestaltete Handpuppe“.
Mit den Andeutungen aber beginnt das Rätselraten, das den Roman nicht grade zum „Krimi“ macht, wohl aber zum Kriminalbericht über eine geheime Seelenverwandtschaft. Pelle ist das Alter Ego des Erzählers, Pelle spricht – angeblich – flüssiger, faszinierender, anspielungsreicher als sein Besitzer, ja er ist sogar gescheiter als er. Die Vorlesungen hält deshalb der Nordist nicht alleine, sondern nur im Zwiegespräch mit ihm.
Dies alles mag der Leser als Anreiz nehmen zu Überlegungen darüber, was denn nun eigentlich mit Pelle gemeint sei. Durch seine Vermutungen beteiligt er sich gewissermaßen an der Niederschrift des „Romans“ und versucht Deutungen dessen, was der Autor habe sagen wollen, wofür etwa, für welche Eigenschaft Pelle einstehe? Ist er ein Symbol, ein geheimer Charakterzug? Ist er, der im Schrank in einer Zigarrenkiste unter „Herrenwäsche“ versteckt wird, und, entdeckt von der Ehefrau, diese sofort zur Auflösung der Ehe bewegt, gar ein Symbol der Homosexualität seines Besitzers?
„Du siehst“, so belehrt dieser im monologischen Erinnerungsprotokoll seine Adressatin Agnes, die von Pelle begeistert ist, „nur die Rose, nicht den Grund, aus dem die Rose wächst. Du siehst die Puppe auf dem Arm des Puppenspielers, aber du hast keine Augen für den Puppenspieler selbst.“ Auch der Leser durchschaut die kryptischen Andeutungen, die der Text enthält, nur, wenn er an der Tiefenforschung des Briefschreibers teilnimmt und sich für Seelenverwandtschaften ebenso leidenschaftlich interessiert wie der Autor für die Erbforschung der Wörter, der Wortfamilien und der Familien überhaupt. Dieser skurrile Roman ist in jeder Zeile eine Herausforderung zur Interpretation: Nur der Seelenkundige wird den geheimen Bekenntnissen dieses Wort-Familien-Forschers gewachsen sein.
HANNELORE SCHLAFFER
„Du siehst nur die Rose,
nicht den Grund,
aus dem die Rose wächst.“
Jostein Gaarder: Ein treuer Freund. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, München 2017. 270 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Puppenspieler
Jostein Gaarders neuer Roman
„Ein treuer Freund“
Wie Prousts Marcel, so befindet sich auch Jakob, der Erzähler von Jostein Gaarders neuestem Roman, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Anders aber als Marcel tut er dies nicht, indem er von Soiree zu Soiree zieht, er streift vielmehr von Beerdigung zu Beerdigung. Fast jedes Kapitel des Buches führt eine andere Trauergemeinde vor. Die Gäste des Leichenschmauses kennen sich teilweise nur, sie lernen sich aber im Gang der Handlung immer besser kennen, nicht zuletzt wegen der wahren oder fingierten Berichte, die Jakob über die verstorbenen Personen oder deren Verwandte und Freunde erzählt.
Jakob ist stets der Eindringling, der nicht zur Familie gehört und auch nicht zum engeren Freundeskreis des Verstorbenen. Er ist ein „Eigenbrötler und Außenseiter“, der eine schwere Kindheit hinter sich hat. Dadurch entstand seine seltsame Neigung, sich Leidtragenden anzuschließen, denn er ist nicht eigentlich auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, sondern vor allem auf der nach der verlorenen Familie.
Kein Fest vereinigt die in alle Welt versprengte Familie heutzutage noch einmal so vollzählig wie die Beerdigung. Jakob aber, der Eindringling in diese Intimität, tischt bei den Gastmahlen danach Gedanken an noch ganz andere Familien auf: solche nämlich von Wörtern. Wortfamilien vor allem faszinieren diesen Philologen und Nordisten, der sich mit dem Ursprung der Sprache, mit altnordischen Mythen und dem „prekären Machtgefüge zwischen Göttern und Trollen“ beschäftigt.
Bei den Belehrungen der Tischgesellschaften über das, was er die „Erbwörter“ nennt, gerät er nicht selten in Streit mit jungen Frauen, die, als Schülerinnen etwa eines gerade zu Grabe getragenen Professors, selbst mit der Wissenschaft vertraut sind und sich in ein intellektuelles Gefecht mit dem Kollegen wagen. Dieses neue Buch von Jostein Gaarder, der schon in seinem internationalen Bestseller „Sofies Welt“ mit der Briefform spielte, ist daher auch ein Buch der starken und kämpferischen Frauen – und Frauen, falls sie das Buch lesen sollten, werden sich denn auch der etymologischen Lektionen erfreuen, durch die sie etwa erfahren, dass zwischen so bedeutungsfernen Wörter wie „Dom“ und „Dame“ ein „erbwortschaftlicher“ Zusammenhang besteht.
Was aber hat es nun mit dem „treuen Freund“ auf sich, der dem Buch den Titel gibt und der diesen Monolog eines versponnen Wissenschaftlers zum Roman macht? Eigentlich nämlich ist das Buch kein Roman, sondern ein Brief, und Pelle ist darin des Schreibers Freund, in den sich Agnes, die Adressatin der Blätter, zu dessen Unglück verliebt. Diesen Freund Pelle „streift“ der Erzähler des Öfteren „über den Arm“ – und der verdutzte Leser fragt sich, was das denn zu bedeuten habe? Aus spärlichen Andeutungen des Autors reimt er sich zusammen, was jener sehr spät erst ausdrücklich sagt: Pelle ist „eine sorgfältig gestaltete Handpuppe“.
Mit den Andeutungen aber beginnt das Rätselraten, das den Roman nicht grade zum „Krimi“ macht, wohl aber zum Kriminalbericht über eine geheime Seelenverwandtschaft. Pelle ist das Alter Ego des Erzählers, Pelle spricht – angeblich – flüssiger, faszinierender, anspielungsreicher als sein Besitzer, ja er ist sogar gescheiter als er. Die Vorlesungen hält deshalb der Nordist nicht alleine, sondern nur im Zwiegespräch mit ihm.
Dies alles mag der Leser als Anreiz nehmen zu Überlegungen darüber, was denn nun eigentlich mit Pelle gemeint sei. Durch seine Vermutungen beteiligt er sich gewissermaßen an der Niederschrift des „Romans“ und versucht Deutungen dessen, was der Autor habe sagen wollen, wofür etwa, für welche Eigenschaft Pelle einstehe? Ist er ein Symbol, ein geheimer Charakterzug? Ist er, der im Schrank in einer Zigarrenkiste unter „Herrenwäsche“ versteckt wird, und, entdeckt von der Ehefrau, diese sofort zur Auflösung der Ehe bewegt, gar ein Symbol der Homosexualität seines Besitzers?
„Du siehst“, so belehrt dieser im monologischen Erinnerungsprotokoll seine Adressatin Agnes, die von Pelle begeistert ist, „nur die Rose, nicht den Grund, aus dem die Rose wächst. Du siehst die Puppe auf dem Arm des Puppenspielers, aber du hast keine Augen für den Puppenspieler selbst.“ Auch der Leser durchschaut die kryptischen Andeutungen, die der Text enthält, nur, wenn er an der Tiefenforschung des Briefschreibers teilnimmt und sich für Seelenverwandtschaften ebenso leidenschaftlich interessiert wie der Autor für die Erbforschung der Wörter, der Wortfamilien und der Familien überhaupt. Dieser skurrile Roman ist in jeder Zeile eine Herausforderung zur Interpretation: Nur der Seelenkundige wird den geheimen Bekenntnissen dieses Wort-Familien-Forschers gewachsen sein.
HANNELORE SCHLAFFER
„Du siehst nur die Rose,
nicht den Grund,
aus dem die Rose wächst.“
Jostein Gaarder: Ein treuer Freund. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, München 2017. 270 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Sein jüngstes Buch macht süchtig." Margarete von Schwarzkopf, BücherMagazin, Mai 2017
"'Ein treuer Freund' ist das zarte Porträt eines Außenseiters, der die Suche nach Nähe noch nicht aufgegeben hat." Hannelore Schlaffer, Süddeutsche Zeitung, 20.04.17
"Gaarder hat hier wieder einen klugen, freundlichen Roman vorgelegt. Der Briefschreiber Jakop ist manchmal etwas betulich, er doziert und diskutiert sehr viel (...), aber dann wird man während der Lektüre wieder versöhnt durch Gaarders warmherzige und witzige Figurenzeichnung, durch die schrägen Fantasien des Helden und seiner aufmüpfigen Handpuppe." Sabine Peters, Deutschlandfunk "Büchermarkt", 17.04.17
"Ein neues, liebenswertes Werk mit philosophischem Anspruch." Brigitte, 12.04.17
"Wunderbar leise und unprätentiös. (...) Ein Aufruf, selbst nachzudenken, sich über die Welt Gedanken zu machen, seine Mitmenschen nicht zu vergessen, und sich einen liebevollen Blick für die eine oder andere Eigenheit zu bewahren." Irene Binal, MDR Kultur "Buch aktuell", 13.03.17
"'Ein treuer Freund' ist das zarte Porträt eines Außenseiters, der die Suche nach Nähe noch nicht aufgegeben hat." Hannelore Schlaffer, Süddeutsche Zeitung, 20.04.17
"Gaarder hat hier wieder einen klugen, freundlichen Roman vorgelegt. Der Briefschreiber Jakop ist manchmal etwas betulich, er doziert und diskutiert sehr viel (...), aber dann wird man während der Lektüre wieder versöhnt durch Gaarders warmherzige und witzige Figurenzeichnung, durch die schrägen Fantasien des Helden und seiner aufmüpfigen Handpuppe." Sabine Peters, Deutschlandfunk "Büchermarkt", 17.04.17
"Ein neues, liebenswertes Werk mit philosophischem Anspruch." Brigitte, 12.04.17
"Wunderbar leise und unprätentiös. (...) Ein Aufruf, selbst nachzudenken, sich über die Welt Gedanken zu machen, seine Mitmenschen nicht zu vergessen, und sich einen liebevollen Blick für die eine oder andere Eigenheit zu bewahren." Irene Binal, MDR Kultur "Buch aktuell", 13.03.17