"Eine bewegende, schmerzhafte und grandiose Leseerfahrung." The New York Times Book Review
Die US-Südstaaten in den 1920er Jahren. Als Ludlow Washington fünf Jahre alt ist, geben ihn seine Eltern in ein Heim für blinde schwarze Kinder. Ludlow versteht nicht, warum er und die anderen von den weißen Erziehern so diskriminiert werden - "Hautfarbe" ist für den blinden Jungen etwas Unvorstellbares. Unterrichtet werden die Kinder nur in Musik, die scheinbar die einzige Möglichkeit für sie ist, Geld zu verdienen. Ludlow erweist sich als äußerst begabter Jazzmusiker und wird mit sechzehn von einem Bandleader freigekauft. Doch selbst als sein Ruhm so groß ist, dass er endlich eine eigenständige Jazzkarriere verfolgen kann, die ihn bis nach New York führt - dem Rassismus, der die Gesellschaft bis in ihre kleinsten Verästelungen durchzieht, ist kaum zu entkommen.
Mit der Figur des begnadeten blinden Jazzmusikers Ludlow Washington verdeutlicht William Melvin Kelley schmerzhaft und unmittelbar, wie blind Rassismus auch die vermeintlich Sehenden macht. Ein Tropfen Geduld ist ein scharfsinniges Zeugnis des bis heute virulenten Kampfes der afro-amerikanischen Bevölkerung um gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe.
Die US-Südstaaten in den 1920er Jahren. Als Ludlow Washington fünf Jahre alt ist, geben ihn seine Eltern in ein Heim für blinde schwarze Kinder. Ludlow versteht nicht, warum er und die anderen von den weißen Erziehern so diskriminiert werden - "Hautfarbe" ist für den blinden Jungen etwas Unvorstellbares. Unterrichtet werden die Kinder nur in Musik, die scheinbar die einzige Möglichkeit für sie ist, Geld zu verdienen. Ludlow erweist sich als äußerst begabter Jazzmusiker und wird mit sechzehn von einem Bandleader freigekauft. Doch selbst als sein Ruhm so groß ist, dass er endlich eine eigenständige Jazzkarriere verfolgen kann, die ihn bis nach New York führt - dem Rassismus, der die Gesellschaft bis in ihre kleinsten Verästelungen durchzieht, ist kaum zu entkommen.
Mit der Figur des begnadeten blinden Jazzmusikers Ludlow Washington verdeutlicht William Melvin Kelley schmerzhaft und unmittelbar, wie blind Rassismus auch die vermeintlich Sehenden macht. Ein Tropfen Geduld ist ein scharfsinniges Zeugnis des bis heute virulenten Kampfes der afro-amerikanischen Bevölkerung um gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch stößt auf einen Schatz mit dem zweiten ins Deutsche übertragenen Roman von William Melvin Kelley. Der Roman ist für die Kritikerin so viel mehr als die Geschichte eines schwarzen, im Waisenhaus aufgewachsenen Jungen, der es zwar zum Jazz-Musiker in New York schafft, aber immer wieder Kränkungen erlebt. Teutsch liest hier neben einer Entwicklungsgeschichte des Jazz auch ein Dokument der Emanzipation afroamerikanischer Literatur. Darüber hinaus handelt der Roman von Rassismus in all seinen Spielarten, fährt die Rezensentin fort: Es geht etwa um die Diskriminierung von Schwarzen verschiedener Herkunft untereinander, aber auch um die Frage nach der Bewertung des neu erwachten Interesses der Weißen an schwarzer Kultur, resümiert Teutsch. Wie Kelley all das in einen so rhythmischen wie fesselnden Text packt, findet die Kritikerin brillant.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2022Und dann erzählen sie uns, wie lieb sie uns haben
Ein schwarzer Musiker sucht seinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft: William Melvin Kelleys Jazz-Roman "Ein Tropfen Geduld"
William Melvin Kelley gehört zu den vergessenen Klassikern der afroamerikanischen Literatur und als 1937 Geborener zu den unmittelbaren Erben der berüchtigten Harlem-Epoche, also der schwarzen Künstler- und Intellektuellenbewegung der Zwanzigerjahre. Sein aufwühlendes Debüt "Ein anderer Takt" aus dem Jahr 1962 wurde vor drei Jahren ins Deutsche übertragen. Es war die Geschichte eines Plantagenarbeiters, der von einem Tag auf den anderen die Baumwollfelder seiner Vorfahren hinter sich lässt und in Gefolgschaft der schwarzen Gemeinde nach Norden aufbricht. Ein geradezu biblischer Exodus, dem die Weißen der fiktiven Gemeinde Sutton fassungslos zuschauen.
Jetzt ist Kelleys zweiter Roman in einer Übersetzung von Kathrin Razum erschienen. Und auch hier hat der Hoffmann und Campe Verlag ein kleines Juwel gehoben. "Ein Tropfen Geduld" ist vieles zugleich: die Geschichte eines blinden Jungen, der wie Louis Armstrong in einem Heim für schwarze Waisen aufwuchs, dort brutale Gewalt erlebte, aber auch zum Trompeter ausgebildet wird, um schließlich mit sechzehn an einen Bandleader in der fiktiven Stadt New Marsails, die New Orleans nachempfunden ist, verkauft zu werden. Kelley erzählt aber nicht nur die Geschichte einer katastrophal lieblosen Kindheit. Er erzählt auch die Rhapsodie von einem Jungen, der auszog, um etwas anderes zu werden, als es einem schwarzen Blues-Musiker in den Zwanzigerjahren bestimmt ist. Es ist eine der zahlreichen Geschichten, in denen der Weg in den Norden auch ein Weg aus der Misere bedeutet. Der Held der Geschichte wird von einer berühmten New Yorker Sängerin entdeckt und folgt ihr in die Jazz-Welt von New York City.
Es braucht allerdings mehr als einen Tropfen Geduld, um Ludlow Washington nie ganz verzweifeln zu lassen an den Schicksalsschlägen, die sein junges Leben prägen. Zuletzt ist "Ein Tropfen Geduld" auch eine Entwicklungsgeschichte des Jazz. Schillernde Figuren wie Dizzy Gillespie, Charly Parker oder Bud Powell sind Vorbilder für das Selbstverständnis des schwarzen Künstlers, der nicht mehr nur Musik zum Tanzen, sondern nun auch Musik zum Zuhören machen möchte. So wie die Weißen.
Zu Kelleys Lebzeiten war die afroamerikanische Literatur längst aus den Schuhen der sogenannten Slave Narratives herausgewachsen. Schon in den Zwanzigerjahren ging es nicht mehr nur um die Frage, wie der enorme Abgrund des institutionalisierten Rassismus in den USA, der sich in der Opposition zwischen Süd- und Nordstaaten erzählen ließ, thematisiert werden könnte. Viele Romane der Harlem-Autoren und ihrer Erben handeln von den Lebensumständen der in New York entstandenen schwarzen Mittelschicht, von den Konflikten und Diskursen der Schwarzen untereinander. Rassismus bleibt das bestimmende Thema, allerdings aufgefächert in seine neuen Spielarten, die nun auch zwischen Schwarzen verschiedener Herkünfte und Schattierungen von Schwarzsein herrschen. Von ihnen handelt Dorothy Wests kürzlich ins Deutsche übersetztes Familien-Epos "Die Hochzeit", in dem es über die Generationen hinweg um die Frage geht, wie man sich wann und wie zu seinem Südstaatenerbe bekennt oder umgekehrt es verleugnet.
Ebenfalls neu auf Deutsch zu entdecken sind derzeit Nella Larsen, deren Roman "Seitenwechsel" über eine hellhäutige Schwarze, die sich als Weiße ausgibt, gerade fürs Kino verfilmt wurde. Und Ann Petry, die erste Afroamerikanerin, die mit "The Street" - einem Harlem-Roman aus dem Jahr 1946 - einen Millionenbestseller landete. Auch das weiße Publikum war hingerissen.
Viele schwarze Künstler und Intellektuelle stellten sich ab den Zwanzigern allerdings die Frage, wie das neue Interesse der Weißen an der schwarzen Kultur zu bewerten sei. Ob es zu begrüßen oder zu verdammen sei. Ob man sich auf die Wurzeln besinnen oder ein Leben nach dem Vorbild der weißen Boheme und Mittelschicht anstreben sollte. Die schillernde Zora Hurston kritisierte diese weiße Lust an der schwarzen Kultur und dem darin immer mitgemeinten Sklavenelend entschieden. Die Autorin und Anthropologin wollte nicht der "Schleifstein" sein, an dem Weiße ihre Progressivität schärften. In Nella Larsens "Seitenwechsel" heißt es über die weiße Begeisterung für die schwarze Kultur entsprechend: "Ich glaube, was sie fühlen, ist - nun, so eine Art seelischer Erregung. Verstehen Sie, so wie das, was man in der Gegenwart von etwas Fremdem fühlt und was einem vielleicht sogar ein wenig zuwider ist."
Genau darum geht es auch in "Ein Tropfen Geduld". Ein genialer junger Musiker verlässt mit gerade einmal achtzehn Jahren Frau und Kind in den Südstaaten, um auf den Bühnen Harlems besser zu verdienen. Ludlow Washington entwickelt dort einen immer ausgefeilteren Stil, bewegt sich also weg vom tanzbaren Big-Band-Sound und hin zu einem eigenen Ton in Richtung Free Jazz. Die Weißen kommen in Scharen gelaufen und wollen die schwarzen Musiker für Privatsessions in ihren großzügigen Wohnungen an der Upper Eastside gewinnen. Sein alter Bandkollegen Norman Spencer warnt Ludlow vor der anbiedernden Güte der neuen Gönner: "Schlecht sind die Weißen nie, Ludlow. Nur schwach. Zumindest die hier bei uns. Hier treiben sie uns zusammen und pferchen uns in einen Slum, und dabei erzählen sie uns die ganze Zeit, wie sehr sie uns lieben."
Doch Ludlow ist neugierig - und bedürftig. Bald weicht eine mysteriöse Weiße, die den Künstler bewundert, nicht mehr von seiner Seite. Eine große Liebesgeschichte beginnt - und endet jäh, als jene weiße Freundin schwanger wird. Denn das traut sie sich nicht zu: ein Kind von einem Schwarzen zu bekommen. Ludlow erleidet durch diese tiefe Kränkung einen Nervenzusammenbruch, kommt in die Klinik und ist erst mal für Jahre weg vom Fenster. Seinem alten Bandkollegen Hardie ist es leichter gefallen, ein gottgefälliges Leben an der Seite einer loyalen schwarzen Frau in Harlem zu führen. Ungefährlich für die Weißen. Ungefährlich für sich selbst, da er seinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft kennt und nie infrage stellt.
William Melvin Kelley hat einen locker rhythmisierten, mitreißenden Text über einen großen Musiker geschrieben, der nie einen Platz in der amerikanischen Gesellschaft hatte - weder in der schwarzen Community von New Marsails noch im Künstlermilieu von Harlem. So muss er viele Prüfungen bestehen, um es herauszufinden, um seine fast unmenschlich große Geduld nicht mehr als Bürde zu begreifen, sondern als genialen Überlebenssinn. KATHARINA TEUTSCH.
William Melvin Kelley: "Ein Tropfen Geduld". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021. 288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein schwarzer Musiker sucht seinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft: William Melvin Kelleys Jazz-Roman "Ein Tropfen Geduld"
William Melvin Kelley gehört zu den vergessenen Klassikern der afroamerikanischen Literatur und als 1937 Geborener zu den unmittelbaren Erben der berüchtigten Harlem-Epoche, also der schwarzen Künstler- und Intellektuellenbewegung der Zwanzigerjahre. Sein aufwühlendes Debüt "Ein anderer Takt" aus dem Jahr 1962 wurde vor drei Jahren ins Deutsche übertragen. Es war die Geschichte eines Plantagenarbeiters, der von einem Tag auf den anderen die Baumwollfelder seiner Vorfahren hinter sich lässt und in Gefolgschaft der schwarzen Gemeinde nach Norden aufbricht. Ein geradezu biblischer Exodus, dem die Weißen der fiktiven Gemeinde Sutton fassungslos zuschauen.
Jetzt ist Kelleys zweiter Roman in einer Übersetzung von Kathrin Razum erschienen. Und auch hier hat der Hoffmann und Campe Verlag ein kleines Juwel gehoben. "Ein Tropfen Geduld" ist vieles zugleich: die Geschichte eines blinden Jungen, der wie Louis Armstrong in einem Heim für schwarze Waisen aufwuchs, dort brutale Gewalt erlebte, aber auch zum Trompeter ausgebildet wird, um schließlich mit sechzehn an einen Bandleader in der fiktiven Stadt New Marsails, die New Orleans nachempfunden ist, verkauft zu werden. Kelley erzählt aber nicht nur die Geschichte einer katastrophal lieblosen Kindheit. Er erzählt auch die Rhapsodie von einem Jungen, der auszog, um etwas anderes zu werden, als es einem schwarzen Blues-Musiker in den Zwanzigerjahren bestimmt ist. Es ist eine der zahlreichen Geschichten, in denen der Weg in den Norden auch ein Weg aus der Misere bedeutet. Der Held der Geschichte wird von einer berühmten New Yorker Sängerin entdeckt und folgt ihr in die Jazz-Welt von New York City.
Es braucht allerdings mehr als einen Tropfen Geduld, um Ludlow Washington nie ganz verzweifeln zu lassen an den Schicksalsschlägen, die sein junges Leben prägen. Zuletzt ist "Ein Tropfen Geduld" auch eine Entwicklungsgeschichte des Jazz. Schillernde Figuren wie Dizzy Gillespie, Charly Parker oder Bud Powell sind Vorbilder für das Selbstverständnis des schwarzen Künstlers, der nicht mehr nur Musik zum Tanzen, sondern nun auch Musik zum Zuhören machen möchte. So wie die Weißen.
Zu Kelleys Lebzeiten war die afroamerikanische Literatur längst aus den Schuhen der sogenannten Slave Narratives herausgewachsen. Schon in den Zwanzigerjahren ging es nicht mehr nur um die Frage, wie der enorme Abgrund des institutionalisierten Rassismus in den USA, der sich in der Opposition zwischen Süd- und Nordstaaten erzählen ließ, thematisiert werden könnte. Viele Romane der Harlem-Autoren und ihrer Erben handeln von den Lebensumständen der in New York entstandenen schwarzen Mittelschicht, von den Konflikten und Diskursen der Schwarzen untereinander. Rassismus bleibt das bestimmende Thema, allerdings aufgefächert in seine neuen Spielarten, die nun auch zwischen Schwarzen verschiedener Herkünfte und Schattierungen von Schwarzsein herrschen. Von ihnen handelt Dorothy Wests kürzlich ins Deutsche übersetztes Familien-Epos "Die Hochzeit", in dem es über die Generationen hinweg um die Frage geht, wie man sich wann und wie zu seinem Südstaatenerbe bekennt oder umgekehrt es verleugnet.
Ebenfalls neu auf Deutsch zu entdecken sind derzeit Nella Larsen, deren Roman "Seitenwechsel" über eine hellhäutige Schwarze, die sich als Weiße ausgibt, gerade fürs Kino verfilmt wurde. Und Ann Petry, die erste Afroamerikanerin, die mit "The Street" - einem Harlem-Roman aus dem Jahr 1946 - einen Millionenbestseller landete. Auch das weiße Publikum war hingerissen.
Viele schwarze Künstler und Intellektuelle stellten sich ab den Zwanzigern allerdings die Frage, wie das neue Interesse der Weißen an der schwarzen Kultur zu bewerten sei. Ob es zu begrüßen oder zu verdammen sei. Ob man sich auf die Wurzeln besinnen oder ein Leben nach dem Vorbild der weißen Boheme und Mittelschicht anstreben sollte. Die schillernde Zora Hurston kritisierte diese weiße Lust an der schwarzen Kultur und dem darin immer mitgemeinten Sklavenelend entschieden. Die Autorin und Anthropologin wollte nicht der "Schleifstein" sein, an dem Weiße ihre Progressivität schärften. In Nella Larsens "Seitenwechsel" heißt es über die weiße Begeisterung für die schwarze Kultur entsprechend: "Ich glaube, was sie fühlen, ist - nun, so eine Art seelischer Erregung. Verstehen Sie, so wie das, was man in der Gegenwart von etwas Fremdem fühlt und was einem vielleicht sogar ein wenig zuwider ist."
Genau darum geht es auch in "Ein Tropfen Geduld". Ein genialer junger Musiker verlässt mit gerade einmal achtzehn Jahren Frau und Kind in den Südstaaten, um auf den Bühnen Harlems besser zu verdienen. Ludlow Washington entwickelt dort einen immer ausgefeilteren Stil, bewegt sich also weg vom tanzbaren Big-Band-Sound und hin zu einem eigenen Ton in Richtung Free Jazz. Die Weißen kommen in Scharen gelaufen und wollen die schwarzen Musiker für Privatsessions in ihren großzügigen Wohnungen an der Upper Eastside gewinnen. Sein alter Bandkollegen Norman Spencer warnt Ludlow vor der anbiedernden Güte der neuen Gönner: "Schlecht sind die Weißen nie, Ludlow. Nur schwach. Zumindest die hier bei uns. Hier treiben sie uns zusammen und pferchen uns in einen Slum, und dabei erzählen sie uns die ganze Zeit, wie sehr sie uns lieben."
Doch Ludlow ist neugierig - und bedürftig. Bald weicht eine mysteriöse Weiße, die den Künstler bewundert, nicht mehr von seiner Seite. Eine große Liebesgeschichte beginnt - und endet jäh, als jene weiße Freundin schwanger wird. Denn das traut sie sich nicht zu: ein Kind von einem Schwarzen zu bekommen. Ludlow erleidet durch diese tiefe Kränkung einen Nervenzusammenbruch, kommt in die Klinik und ist erst mal für Jahre weg vom Fenster. Seinem alten Bandkollegen Hardie ist es leichter gefallen, ein gottgefälliges Leben an der Seite einer loyalen schwarzen Frau in Harlem zu führen. Ungefährlich für die Weißen. Ungefährlich für sich selbst, da er seinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft kennt und nie infrage stellt.
William Melvin Kelley hat einen locker rhythmisierten, mitreißenden Text über einen großen Musiker geschrieben, der nie einen Platz in der amerikanischen Gesellschaft hatte - weder in der schwarzen Community von New Marsails noch im Künstlermilieu von Harlem. So muss er viele Prüfungen bestehen, um es herauszufinden, um seine fast unmenschlich große Geduld nicht mehr als Bürde zu begreifen, sondern als genialen Überlebenssinn. KATHARINA TEUTSCH.
William Melvin Kelley: "Ein Tropfen Geduld". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021. 288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[...] hier hat der Hoffmann und Campe Verlag ein kleines Juwel gehoben.« Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220222
Der Aufbruch
William Melvin Kelley wollte die Sprache
der Afroamerikaner in die Hochkultur bringen,
doch er scheiterte am Rassismus
seiner Zeit. Endlich werden
seine Romane auch in Deutschland entdeckt
VON ANDRIAN KREYE
Lange bevor bayerische Schulkinder Erziehungsmaßnahmen als „Alman Move“ beschimpften oder Wörter aus den afrikanischen Sprachen und dem Arabischen den Umgangston französischer Großstädter in ein wunderbares Mosaik verwandelten, war das amerikanische Englisch die lebendigste Sprache der Moderne. Nirgendwo sonst gab es so viele Einwanderer- und Subkulturen, die zumindest in den Künsten und der Sprache ihren Platz fanden. Das war nicht immer nur ein organischer Prozess. Der Schriftsteller William Melvin Kelley gehörte in den Sechzigerjahren zu den Pionieren, die in der Literatur eine Öffnung der Sprache vorantrieben, die den Entwicklungen in der Gesellschaft weit voraus war.
In Amerika war er lange vergessen. Auch in Deutschland wurde William Melvin Kelley erst vor wenigen Jahren entdeckt. Der Hoffmann und Campe Verlag brachte 2019 seinen Debütroman „Ein anderer Takt“ heraus, den er schon 1962 veröffentlichte. Vor wenigen Wochen erschien nun der Nachfolger „Ein Tropfen Geduld“ aus dem Jahr 1965. Das schließt eine Lücke in der amerikanischen Kulturgeschichte, die sehr viel größer ist, als Kelleys schmales Werk von drei Romanen und einem Kurzgeschichtenband. Wobei „Ein Tropfen Geduld“ eben auch viel mehr ist, als nur ein Roman über einen blinden Jazzmusiker, der den Modern Jazz revolutioniert und doch an sich selbst scheitert. Das Buch ist eine raffinierte Metapher für die gleichzeitige kulturelle Überlegenheit und gesellschaftliche Isolation der afroamerikanischen Musiker und Literaten, die Mitte des 20. Jahrhunderts einen intellektuellen Aufbruch des schwarzen Amerikas in den Kanon der Hochkultur begannen.
Man kann Kelleys Bedeutung am besten erklären, wenn man sie mit einem Infohappen aufheizt. William Melvin Kelley war der Erste, der das Wort „woke“ in Schriftform verewigte. Das war in einem Essay mit dem Titel „If You're Woke You Dig It; No mickey mouse can be expected to follow today's Negro idiom without a hip assist. If You're Woke You Dig It”. Das kann man ungefähr so übersetzen, dass man – wenn man das Verständnis für die Gegenwart und ihre Subkulturen hat – schon begreift, dass Witzfiguren das Idiom der Afroamerikaner nur verstehen, wenn sie jemanden haben, der sich da auskennt und sie durchführt, was man wiederum auch nur versteht, wenn man geistig wach genug ist. Solche gedanklichen Purzelbäume waren das sprachliche Äquivalent zu den rasend schnellen Gedankensprüngen, mit denen die Musiker des Bebop die Nervosität der Großstadt und die Energie der Moderne in ihre Soli packten und gleichzeitig die Hörgewohnheiten des Bürgertums überforderten.
Der Text erschien am 20. Mai 1962 in der New York Times. Kelley beginnt seine Ausführungen mit einem Plakat, mit dem die New York Transit Authority die Fahrgäste in 21 Sprachen bittet, die U-Bahn sauber zu halten. Eine „Sprache“ fällt ihm da besonders ins Auge: „Beatnik“. So hatten die Werbetexter den Jargon jener Bohèmekultur selben Namens genannt, die sich im Downtown Manhattan der Fünfzigerjahr um die Literaten Jack Kerouac und Allen Ginsberg scharte. Der Slogan „This is your train, take care of it“, liest sich dann so: „Hey cats, this is your swinging-wheels, so dig it and keep it boss!”. Das lässt sich schwerlich übersetzen, aber alleine die Sprachmelodie verrät, wie angestrengt da eine bürgerliche Institution versuchte, den Jargon der Jazzmusiker zu imitieren. Der war alles andere als neu. Der Bandleader Cab Calloway war ein Meister der Sprachschöpfungen, die sich bis heute im amerikanischen Vokabular gehalten haben, wie „hip“ als Adjektiv für subkulturelle Authentizität, „high“ für berauscht, „Apple“ als Ortsmarke für Manhattan. Der hatte schon 1938 ein Wörterbuch mit dem Titel „Cab Calloway’s Cat-ologue: A ,Hepster’s‘ Dictionary“ herausgebracht, nicht zuletzt, um seinen Anspruch an diesen Sprachschöpfungen zu zementieren.
Kelley suchte in seinem Essay nach den Wurzeln dieser Sprache. Weil sie keine Schriftsprache und auch kein Forschungsfeld der Wissenschaften war, konnte er ihren Ursprung nur vermuten. Wahrscheinlich sei der afroamerikanische Dialekt zur selben Zeit wie die Spirituals entstanden, mit denen Sklaven Nachrichten kodierten. So habe ihm seine Großmutter erzählt, dass das Wort „Ofay“, mit dem Afroamerikaner Weiße bezeichneten, das Wort „foe“ (Feind) in der „pig-latin“-Spielsprache von Kindern verklausulierte.
Geheimhaltung, Ab- und Ausgrenzung hätten sich überlebt, schreibt Kelley. Schwarze wollten genauso in gehobenen Vierteln wohnen, schöne Autos fahren und ihre Kinder auf gute Schulen schicken können, wie alle anderen Amerikaner auch. Sie verachteten den „schäbig gekleideten“ Beatnik. Der Grund, diese Mundart immer noch zu pflegen, sei eher der Stolz auf etwas, das nur ihnen gehöre und das nur sie beherrschten. „Der Schwarze lacht über die Weißen, die versuchen, seine Sprache zu benutzen. Die gleiche Freude empfindet er, wenn er erlebt, wie ein weißes Publikum bei einem Jazzkonzert beim ersten und dritten Schlag klatscht. Ich habe einmal gesehen, wie ein schwarzer Musiker mitten in einer Nummer aufhörte zu spielen und dem Publikum sagte, er spiele keinen Marsch, sondern Jazz, und es solle bitte auf zwei und vier klatschen.“
Was William Melvin Kelley damals beobachtete war der Marsch durch die Institutionen, den seither viele Subkulturen durchliefen, egal ob Jazz, Hippies oder Hip-Hop. Das Idiom der Jazz-Hipster hatte 1962 schon die ersten Schritte vollzogen. Die Popkultur der meist weißen Bürgerkinder hatte die Sprache und Musik der Schwarzen usurpiert, die Generation ihrer Eltern sie angenommen. Dann hatten die Mechanismen der Vermarktung zugegriffen, wie eben die Werbetexter für die New Yorker U-Bahn. Kelley selbst vollzog eigentlich den letzten Schritt und brachte die Sprache in die Literatur und damit in den akademischen Kanon. „Ein anderer Takt“ behandelte das Idiom noch als Charakteristikum. In „Ein Tropfen Geduld“ ist es dann schon die Sprache der Hauptfiguren. Kelley war nicht der erste Autor, der die afroamerikanische Sprache literarisierte. Paul Laurence Dunbar und Nora Zeale Hurston hatten sie verarbeitet. Doch bei Kelley hatte die Verwendung der Sprachform einen kämpferischen Kern. Sein dritter Roman trug die Sprache dann auch im Titel. „d m“ war die afroamerikanische Sprech- und Schreibweise des Ausgrenzungspronomens „them“. Für den Roman hatte sich Kelley sogar eine eigene Orthografie erarbeitet, um der afroamerikanischen Sprache gerecht zu werden.
In der deutschen Übersetzung geht diese Sprachebene verloren. Zum Glück, denn es gibt keine Parallele im Deutschen, weder historisch noch sprachlich. Das macht die Übersetzung von Kathrin Razum nicht weniger lesenswert. In ihrer Zurückhaltung, was die Eigenheiten des Idioms angeht, arbeitet sie dafür die Stärken der Figuren und Handlungen heraus. Die Figur des blinden Trompeters Ludlow Washington ist da so etwas wie die Fortsetzung des namenlosen Erzählers aus Ralph Ellisons „Der unsichtbare Mann“. Kelley hatte für seinen Kunstgriff die Blindheit an sich selbst durchexerziert, hatte sich von seiner Frau der Malerin Aiki die Augen für U-Bahnfahrten und Mahlzeiten verbinden lassen. So erlebt Ludlow Washingon die Welt der „anderen“ mit seinem eigenen Sensorium. Was ihm an Augenlicht fehlt macht er bald schon mit musikalischem Genius wett. Und doch scheitert er als Familienvater, als Ehemann, Liebhaber und Freund immer wieder, bis er schließlich nach Anfällen von Wahn und Psychose verarmt. Die Parallelen zwischen der Hauptfigur und Charlie Parker, Roland Kirk oder Thelonious Monk waren durchaus gewollt. Auch die Hilflosigkeit, mit der Washington um die Liebe kämpft in einer Welt, die ihm kaum die Möglichkeit lässt, sich in der traditionellen Rolle des Mannes zu behaupten, ist weniger eine konservative Volte, als Ausdruck einer Gesellschaft, die dem Afroamerikaner weder Akzeptanz entgegenbringt noch Selbstwertgefühl zugesteht. Kelley selbst ließ diese Gesellschaft bald schon hinter sich. Er selbst gehörte zwar zum langsam wachsenden afroamerikanischen Bürgertum. Sein Vater war Chefredakteur der Zeitung Amsterdam News, dem Zentralorgan des schwarzen Amerika mit Redaktionssitz in Harlem. Kelley studierte an der Harvard Uni, gewann früh schon Literaturpreise. Es war dann ein Auftrag der Wochenzeitschrift Saturday Evening Post, die seinen Entschluss zementierte, Amerika mit seiner Frau und seinen Kindern zu verlassen. Kelley berichtete über den Prozess gegen die angeblichen Mörder des Bürgerrechtskämpfers Malcolm X. Er war fest überzeugt, dass die beiden Angeklagten Norman Butler und Thomas Johnson unschuldig waren. Beide wurden verurteilt, verbüßten lange Haftstrafen. Erst im November dieses Jahres wurden sie rückwirkend freigesprochen. 1967 zog die Familie nach Paris. Kelley unterrichtete an der American Academy. Nach der Ermordung Martin Luther King Jr.’s ein Jahr später übersiedelten sie nach Jamaika. Erst 1977 kehrten sie vollkommen pleite nach New York zurück. Kelley fand seinen Weg zurück ins akademische Leben. Er unterrichtete bis zu seinem Tode 2017 an der New School und am angesehenen Sarah Lawrence College. Literatur aber produzierte er nie mehr. Man weiß auch nicht, wie er den Marsch der afroamerikanischen Sprache durch die Institutionen beurteilte, den er ja entscheidend vorangetrieben hatte. Das Idiom bekam in den Siebzigerjahren sogar die akademischen Weihen. „Ebonics“ nannten afroamerikanische Akademiker diese Mundart. James Baldwin schrieb 1979 sein grundlegendes Essay „If Black English Isn't a Language, Then Tell Me, What Is?” (Wenn Schwarzes Englisch keine Sprache ist, was ist es dann?), das die New York Times veröffentlichte.
Die zentralen Begriffe aber haben den Weg vom Insider-Lingo zum Schimpfwort des konservativen Bürgertums schon durchlaufen. „Hipster“, seit den Dreißigerjahren bis ins späte 20. Jahrhundert Lichtgestalt der Subkulturen, ist heute ein Schimpfwort für dünkelhafte Modetrottel. „Woke“ wiederum beschrieb bei Kelley noch das Verständnis der Codes und Chiffren der Subkulturen, später das politische Bewusstsein der Progressiven, bis es vor ungefähr zehn Jahren mit den Protestbewegungen und der Identitätspolitik ins Vokabular der Mitte rückte. Heute ist es nur noch Schmähwort der Konservativen für die ideologisch verhärteten Flügel der progressiven Bewegung. Gleichzeitig ist das Wort ein Abwehrmechanismus gegen eine Gesellschaftsreform, in der auch die vermeintlich kleinsten Minderheiten eine Stimme im demokratischen Konsens haben, die nicht nur gehört wird, sondern mitentscheidet. In den USA regt sich seit diesem Jahr eine Debatte, in der Progressive und Konservative aus ihren jeweils eigenen Gründen fordern, das Wort einfach zu vergessen. Das ist viel historischer Bogen für einen Roman von nicht einmal 300 Seiten. Und doch steckt all das in dieser Fabel vom Trompeter Ludlow Washington, der als Symbolfigur einen Platz in der Kulturgeschichte verdient hat.
„Der Schwarze lacht über die
Weißen, die versuchen,
seine Sprache zu benutzen“
Für ein Experiment ließ
Kelley sich mit verbundenen
Augen durch New York führen
William Melvin Kelley:
Ein Tropfen Geduld.
Aus dem Englischen
von Kathrin Razum.
Hoffmann und Campe
Verlag, Hamburg, 2021.
288 Seiten, 24 Euro.
Meister der
Sprachschöpfungen,
festgehalten in
„Cab Calloway’s
Cat-ologue: A
,Hepster’s‘ Dictionary“:
Cab Calloway (oben). Unten der Autor
William Melvin Kelley.
Fotos: imago images/Everett Collection/Gail L. Anderson
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
William Melvin Kelley wollte die Sprache
der Afroamerikaner in die Hochkultur bringen,
doch er scheiterte am Rassismus
seiner Zeit. Endlich werden
seine Romane auch in Deutschland entdeckt
VON ANDRIAN KREYE
Lange bevor bayerische Schulkinder Erziehungsmaßnahmen als „Alman Move“ beschimpften oder Wörter aus den afrikanischen Sprachen und dem Arabischen den Umgangston französischer Großstädter in ein wunderbares Mosaik verwandelten, war das amerikanische Englisch die lebendigste Sprache der Moderne. Nirgendwo sonst gab es so viele Einwanderer- und Subkulturen, die zumindest in den Künsten und der Sprache ihren Platz fanden. Das war nicht immer nur ein organischer Prozess. Der Schriftsteller William Melvin Kelley gehörte in den Sechzigerjahren zu den Pionieren, die in der Literatur eine Öffnung der Sprache vorantrieben, die den Entwicklungen in der Gesellschaft weit voraus war.
In Amerika war er lange vergessen. Auch in Deutschland wurde William Melvin Kelley erst vor wenigen Jahren entdeckt. Der Hoffmann und Campe Verlag brachte 2019 seinen Debütroman „Ein anderer Takt“ heraus, den er schon 1962 veröffentlichte. Vor wenigen Wochen erschien nun der Nachfolger „Ein Tropfen Geduld“ aus dem Jahr 1965. Das schließt eine Lücke in der amerikanischen Kulturgeschichte, die sehr viel größer ist, als Kelleys schmales Werk von drei Romanen und einem Kurzgeschichtenband. Wobei „Ein Tropfen Geduld“ eben auch viel mehr ist, als nur ein Roman über einen blinden Jazzmusiker, der den Modern Jazz revolutioniert und doch an sich selbst scheitert. Das Buch ist eine raffinierte Metapher für die gleichzeitige kulturelle Überlegenheit und gesellschaftliche Isolation der afroamerikanischen Musiker und Literaten, die Mitte des 20. Jahrhunderts einen intellektuellen Aufbruch des schwarzen Amerikas in den Kanon der Hochkultur begannen.
Man kann Kelleys Bedeutung am besten erklären, wenn man sie mit einem Infohappen aufheizt. William Melvin Kelley war der Erste, der das Wort „woke“ in Schriftform verewigte. Das war in einem Essay mit dem Titel „If You're Woke You Dig It; No mickey mouse can be expected to follow today's Negro idiom without a hip assist. If You're Woke You Dig It”. Das kann man ungefähr so übersetzen, dass man – wenn man das Verständnis für die Gegenwart und ihre Subkulturen hat – schon begreift, dass Witzfiguren das Idiom der Afroamerikaner nur verstehen, wenn sie jemanden haben, der sich da auskennt und sie durchführt, was man wiederum auch nur versteht, wenn man geistig wach genug ist. Solche gedanklichen Purzelbäume waren das sprachliche Äquivalent zu den rasend schnellen Gedankensprüngen, mit denen die Musiker des Bebop die Nervosität der Großstadt und die Energie der Moderne in ihre Soli packten und gleichzeitig die Hörgewohnheiten des Bürgertums überforderten.
Der Text erschien am 20. Mai 1962 in der New York Times. Kelley beginnt seine Ausführungen mit einem Plakat, mit dem die New York Transit Authority die Fahrgäste in 21 Sprachen bittet, die U-Bahn sauber zu halten. Eine „Sprache“ fällt ihm da besonders ins Auge: „Beatnik“. So hatten die Werbetexter den Jargon jener Bohèmekultur selben Namens genannt, die sich im Downtown Manhattan der Fünfzigerjahr um die Literaten Jack Kerouac und Allen Ginsberg scharte. Der Slogan „This is your train, take care of it“, liest sich dann so: „Hey cats, this is your swinging-wheels, so dig it and keep it boss!”. Das lässt sich schwerlich übersetzen, aber alleine die Sprachmelodie verrät, wie angestrengt da eine bürgerliche Institution versuchte, den Jargon der Jazzmusiker zu imitieren. Der war alles andere als neu. Der Bandleader Cab Calloway war ein Meister der Sprachschöpfungen, die sich bis heute im amerikanischen Vokabular gehalten haben, wie „hip“ als Adjektiv für subkulturelle Authentizität, „high“ für berauscht, „Apple“ als Ortsmarke für Manhattan. Der hatte schon 1938 ein Wörterbuch mit dem Titel „Cab Calloway’s Cat-ologue: A ,Hepster’s‘ Dictionary“ herausgebracht, nicht zuletzt, um seinen Anspruch an diesen Sprachschöpfungen zu zementieren.
Kelley suchte in seinem Essay nach den Wurzeln dieser Sprache. Weil sie keine Schriftsprache und auch kein Forschungsfeld der Wissenschaften war, konnte er ihren Ursprung nur vermuten. Wahrscheinlich sei der afroamerikanische Dialekt zur selben Zeit wie die Spirituals entstanden, mit denen Sklaven Nachrichten kodierten. So habe ihm seine Großmutter erzählt, dass das Wort „Ofay“, mit dem Afroamerikaner Weiße bezeichneten, das Wort „foe“ (Feind) in der „pig-latin“-Spielsprache von Kindern verklausulierte.
Geheimhaltung, Ab- und Ausgrenzung hätten sich überlebt, schreibt Kelley. Schwarze wollten genauso in gehobenen Vierteln wohnen, schöne Autos fahren und ihre Kinder auf gute Schulen schicken können, wie alle anderen Amerikaner auch. Sie verachteten den „schäbig gekleideten“ Beatnik. Der Grund, diese Mundart immer noch zu pflegen, sei eher der Stolz auf etwas, das nur ihnen gehöre und das nur sie beherrschten. „Der Schwarze lacht über die Weißen, die versuchen, seine Sprache zu benutzen. Die gleiche Freude empfindet er, wenn er erlebt, wie ein weißes Publikum bei einem Jazzkonzert beim ersten und dritten Schlag klatscht. Ich habe einmal gesehen, wie ein schwarzer Musiker mitten in einer Nummer aufhörte zu spielen und dem Publikum sagte, er spiele keinen Marsch, sondern Jazz, und es solle bitte auf zwei und vier klatschen.“
Was William Melvin Kelley damals beobachtete war der Marsch durch die Institutionen, den seither viele Subkulturen durchliefen, egal ob Jazz, Hippies oder Hip-Hop. Das Idiom der Jazz-Hipster hatte 1962 schon die ersten Schritte vollzogen. Die Popkultur der meist weißen Bürgerkinder hatte die Sprache und Musik der Schwarzen usurpiert, die Generation ihrer Eltern sie angenommen. Dann hatten die Mechanismen der Vermarktung zugegriffen, wie eben die Werbetexter für die New Yorker U-Bahn. Kelley selbst vollzog eigentlich den letzten Schritt und brachte die Sprache in die Literatur und damit in den akademischen Kanon. „Ein anderer Takt“ behandelte das Idiom noch als Charakteristikum. In „Ein Tropfen Geduld“ ist es dann schon die Sprache der Hauptfiguren. Kelley war nicht der erste Autor, der die afroamerikanische Sprache literarisierte. Paul Laurence Dunbar und Nora Zeale Hurston hatten sie verarbeitet. Doch bei Kelley hatte die Verwendung der Sprachform einen kämpferischen Kern. Sein dritter Roman trug die Sprache dann auch im Titel. „d m“ war die afroamerikanische Sprech- und Schreibweise des Ausgrenzungspronomens „them“. Für den Roman hatte sich Kelley sogar eine eigene Orthografie erarbeitet, um der afroamerikanischen Sprache gerecht zu werden.
In der deutschen Übersetzung geht diese Sprachebene verloren. Zum Glück, denn es gibt keine Parallele im Deutschen, weder historisch noch sprachlich. Das macht die Übersetzung von Kathrin Razum nicht weniger lesenswert. In ihrer Zurückhaltung, was die Eigenheiten des Idioms angeht, arbeitet sie dafür die Stärken der Figuren und Handlungen heraus. Die Figur des blinden Trompeters Ludlow Washington ist da so etwas wie die Fortsetzung des namenlosen Erzählers aus Ralph Ellisons „Der unsichtbare Mann“. Kelley hatte für seinen Kunstgriff die Blindheit an sich selbst durchexerziert, hatte sich von seiner Frau der Malerin Aiki die Augen für U-Bahnfahrten und Mahlzeiten verbinden lassen. So erlebt Ludlow Washingon die Welt der „anderen“ mit seinem eigenen Sensorium. Was ihm an Augenlicht fehlt macht er bald schon mit musikalischem Genius wett. Und doch scheitert er als Familienvater, als Ehemann, Liebhaber und Freund immer wieder, bis er schließlich nach Anfällen von Wahn und Psychose verarmt. Die Parallelen zwischen der Hauptfigur und Charlie Parker, Roland Kirk oder Thelonious Monk waren durchaus gewollt. Auch die Hilflosigkeit, mit der Washington um die Liebe kämpft in einer Welt, die ihm kaum die Möglichkeit lässt, sich in der traditionellen Rolle des Mannes zu behaupten, ist weniger eine konservative Volte, als Ausdruck einer Gesellschaft, die dem Afroamerikaner weder Akzeptanz entgegenbringt noch Selbstwertgefühl zugesteht. Kelley selbst ließ diese Gesellschaft bald schon hinter sich. Er selbst gehörte zwar zum langsam wachsenden afroamerikanischen Bürgertum. Sein Vater war Chefredakteur der Zeitung Amsterdam News, dem Zentralorgan des schwarzen Amerika mit Redaktionssitz in Harlem. Kelley studierte an der Harvard Uni, gewann früh schon Literaturpreise. Es war dann ein Auftrag der Wochenzeitschrift Saturday Evening Post, die seinen Entschluss zementierte, Amerika mit seiner Frau und seinen Kindern zu verlassen. Kelley berichtete über den Prozess gegen die angeblichen Mörder des Bürgerrechtskämpfers Malcolm X. Er war fest überzeugt, dass die beiden Angeklagten Norman Butler und Thomas Johnson unschuldig waren. Beide wurden verurteilt, verbüßten lange Haftstrafen. Erst im November dieses Jahres wurden sie rückwirkend freigesprochen. 1967 zog die Familie nach Paris. Kelley unterrichtete an der American Academy. Nach der Ermordung Martin Luther King Jr.’s ein Jahr später übersiedelten sie nach Jamaika. Erst 1977 kehrten sie vollkommen pleite nach New York zurück. Kelley fand seinen Weg zurück ins akademische Leben. Er unterrichtete bis zu seinem Tode 2017 an der New School und am angesehenen Sarah Lawrence College. Literatur aber produzierte er nie mehr. Man weiß auch nicht, wie er den Marsch der afroamerikanischen Sprache durch die Institutionen beurteilte, den er ja entscheidend vorangetrieben hatte. Das Idiom bekam in den Siebzigerjahren sogar die akademischen Weihen. „Ebonics“ nannten afroamerikanische Akademiker diese Mundart. James Baldwin schrieb 1979 sein grundlegendes Essay „If Black English Isn't a Language, Then Tell Me, What Is?” (Wenn Schwarzes Englisch keine Sprache ist, was ist es dann?), das die New York Times veröffentlichte.
Die zentralen Begriffe aber haben den Weg vom Insider-Lingo zum Schimpfwort des konservativen Bürgertums schon durchlaufen. „Hipster“, seit den Dreißigerjahren bis ins späte 20. Jahrhundert Lichtgestalt der Subkulturen, ist heute ein Schimpfwort für dünkelhafte Modetrottel. „Woke“ wiederum beschrieb bei Kelley noch das Verständnis der Codes und Chiffren der Subkulturen, später das politische Bewusstsein der Progressiven, bis es vor ungefähr zehn Jahren mit den Protestbewegungen und der Identitätspolitik ins Vokabular der Mitte rückte. Heute ist es nur noch Schmähwort der Konservativen für die ideologisch verhärteten Flügel der progressiven Bewegung. Gleichzeitig ist das Wort ein Abwehrmechanismus gegen eine Gesellschaftsreform, in der auch die vermeintlich kleinsten Minderheiten eine Stimme im demokratischen Konsens haben, die nicht nur gehört wird, sondern mitentscheidet. In den USA regt sich seit diesem Jahr eine Debatte, in der Progressive und Konservative aus ihren jeweils eigenen Gründen fordern, das Wort einfach zu vergessen. Das ist viel historischer Bogen für einen Roman von nicht einmal 300 Seiten. Und doch steckt all das in dieser Fabel vom Trompeter Ludlow Washington, der als Symbolfigur einen Platz in der Kulturgeschichte verdient hat.
„Der Schwarze lacht über die
Weißen, die versuchen,
seine Sprache zu benutzen“
Für ein Experiment ließ
Kelley sich mit verbundenen
Augen durch New York führen
William Melvin Kelley:
Ein Tropfen Geduld.
Aus dem Englischen
von Kathrin Razum.
Hoffmann und Campe
Verlag, Hamburg, 2021.
288 Seiten, 24 Euro.
Meister der
Sprachschöpfungen,
festgehalten in
„Cab Calloway’s
Cat-ologue: A
,Hepster’s‘ Dictionary“:
Cab Calloway (oben). Unten der Autor
William Melvin Kelley.
Fotos: imago images/Everett Collection/Gail L. Anderson
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