Bliss Broyards Geschichte ihres Vaters, der seine Herkunft verschwieg, um als weißer Literaturkritiker zu einer der einflussreichsten Stimmen im amerikanischen Literaturleben zu avancieren, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, mit welcher Macht die Frage nach der rassischen Herkunft bis in unsere Tage über Lebensschicksale bestimmt. PUBCOMMENTS: Im New Orleans der zwanziger Jahre geboren, wächst Anatole in einer Familie kreolischer Abstammung auf. Die Familie gilt als schwarz. Nach dem Umzug von New Orleans nach New York wechselt er Ende der dreißiger Jahre als junger Mann seine Identität – die Hautfarbe ist „hell genug“ dafür – und beginnt eine Laufbahn als weißer Schriftsteller im Künstlerviertel Greenwich Village. Seine Frau weiß von seiner Herkunft, seine beiden Kindern Bliss und Todd ahnen nichts. Sie wachsen wohlbehütet im vornehmen Connecticut auf, besuchen teure Schulen.. Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 bringt es Anatole Broyard nicht über sich, seinen Kindern die Wahrheit zu erzählen. Als Bliss schließlich das Geheimnis von ihrer Mutter erfährt, ist plötzlich alles anders: Nicht nur die Persönlichkeit ihres Vaters steht mit einem Mal in einem völlig neuen Licht da, sondern auch das eigene Selbstbild ist in Frage gestellt. Eine Identitätssuche beginnt. Bliss Broyard begibt sich auf die Spuren ihres Vaters. Die in den Südstaaten der USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts gültige „Ein-Tropfen-Regel“ besagt, dass jede Person, die auch nur eine Spur afroamerikanischer Abstammung in ihrem Stammbaum besitzt, als schwarz zu gelten hat. Es ist dieser eine Tropfen, der das Leben von Grund auf verändert. Bliss Broyard gibt in ihrem Buch nicht nur eindrückliche Einblicke in Geschichte der Rassentrennung in den USA, sondern zeichnet das ebenso kritische wie einfühlsame Porträt ihres Vaters, eines Mannes, der den Widersinn, die Willkür und die Ungerechtigkeit der Rassendiskrimierung in sich verkörperte, indem er sich gegen seine Vergangenheit entschied.
Bliss Broyard lebt als Autorin in New York. Im Berlin Verlag erschien von ihr der Erzählungsband Mein Vater, tanzend (2001).
Bliss Broyard lebt als Autorin in New York. Im Berlin Verlag erschien von ihr der Erzählungsband Mein Vater, tanzend (2001).
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Berührt zeigt sich Sylvia Staude von Bliss Broyards Buch über ihren Vater Anatole Broyard, der seine schwarze Herkunft verschwiegen hat, um seine Rolle als einer der bedeutendsten Literaturkritiker der USA nicht zu gefährden. Sie berichtet, dass die Autorin, die erst nach dem Tod Anatoles von ihren schwarzen Wurzeln erfahren hat, Verwandte aufgesucht hat, zu denen ihr Vater den Kontakt abgebrochen hatte, weil sie als farbig erkennbar waren. "Ein Tropfen" erzählt für Staude aber nicht nur die Geschichte von Bliss' Vater sowie ihre weit zurückreichende Familiengeschichte, sie sieht darin auch ein teilweise "herzzerreißend introspektives" Buch und den leidenschaftlichen Versuch Broyards, in die Seele ihres Vaters zu blicken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der amerikanische Literaturkritiker Anatole Broyard war schwarz und wollte es nicht sein. Jetzt hat seine Tochter Bliss ein Buch über sein Geheimnis geschrieben
Als er starb und sein Geheimnis enthüllt wurde, gab es unter den New Yorker Intellektuellen nicht wenige, die behaupteten, es lange gewusst und nur nicht darüber gesprochen zu haben. Anatole Broyard, ein Schwarzer? Der berühmte Literaturkritiker von der "New York Times" mit seiner weißen Haut, seiner weißen Familie? Mit seinem Leben in Southport, Connecticut, wo er Mitglied eines Yachtclubs gewesen war, welcher nie ein schwarzes Mitglied gesehen hatte? Konnte das denn sein? Zu denen, die bis 1990, kurz vor Anatole Broyards Krebstod, nicht die geringste Ahnung hatten, gehörten seine eigenen Kinder. Broyard war schon schwer krank, als seine Frau ihn am Krankenbett überreden wollte, endlich sein Schweigen zu brechen: "Gibt es etwas, das du deinen Kindern gern sagen würdest, bevor du stirbst?" Aber er sträubte sich, wollte es noch einmal aufschieben, noch einmal darüber nachdenken, wie er es erzählen könnte, denn auf das Wie kam es an. "Ich sag's euch, aber nicht heute."
Bliss Broyard war vierundzwanzig, als die Mutter mit der Wahrheit herausrückte. Wenn er es nicht tat, dachte sie, musste sie es tun. "Und mein Bruder und ich lachten", erzählt sie. "Das ist das Geheimnis? Dass Daddy teilweise schwarz ist? Wir waren fast ein bisschen enttäuscht und fragten uns, wie schwarz er denn überhaupt sein könne, da er schließlich gar nicht so aussah. Seine Eltern seien hellhäutige Kreolen aus New Orleans gewesen und hätten sich, um in den dreißiger Jahren in New York Arbeit zu finden, als Weiße ausgegeben, erklärte meine Mutter, was meinen Vater in Verwirrung darüber gestürzt habe, was seine Familie denn nun eigentlich sei. Er war der hellhäutigste der drei Geschwister. Dass seine beiden Schwestern als Schwarze lebten, war einer der Gründe, warum er kaum noch Kontakt zu ihnen hatte. Als Kind in Brooklyn, wohin die Familie zog, als er sechs Jahre alt war, wurde er von schwarzen Kindern genauso ausgegrenzt wie von weißen - den einen war er nicht schwarz genug, die anderen wussten, dass seine Familie schwarz war. Er habe uns nichts von seiner Abstammung erzählt, sagte Mom, weil er seinen Kindern ersparen wollte, dasselbe durchzumachen."
Die verleugnete Familie
Achtzehn Jahre ist das jetzt her, und in all diesen Jahren hat Bliss Broyard sich an dem über alles geliebten Übervater abgearbeitet, an einem Mann, der nicht nur ein gefürchteter Literaturkritiker, sondern auch ein großer Charmeur und Dandy gewesen sein muss, ein ausgezeichneter Tänzer und eine schillernde Figur schon im Greenwich Village der vierziger Jahre, wo er einen unerhörten Vorschuss für einen Roman kassierte, den er nie schrieb, von dem aber alle wussten, dass er angeblich daran arbeitete. Anatole Broyard, das war die Verkörperung amerikanischer Selbsterfindung, wie man sie aus Fitzgeralds "Der große Gatsby" kennt, einer, der sich buchstäblich gemacht hatte. Wie unerbittlich er sich dafür von der eigenen Familie loszusagen bereit war, sie verleugnete, konnte die Tochter erst nach seinem Tod erahnen. Bliss fuhr nach New Orleans, spürte noch die entferntesten Verwandten auf und landete immer bei derselben Frage: "War das, was meinen Vater antrieb, Selbsterhaltung oder Selbsthass? War er ein Held oder ein Schurke?"
"Ein Tropfen. Das verborgene Leben meines Vater" heißt das Buch über "Hautfarbe und Familiengeheimnisse", das aus ihren Recherchen hervorgegangen ist. Es ist sechshundert Seiten dick - und beinahe ungeduldig wartet man beim Lesen darauf, dass die Vatergeschichte endlich beginnen möge, eine Geschichte, von der es immerhin heißt, dass sie, da war Broyard schon gestorben, von Philip Roth in "Der menschliche Makel" weiterphantasiert worden sei. Doch wählt Bliss Broyard nicht den direkten Weg, schreibt keine bloße Erinnerung, kein "memoir", wie man das in Amerika nennt. Was sie erzählt und, das leuchtet schnell ein, erzählen muss, um die kreolische Herkunft des Vaters zu ergründen, ist eine Geschichte der Südstaaten, die sie mit der unverhohlenen genealogischen Obsession, in ihrer eigenen Familie einen schwarzen Sklaven als Ahnen zu finden, bis vor den amerikanischen Bürgerkrieg zurückverfolgt. Erst ein Sklave, meint sie, könnte die Familie als "schwarz" legitimieren. Aber sie findet keinen. Die Vorfahren stellen sich als "free blacks" heraus, freie Schwarze, die in New Orleans zur Mittelschicht gehörten. Und so wirft die Autorin ihre voreilige Geschichtsromantik schnell wieder über den Haufen.
"Über Familiengeheimnisse zu schreiben", erzählt Bliss Broyard in Brooklyn, wo sie, mittlerweile 42 und gerade schwanger, mit ihrer eigenen kleinen Familie lebt, "ist allein schon eine delikate Angelegenheit, bei der es darauf ankommt, dass man sich nichts in die Tasche lügt, sich selbst gegenüber aufrichtig bleibt. Dass es bei diesem Geheimnis auch noch um Hautfarbe geht, macht es nicht einfacher. Man muss sich sehr genau befragen und nichts verhehlen, finde ich."
Das enthüllte Geheimnis
Die amerikanische Kritik war damit nicht nur einverstanden: "Was sollen wir mit der atemberaubenden Bemerkung anfangen, dass, als Bliss Broyard von ihrer schwarzen Herkunft erfährt, sie begreift, warum sie schon immer eine fabelhafte Tänzerin war?", fragte ein Rezensent, als wolle er ihr positiven Rassismus unterstellen. "Warum meint sie, bemerken zu müssen, dass sie ,unerklärlich froh' war, als O. J. Simpson, den sie für schuldig hält, freigesprochen wurde?" Dabei liegt in der bewussten Blöße, die sie sich gibt, die Stärke ihres Buchs. Denn natürlich stellt sich Bliss Broyard vor den Spiegel, sucht bei sich Spuren eines väterlichen Erbes, mit dem sie nie rechnen konnte. Was, fragt sie sich, habe ich von ihm - so, wie es jeder tun würde, wenn die eigene Identität plötzlich in Frage steht. Wer bin ich, wenn er auch das war, was er mir verheimlichte? "Ein Tropfen", benannt nach der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den Südstaaten geltenden "Ein-Tropfen-Regel", die besagte, dass jede Person, die auch nur eine Spur afroamerikanischer Abstammung im Stammbaum habe, als schwarz gelte, erzählt den Prozess dieser Reflexion als eine Selbsterprobung vor dem Hintergrund von Geschichte und Gegenwart. Es ist Anatoles, aber es ist vor allem auch Bliss Broyards Geschichte.
Als der Vater gerade gestorben war, gab es für sie keine schlimmere Vorstellung als die, jemand anderes könne den Vater zum Gegenstand einer öffentlichen "Enthüllung" machen. Es saß aber schon jemand in den Startlöchern, rief sie an, um bei Broyards Tochter Erkundigungen einzuholen. Bliss weigerte sich, Auskunft zu geben, was Henry Louis Gates, Leiter des Instituts für afroamerikanische Forschung in Harvard, nicht davon abhielt, seine detaillierte und gut recherchierte Broyard-Erkundung 1996 im "New Yorker" zu veröffentlichen, die sicher auch Philip Roth gelesen haben wird ("Der menschliche Makel" erschien 2000). Da war das Geheimnis, das für manche angeblich gar keines war, dann gelüftet.
Schwer vorstellbar, wie Anatole Broyard reagiert hätte, wenn zu seinen Lebzeiten jemand darüber geschrieben hätte. Einmal konnte er es verhindern: Um 1950 hatte Broyards Freund und Trauzeuge Chandler Brossard damit begonnen, einen Schlüsselroman über Greenwich Village in den vierziger Jahren zu schreiben: "Henry Porter, hieß es, war ein Neger, der die Seiten gewechselt hatte. Aber das wusste man nicht mit Sicherheit", lauteten die ersten Sätze des Manuskripts, die er dem Freund zeigte und gegen die Broyard sich auflehnte. In der Version, die schließlich veröffentlicht wurde, war Henry Porter einfach nur ein uneheliches Kind - und die Freundschaft der beiden Autoren zerbrochen. Brossard hatte den wunden Punkt berührt: In seiner Darstellung war Henry Porter/Broyard keiner, der sich selbst erfand, sondern einer, der vorgab, etwas zu sein, was er nicht war. Genauso sah es Broyards Familie.
1963, Anatole Broyard war mit seiner Familie aufs Land gezogen, brachte das Fernsehen Abend für Abend Bilder von der Bürgerrechtsbewegung. In Birmingham, Alabama, wurden schwarze Teenager mit Wasserwerfern und Hunden in die Flucht geschlagen; Martin Luther King führte Hunderttausende Männer und Frauen auf den Marsch nach Washington; Krawalle legten Harlem und Bedford-Stuyvesant lahm. Und Broyard passte das alles nicht. Er weigerte sich, Rasse zu einer Bewegung zu machen, sich mit dem Programm einer Gruppe zu identifizieren. Freunde begannen bei ihm damals, eine neue Schärfe in Rassenfragen wahrzunehmen. Oft sagte er jetzt "Nigger" und "Bimbo" und machte abfällige Bemerkungen über Schwarze. Der Schriftsteller Charles Simmons hält daran fest, diese Bemerkungen seien ironisch gewesen. Doch ging Broyard auch später in Buchkritiken mit schwarzen Autoren viel strenger ins Gericht als mit weißen. Da war er, der Selbsthass. Die andere, abgründige Seite der Idee der Selbsterfindung.
Brief an Philip Roth
Warum sie Roth' Roman in ihrem Vaterbuch gar nicht erwähne? Die Parallelen mit Roth' Figur des Coleman Silk, einem Professor schwarzer Herkunft, der sich als Weißer ausgibt und wegen einer eigentlich unbedeutenden Äußerung als Rassist verfolgt wird, seien doch unglaublich, gerade in der Beschreibung seiner charismatischen Erscheinung? "Ich habe keinen Kontakt zu Roth", sagt Bliss Broyard. "Einmal habe ich ihn kennengelernt, auf meiner ersten Literatur-Party, ich war sehr jung, und es ist lange her. Ich wollte die Geschichte auch nicht mit Roth aufbauschen, wollte bescheiden bleiben", wobei sie dann ganz unbescheiden hinzufügt, sie habe, als das Buch fertig war, Philip Roth einen Brief geschrieben und ihn gefragt, ob er ihr nicht ein paar Zeilen für den Klappentext schreibe. Aber es kam nie eine Antwort.
Liest man Roth' zum Niederknien großartigen Roman noch einmal, jetzt, wo man Broyards Geschichte kennt, hat man fast den Eindruck, ihn untergründig, möglicherweise unbewusst, in Bliss Broyards Beschreibungen wiederzufinden: Die Tochter, meint man, hat noch einmal alles aufgesogen, was über ihren Vater geschrieben wurde und was er selbst schrieb; "Verrückt nach Kafka" heißt ein nach seinem Tod erschienenes Buch, Kafka war seine Lieblingsreferenz. Und nun projiziert sie Kafkas "Prozess", Kafkas "Verwandlung" oder eben auch Roth' Coleman Silk zurück auf den Vater, macht aus ihm eine Art literarische Figur, ohne ihn zum Mythos werden zu lassen. "Mein Vater", erzählt sie, "beurteilte Menschen nach ihrer Bibliothek, das war es, was für ihn zählte. Er war ein vollkommen ästhetisch orientierter Mensch, politische Romane interessierten ihn wenig. Er ging auch nie zur Wahl." - "Dann wäre er, hätte er noch gelebt, auch nicht zur Wahl gegangen und hätte Barack Obama gewählt?" - "Wahrscheinlich nicht." - "Und wie, meinen Sie, hätte er auf Obamas Wahlsieg reagiert?" - "Ich weiß nicht, ich traue ihm zu, dass er gesagt hätte, schwarz bin ich auch!" So beschreibt das Buch auch das Ende einer Ära. Mit Barack Obama ist das beklemmende Geheimnis von Anatole Broyard in gewisser Weise Geschichte geworden. Man atmet auf.
JULIA ENCKE
Bliss Broyard: "Ein Tropfen. Das verborgene Leben meines Vaters". Berlin-Verlag, 608 Seiten, 24 Euro
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