"Ein wenig Leben" handelt von der lebenslangen Freundschaft zwischen vier Männern in New York, die sich am College kennengelernt haben. Jude St. Francis, brillant und enigmatisch, ist die charismatische Figur im Zentrum der Gruppe - ein aufopfernd liebender und zugleich innerlich zerbrochener Mensch. Immer tiefer werden die Freunde in Judes dunkle, schmerzhafte Welt hineingesogen, deren Ungeheuer nach und nach hervortreten. "Ein wenig Leben" ist ein rauschhaftes, mit kaum fasslicher Dringlichkeit erzähltes Epos über Trauma, menschliche Güte und Freundschaft als wahre Liebe. Es begibt sich an die dunkelsten Orte, an die Literatur sich wagen kann, und bricht dabei immer wieder zum hellen Licht durch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2017Herzgewächse im Schatten der Vergangenheit
Hanya Yanagiharas großer, in jedem Sinne zeitloser Roman "Ein wenig Leben"
Es tut mir leid. I'm sorry. Wie viele Male fällt auf fast tausend Seiten dieser Satz? Unzählige Male, und fast immer stammt er aus dem Mund von Jude St. Francis. Dessen Leben bekommen wir erzählt, von seiner Aufnahme als Waise frühkindlichen Alters in einer kirchlichen Fürsorgeeinrichtung bis zum Tod mit Mitte fünfzig und sogar noch sechs Jahre darüber hinaus, denn mit einem wie Jude wird man nicht fertig. Sein ständiges Bedauern ist pathologisch wie seine ganze Existenz, und doch ist er umgeben von einer Gemeinschaft treuer Freunde, die wie er sämtlich großen Erfolg im Leben haben: Seine Jugendfreunde Willem Ragnasson, JB Marion und Malcolm Irvine werden zu Stars in ihrem jeweiligen Metier: dem Kino, der Malerei, der Architektur. Sein Adoptivvater Harold Stein ist der renommierteste Juraprofessor der Vereinigten Staaten, sein Arzt Andy Contractor ein brillanter Mediziner. Und Jude selbst, ein Wunder an Wissen, wird Partner in einer großen Anwaltskanzlei, Willem schließlich seine große Liebe. "Die Karriere, das Geld, die Wohnung, den Mann. Womit", fragt JB nach drei Vierteln des Buchs seinen Freund Jude, "hast du dieses Glück bloß verdient?" Und Jude antwortet: "Weißt du, ich habe schon immer Glück gehabt." Er lügt.
Wir Leser wissen das, die Menschen im Buch aber nicht. Noch nicht. So wie wir es lange nicht wussten. Dass mit Jude etwas nicht stimmt, merkt man schnell, doch was es ist, das wird erst nach und nach offenbar. Beim Einstieg in die Handlung ist das Jugendfreundesquartett schon Anfang zwanzig, Jude und Willem, noch lange kein Liebespaar, suchen eine billige Wohnung in New York. Alle stehen am Anfang, nur Jude hat schon ein Leben hinter sich, denn er musste mit einer Vergangenheit brechen, die ihn gebrochen hat. Was er will, sagt der Titel des Romans: ein wenig Leben. Richtiges, unbeschwertes, freudiges. Im amerikanischen Original heißt das Buch "A Little Life". Das ist weniger als wenig, ein kleines Leben eben, und zugleich auch mehr, denn es ist auch ein ganzes Leben - wenn auch klein. Robert Seethaler hat einen schmalen Erfolgsroman mit einem großen Titel geschrieben: "Ein ganzes Leben". Daran verblüfft, dass man tatsächlich in knapp mehr als 150 Seiten ein ganzes Leben in all seinen Facetten beschreiben kann, man vermisst nichts. An "Ein wenig Leben", beim selben deutschen Verlag erschienen und mit allen Aussichten, ein ähnlicher Erfolg wie Seethalers Buch zu werden, verblüfft dagegen, dass man fast tausend Seiten für angeblich wenig Leben lesen soll. Doch am Ende wünscht man sich, es würde weitergehen. Noch ein wenig Lesen, bitte. Aber los wird man das Buch ohnehin nicht mehr.
Was Hanya Yanagihara da gelungen ist, einer Amerikanerin hawaiianischer Abstammung, kann man daran ermessen, dass dieses Buch, ihr erst zweiter Roman (und der erste ins Deutsche übersetzte), fassungslos macht. Nicht gleich, nicht nach einem Auftakt, der erst einmal den Eindruck erweckt, vier Parallelbiographien zu erzählen. Ganz konventionell werden da wechselnde Figuren ins Zentrum gesetzt, allerdings auch schon mit einer Erzählstimme, die von Stephan Kleiner so gekonnt ins Deutsche gebracht ist, dass man die großen Vorbilder heraushört, die Yanagihara ersichtlich hat und auch erreicht: Tom Wolfe, den frühen James Joyce und Don DeLillo. Und wer sich nicht spätestens auf Seite 40 durch die Schilderung einer Subway-Fahrt gefangennehmen und forttragen lässt, dem ist nicht zu helfen. "Was er an seinen abendlichen Fahrten noch liebte, war das Licht, die Art und Weise, wie es die Wagen füllte wie etwas Lebendiges, wenn die Bahn über die Brücke ratterte, wie es die Müdigkeit von den Gesichtern seiner Sitznachbarn wusch und sie so zeigte, wie sie gewesen waren, als sie in dieses Land gekommen waren, als sie jung waren und Amerika noch für bezwingbar hielten. Er sah diesem Licht dabei zu, wie es den Bahnwagen mit Sirup füllte, Stirnfalten fortwischte, graue Haare polierte, bis sie golden leuchteten, das aggressive Leuchten billiger Stoffe sanft auf einen feinen Schimmer reduzierte. Und dann trieb die Sonne davon, der Wagen ratterte gleichgültig von ihr fort, und die Welt nahm wieder ihre normalen traurigen Formen und Farben an, die Menschen ihren normalen traurigen Zustand, eine Veränderung, die sich so grob und abrupt vollzog, als wäre sie vom Zauberstab eines Magiers herbeigeführt worden."
Man könnte vermuten, das entspräche auch der Erzähltechnik des Buchs, das uns immer wieder nach strahlenden Passagen wie dieser zu Ereignissen aus Judes Leben, dem verschwiegenen wie dem aktuellen, verschlägt, die den Boden unter den Füßen rauben. Zunächst Szenen der Gewalt gegen sich selbst. Unter seiner nachlässig weiten Kleidung verbirgt sich ein malträtierter Körper, und ständig fügt Jude sich neue Verletzungen zu. Er ist ein Ritzer, der sich nur mit äußerlichem Leiden über das noch größere Leid in seinem Inneren hinwegretten kann. Doch wir erfahren auch früh, dass er als Jugendlicher erst mit orthopädischen Gestellen wieder ans Laufen gekommen ist, dass sein Rücken vernarbt ist, seine Seele verwundet. Jude ist ein Schmerzensmann, und benannt wurde das namenlose Findelkind im katholischen Heim nach Judas Thaddäus, dem Schutzpatron der Hoffnungslosen.
Es ist viel, was Yanagihara dieser Figur, die sich nach hundert Seiten als Hauptprotagonist erweist, aufbürdet. Und das Pathos, das dieser Roman anschlägt, ist nahezu ohne Beispiel. Zugleich aber auch sein Verlangen nach Schönheit, das einen ganzen Kreis von Schutzpatronen um Jude versammelt, die alle wie Abziehbilder wirken könnten, dienten sie einzig der Schaffung eines Kontrastes zu dieser gebrochenen Persönlichkeit, in der alle anderen aber eine Schönheit erkennen, die ihre eigene weit übersteigt. Nur Jude akzeptiert das nicht, und dass man als Leser an ihm verzweifelt, wenn er an sich zweifelt, ist eine große literarische Leistung, denn die Faszination für ihn lässt bei der Lektüre ebenso wenig nach wie bei seinen Freunden. Es ist, als hätten wir einen unschuldigen Humbert Humbert vor uns.
Jude ist ein sexuelles Opfer, zunächst unschuldig als Kind, dann durch die verzweifelte Suche nach einer Liebe, die in Kategorien gegenseitiger Erfüllung gelebt wird, doch da er sich nicht öffnet, wird sein Schweigen auch ausgenutzt. Denn wo es Engel gibt wie die Menschen um Jude, da sind auch Teufel, drei an der Zahl in diesem Buch, die jeweils Jude vergewaltigen und im doppelten Sinne so zurichten, dass man keinen Menschen mehr in ihm erkennen kann. Und so sieht er sich denn auch selbst nicht mehr als einer.
Das alles hat Yanagihara neben euphorischer Begeisterung in den Vereinigten Staaten auch harsche Kritik eingetragen. Maßlosigkeit wird ihr vorgehalten, manichäische Figurenkonstruktion, und das stimmt, doch es ist meisterhaft, weil hier der uralte Konflikt von Gut und Böse auf eine Art durchgespielt wird, die zwischen den beiden Polen eine kleine Magnetnadel hin und her kreisen lässt, und es nie klar ist, wohin es Jude ziehen wird. Solche Unklarheit erzeugt Spannung. Moralische Unklarheit gestattet Yanagihara weder sich noch ihren Figuren.
Die Vergangenheit vergleicht Jude einmal - sehr spät im Buch und natürlich nur für sich - mit einer Krebserkrankung, die er nicht bekämpft, sondern ignoriert habe. Das ist wahr, doch zugleich auch eine der vielen ausgelegten Fährten in diesem Roman, die auf gängige Pfade der Psychologie zu führen scheinen. Tatsache aber ist, dass "Ein wenig Leben" alles andere als konventionelle Wege beschreitet, und das ist es, was verstörend daran wirken kann. So gibt es etwa, obwohl über mehr als ein halbes Jahrhundert erzählt wird, nur einen einzigen, wohl unfreiwilligen Hinweis auf die Handlungszeit: Es wird ein Kunstwerk des jungen JB erwähnt, das die "nuller Jahre" darstellt, so dass man wohl einen Handlungszeitraum von etwa 1990 bis 2050 ansetzen kann. Aber das Großartige ist, dass man keinen zeitlichen Bezug vermisst, dass sich auch gar nichts ändert: technisch oder politisch. Wir blicken in eine isolierte Erzählwelt, die aber deshalb allgemeingültig wirkt, weil sich darin Grundlegendes zur menschlichen Existenz abspielt.
Dass eine Frau ein Buch schreibt, das fast nur von Männern erzählt und dazu von Liebe jeder Art unter Männern - der bösesten wie der besten -, ohne dass Homosexualität problematisiert würde, das erweist "Ein wenig Leben" in Analogie zur Science-Fiction als Social Fiction, deren Pathos aus der Selbstsicherheit der ästhetischen wie gesellschaftlichen Ideale der Autorin herrührt. Diese mitreißende, aber auch alles verschlingende Emotionalität treibt ihre Literatur an und auch über die Grenzen. Das ist ein Kunststück. Uns tut keine Sekunde leid, die wir mit diesem Buch verbracht haben.
ANDREAS PLATTHAUS
Hanya Yanagihara: "Ein wenig Leben". Roman.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2016. 958 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hanya Yanagiharas großer, in jedem Sinne zeitloser Roman "Ein wenig Leben"
Es tut mir leid. I'm sorry. Wie viele Male fällt auf fast tausend Seiten dieser Satz? Unzählige Male, und fast immer stammt er aus dem Mund von Jude St. Francis. Dessen Leben bekommen wir erzählt, von seiner Aufnahme als Waise frühkindlichen Alters in einer kirchlichen Fürsorgeeinrichtung bis zum Tod mit Mitte fünfzig und sogar noch sechs Jahre darüber hinaus, denn mit einem wie Jude wird man nicht fertig. Sein ständiges Bedauern ist pathologisch wie seine ganze Existenz, und doch ist er umgeben von einer Gemeinschaft treuer Freunde, die wie er sämtlich großen Erfolg im Leben haben: Seine Jugendfreunde Willem Ragnasson, JB Marion und Malcolm Irvine werden zu Stars in ihrem jeweiligen Metier: dem Kino, der Malerei, der Architektur. Sein Adoptivvater Harold Stein ist der renommierteste Juraprofessor der Vereinigten Staaten, sein Arzt Andy Contractor ein brillanter Mediziner. Und Jude selbst, ein Wunder an Wissen, wird Partner in einer großen Anwaltskanzlei, Willem schließlich seine große Liebe. "Die Karriere, das Geld, die Wohnung, den Mann. Womit", fragt JB nach drei Vierteln des Buchs seinen Freund Jude, "hast du dieses Glück bloß verdient?" Und Jude antwortet: "Weißt du, ich habe schon immer Glück gehabt." Er lügt.
Wir Leser wissen das, die Menschen im Buch aber nicht. Noch nicht. So wie wir es lange nicht wussten. Dass mit Jude etwas nicht stimmt, merkt man schnell, doch was es ist, das wird erst nach und nach offenbar. Beim Einstieg in die Handlung ist das Jugendfreundesquartett schon Anfang zwanzig, Jude und Willem, noch lange kein Liebespaar, suchen eine billige Wohnung in New York. Alle stehen am Anfang, nur Jude hat schon ein Leben hinter sich, denn er musste mit einer Vergangenheit brechen, die ihn gebrochen hat. Was er will, sagt der Titel des Romans: ein wenig Leben. Richtiges, unbeschwertes, freudiges. Im amerikanischen Original heißt das Buch "A Little Life". Das ist weniger als wenig, ein kleines Leben eben, und zugleich auch mehr, denn es ist auch ein ganzes Leben - wenn auch klein. Robert Seethaler hat einen schmalen Erfolgsroman mit einem großen Titel geschrieben: "Ein ganzes Leben". Daran verblüfft, dass man tatsächlich in knapp mehr als 150 Seiten ein ganzes Leben in all seinen Facetten beschreiben kann, man vermisst nichts. An "Ein wenig Leben", beim selben deutschen Verlag erschienen und mit allen Aussichten, ein ähnlicher Erfolg wie Seethalers Buch zu werden, verblüfft dagegen, dass man fast tausend Seiten für angeblich wenig Leben lesen soll. Doch am Ende wünscht man sich, es würde weitergehen. Noch ein wenig Lesen, bitte. Aber los wird man das Buch ohnehin nicht mehr.
Was Hanya Yanagihara da gelungen ist, einer Amerikanerin hawaiianischer Abstammung, kann man daran ermessen, dass dieses Buch, ihr erst zweiter Roman (und der erste ins Deutsche übersetzte), fassungslos macht. Nicht gleich, nicht nach einem Auftakt, der erst einmal den Eindruck erweckt, vier Parallelbiographien zu erzählen. Ganz konventionell werden da wechselnde Figuren ins Zentrum gesetzt, allerdings auch schon mit einer Erzählstimme, die von Stephan Kleiner so gekonnt ins Deutsche gebracht ist, dass man die großen Vorbilder heraushört, die Yanagihara ersichtlich hat und auch erreicht: Tom Wolfe, den frühen James Joyce und Don DeLillo. Und wer sich nicht spätestens auf Seite 40 durch die Schilderung einer Subway-Fahrt gefangennehmen und forttragen lässt, dem ist nicht zu helfen. "Was er an seinen abendlichen Fahrten noch liebte, war das Licht, die Art und Weise, wie es die Wagen füllte wie etwas Lebendiges, wenn die Bahn über die Brücke ratterte, wie es die Müdigkeit von den Gesichtern seiner Sitznachbarn wusch und sie so zeigte, wie sie gewesen waren, als sie in dieses Land gekommen waren, als sie jung waren und Amerika noch für bezwingbar hielten. Er sah diesem Licht dabei zu, wie es den Bahnwagen mit Sirup füllte, Stirnfalten fortwischte, graue Haare polierte, bis sie golden leuchteten, das aggressive Leuchten billiger Stoffe sanft auf einen feinen Schimmer reduzierte. Und dann trieb die Sonne davon, der Wagen ratterte gleichgültig von ihr fort, und die Welt nahm wieder ihre normalen traurigen Formen und Farben an, die Menschen ihren normalen traurigen Zustand, eine Veränderung, die sich so grob und abrupt vollzog, als wäre sie vom Zauberstab eines Magiers herbeigeführt worden."
Man könnte vermuten, das entspräche auch der Erzähltechnik des Buchs, das uns immer wieder nach strahlenden Passagen wie dieser zu Ereignissen aus Judes Leben, dem verschwiegenen wie dem aktuellen, verschlägt, die den Boden unter den Füßen rauben. Zunächst Szenen der Gewalt gegen sich selbst. Unter seiner nachlässig weiten Kleidung verbirgt sich ein malträtierter Körper, und ständig fügt Jude sich neue Verletzungen zu. Er ist ein Ritzer, der sich nur mit äußerlichem Leiden über das noch größere Leid in seinem Inneren hinwegretten kann. Doch wir erfahren auch früh, dass er als Jugendlicher erst mit orthopädischen Gestellen wieder ans Laufen gekommen ist, dass sein Rücken vernarbt ist, seine Seele verwundet. Jude ist ein Schmerzensmann, und benannt wurde das namenlose Findelkind im katholischen Heim nach Judas Thaddäus, dem Schutzpatron der Hoffnungslosen.
Es ist viel, was Yanagihara dieser Figur, die sich nach hundert Seiten als Hauptprotagonist erweist, aufbürdet. Und das Pathos, das dieser Roman anschlägt, ist nahezu ohne Beispiel. Zugleich aber auch sein Verlangen nach Schönheit, das einen ganzen Kreis von Schutzpatronen um Jude versammelt, die alle wie Abziehbilder wirken könnten, dienten sie einzig der Schaffung eines Kontrastes zu dieser gebrochenen Persönlichkeit, in der alle anderen aber eine Schönheit erkennen, die ihre eigene weit übersteigt. Nur Jude akzeptiert das nicht, und dass man als Leser an ihm verzweifelt, wenn er an sich zweifelt, ist eine große literarische Leistung, denn die Faszination für ihn lässt bei der Lektüre ebenso wenig nach wie bei seinen Freunden. Es ist, als hätten wir einen unschuldigen Humbert Humbert vor uns.
Jude ist ein sexuelles Opfer, zunächst unschuldig als Kind, dann durch die verzweifelte Suche nach einer Liebe, die in Kategorien gegenseitiger Erfüllung gelebt wird, doch da er sich nicht öffnet, wird sein Schweigen auch ausgenutzt. Denn wo es Engel gibt wie die Menschen um Jude, da sind auch Teufel, drei an der Zahl in diesem Buch, die jeweils Jude vergewaltigen und im doppelten Sinne so zurichten, dass man keinen Menschen mehr in ihm erkennen kann. Und so sieht er sich denn auch selbst nicht mehr als einer.
Das alles hat Yanagihara neben euphorischer Begeisterung in den Vereinigten Staaten auch harsche Kritik eingetragen. Maßlosigkeit wird ihr vorgehalten, manichäische Figurenkonstruktion, und das stimmt, doch es ist meisterhaft, weil hier der uralte Konflikt von Gut und Böse auf eine Art durchgespielt wird, die zwischen den beiden Polen eine kleine Magnetnadel hin und her kreisen lässt, und es nie klar ist, wohin es Jude ziehen wird. Solche Unklarheit erzeugt Spannung. Moralische Unklarheit gestattet Yanagihara weder sich noch ihren Figuren.
Die Vergangenheit vergleicht Jude einmal - sehr spät im Buch und natürlich nur für sich - mit einer Krebserkrankung, die er nicht bekämpft, sondern ignoriert habe. Das ist wahr, doch zugleich auch eine der vielen ausgelegten Fährten in diesem Roman, die auf gängige Pfade der Psychologie zu führen scheinen. Tatsache aber ist, dass "Ein wenig Leben" alles andere als konventionelle Wege beschreitet, und das ist es, was verstörend daran wirken kann. So gibt es etwa, obwohl über mehr als ein halbes Jahrhundert erzählt wird, nur einen einzigen, wohl unfreiwilligen Hinweis auf die Handlungszeit: Es wird ein Kunstwerk des jungen JB erwähnt, das die "nuller Jahre" darstellt, so dass man wohl einen Handlungszeitraum von etwa 1990 bis 2050 ansetzen kann. Aber das Großartige ist, dass man keinen zeitlichen Bezug vermisst, dass sich auch gar nichts ändert: technisch oder politisch. Wir blicken in eine isolierte Erzählwelt, die aber deshalb allgemeingültig wirkt, weil sich darin Grundlegendes zur menschlichen Existenz abspielt.
Dass eine Frau ein Buch schreibt, das fast nur von Männern erzählt und dazu von Liebe jeder Art unter Männern - der bösesten wie der besten -, ohne dass Homosexualität problematisiert würde, das erweist "Ein wenig Leben" in Analogie zur Science-Fiction als Social Fiction, deren Pathos aus der Selbstsicherheit der ästhetischen wie gesellschaftlichen Ideale der Autorin herrührt. Diese mitreißende, aber auch alles verschlingende Emotionalität treibt ihre Literatur an und auch über die Grenzen. Das ist ein Kunststück. Uns tut keine Sekunde leid, die wir mit diesem Buch verbracht haben.
ANDREAS PLATTHAUS
Hanya Yanagihara: "Ein wenig Leben". Roman.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2016. 958 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eines der aufwühlendsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Ein richtiges literarisches Abenteuer ... Ein kühnes, wirklich bewegendes Buch. Wenn Sie in diesem Frühjahr einen Roman lesen, lesen Sie diesen." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 19.03.17
"Hanya Yanagihara zieht uns auf über 900 Seiten in diese hoffnungslose Geschichte hinein, blättert mit ungezählten wunderbaren Sätzen und Passagen mühelos eine Zeitraum von über drei Jahrzehnten vor uns auf. Sie scheut dabei auch nicht die Elemente des Spannungsromans, kreist um ihren Helden, löst Schale um Schale, die sich um seinen 'Dämon' gelegt hat, von ihm ab, bis der Schmerzensmann einmal buchstäblich nackt vor uns steht." Manfred Rebhandl, Der Standard, 18.03.17
"Das Buch hat einen irren Sog. ... Große und gute Literatur. ... 'Ein wenig Leben' zeigt uns, was modernes Erzählen sein kann. ... Ich habe noch nie einen Roman gelesen, der so sehr die Geschlechterklischees aufgelöst hat. ... Ein Buch, das aufwühlt, das einen begeistern kann mit seiner Wucht, das einen aber auch um Erfahrungen reicher macht, die man vielleicht lieber nicht gemacht hätte." Anne-Dore Krohn, RBB Kultur, 06.02.17
"'Ein wenig Leben' stellt die ganz großen Fragen. ... Jude St. Francis ist ein besonderer Held, weil er kein Mann dieses Jahrhunderts zu sein scheint, obwohl sein Leben in unserer Zeit spielt. ... Trotzdem ist er einer der gegenwärtigsten Helden, die einem in diesen Monaten zwischen zwei Buchdeckeln begegnen können. ... Die Fiktion von 'Ein wenig Leben' berührt auf empfindlichste Weise das wahre Leben. Weil fast jeder von uns einen Jude hat, einen Menschen, für den wir Freund oder Familie sind und der uns trotzdem nicht reinlässt. Der uns trotz aller Nähe und geteilter Erfahrungen ein Rätsel bleibt." Mareike Nieberding, Zeit Online, 31.01.17
"Es spiegelt sich das ganze Leben darin, in jedem einzelnen Satz, so wie eben nur in der ganz großen Literatur. ... Hanya Yanagihara schreibt ohne Schnörkel. Mitgefühl zerreißt einem beim Lesen das Herz, und das Glück der Nähe beruhigt es wieder. ... Während die Leser diesen Roman lesen, sind sie nicht allein, all ihr Kummer und ihre Sorgen werden besprochen. Wie in glasklaren Stunden in einer Küche morgens zwischen vier und fünf im Gespräch über die Frage: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Was bedeutet in Wirklichkeit Leben?" Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 31.01.17
"Diese Autorin folgt unbeirrbar einer Mission, die da zu lauten scheint: Literarische Erneuerung - und das ohne Rücksicht auf Verluste. ... Hanya Yanagihara versucht etwas Neues, Radikales. ... Hanya Yanagiharas Roman ist eine Erfahrung, die dich verletzt, verstört, nicht loslässt. ... Dieser Roman deutet an, wie eine neue und von allen Skrupeln befreite Literatur dereinst aussehen könnte." Peter Henning, WDR 3 Mosaik, 31.01.17
"Dieses Buch macht fassungslos. ... Diese mitreißende, aber auch alles verschlingende Emotionalität treibt Hanya Yanagiharas Literatur an und auch über die Grenzen. Das ist ein Kunststück. Uns tut keine Sekunde leid, die wir mit diesem Buch verbracht haben. ... Am Ende wünscht man sich, es würde weitergehen. Noch ein wenig Lesen, bitte. Aber los wird man das Buch ohnehin nicht mehr." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.17
"Ein Feuerwerk von einem Roman, mitleidlos und berührend. ... Ein Buch, für das es sich auszahlt, die Welt eine Woche lang auszusperren. ... Das Buch löst einen wahren Schüttelfrost der Gefühle aus. Man möchte mit den Figuren lachen, mit ihnen feiern, sie beschützen, sie trösten. Andere hingegen möchte man mit Zähnen und Klauen in Stücke reißen, bis nichts mehr von ihnen übrig ist. ... 'Ein wenig Leben' zeigt die 'Conditio humana' in ihrer abgründigsten Schwärze und in ihrem wärmsten Licht. All das tut das Buch in einer Sprache, die sich zwischen Sachlichkeit und ungewöhnlichen, poetischen Bildern einpendelt." Doris Kraus, Die Presse, 28.01.17
"Man kann über 'Ein wenig Leben' nur ambivalent reden: Wie Hanya Yanagihara Zartheit und Wucht zu einem ergreifenden Melodram verbindet, in welche leuchtenden Farben sie die Freundschaft der vier Jungs schildert, das zieht einem, wie Wolfgang Herrndorf sagen würde, tatsächlich den Stecker. ... 'Ein wenig Leben' erweitert den Raum dessen, was Liebe sein kann, radikal: Freundschaft, Beziehung, Sex, Adoption - die Grenzen sind viel fließender, als es unser schlichter Sittenkodex vorgibt. ... Absolut innovativ und bewegend." Ijoma Mangold, Die Zeit, 26.01.17
"Hanya Yanagihara zieht uns auf über 900 Seiten in diese hoffnungslose Geschichte hinein, blättert mit ungezählten wunderbaren Sätzen und Passagen mühelos eine Zeitraum von über drei Jahrzehnten vor uns auf. Sie scheut dabei auch nicht die Elemente des Spannungsromans, kreist um ihren Helden, löst Schale um Schale, die sich um seinen 'Dämon' gelegt hat, von ihm ab, bis der Schmerzensmann einmal buchstäblich nackt vor uns steht." Manfred Rebhandl, Der Standard, 18.03.17
"Das Buch hat einen irren Sog. ... Große und gute Literatur. ... 'Ein wenig Leben' zeigt uns, was modernes Erzählen sein kann. ... Ich habe noch nie einen Roman gelesen, der so sehr die Geschlechterklischees aufgelöst hat. ... Ein Buch, das aufwühlt, das einen begeistern kann mit seiner Wucht, das einen aber auch um Erfahrungen reicher macht, die man vielleicht lieber nicht gemacht hätte." Anne-Dore Krohn, RBB Kultur, 06.02.17
"'Ein wenig Leben' stellt die ganz großen Fragen. ... Jude St. Francis ist ein besonderer Held, weil er kein Mann dieses Jahrhunderts zu sein scheint, obwohl sein Leben in unserer Zeit spielt. ... Trotzdem ist er einer der gegenwärtigsten Helden, die einem in diesen Monaten zwischen zwei Buchdeckeln begegnen können. ... Die Fiktion von 'Ein wenig Leben' berührt auf empfindlichste Weise das wahre Leben. Weil fast jeder von uns einen Jude hat, einen Menschen, für den wir Freund oder Familie sind und der uns trotzdem nicht reinlässt. Der uns trotz aller Nähe und geteilter Erfahrungen ein Rätsel bleibt." Mareike Nieberding, Zeit Online, 31.01.17
"Es spiegelt sich das ganze Leben darin, in jedem einzelnen Satz, so wie eben nur in der ganz großen Literatur. ... Hanya Yanagihara schreibt ohne Schnörkel. Mitgefühl zerreißt einem beim Lesen das Herz, und das Glück der Nähe beruhigt es wieder. ... Während die Leser diesen Roman lesen, sind sie nicht allein, all ihr Kummer und ihre Sorgen werden besprochen. Wie in glasklaren Stunden in einer Küche morgens zwischen vier und fünf im Gespräch über die Frage: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Was bedeutet in Wirklichkeit Leben?" Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 31.01.17
"Diese Autorin folgt unbeirrbar einer Mission, die da zu lauten scheint: Literarische Erneuerung - und das ohne Rücksicht auf Verluste. ... Hanya Yanagihara versucht etwas Neues, Radikales. ... Hanya Yanagiharas Roman ist eine Erfahrung, die dich verletzt, verstört, nicht loslässt. ... Dieser Roman deutet an, wie eine neue und von allen Skrupeln befreite Literatur dereinst aussehen könnte." Peter Henning, WDR 3 Mosaik, 31.01.17
"Dieses Buch macht fassungslos. ... Diese mitreißende, aber auch alles verschlingende Emotionalität treibt Hanya Yanagiharas Literatur an und auch über die Grenzen. Das ist ein Kunststück. Uns tut keine Sekunde leid, die wir mit diesem Buch verbracht haben. ... Am Ende wünscht man sich, es würde weitergehen. Noch ein wenig Lesen, bitte. Aber los wird man das Buch ohnehin nicht mehr." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.17
"Ein Feuerwerk von einem Roman, mitleidlos und berührend. ... Ein Buch, für das es sich auszahlt, die Welt eine Woche lang auszusperren. ... Das Buch löst einen wahren Schüttelfrost der Gefühle aus. Man möchte mit den Figuren lachen, mit ihnen feiern, sie beschützen, sie trösten. Andere hingegen möchte man mit Zähnen und Klauen in Stücke reißen, bis nichts mehr von ihnen übrig ist. ... 'Ein wenig Leben' zeigt die 'Conditio humana' in ihrer abgründigsten Schwärze und in ihrem wärmsten Licht. All das tut das Buch in einer Sprache, die sich zwischen Sachlichkeit und ungewöhnlichen, poetischen Bildern einpendelt." Doris Kraus, Die Presse, 28.01.17
"Man kann über 'Ein wenig Leben' nur ambivalent reden: Wie Hanya Yanagihara Zartheit und Wucht zu einem ergreifenden Melodram verbindet, in welche leuchtenden Farben sie die Freundschaft der vier Jungs schildert, das zieht einem, wie Wolfgang Herrndorf sagen würde, tatsächlich den Stecker. ... 'Ein wenig Leben' erweitert den Raum dessen, was Liebe sein kann, radikal: Freundschaft, Beziehung, Sex, Adoption - die Grenzen sind viel fließender, als es unser schlichter Sittenkodex vorgibt. ... Absolut innovativ und bewegend." Ijoma Mangold, Die Zeit, 26.01.17
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ganz so hymnisch wie das Urteil ihrer Kritikerkollegen fällt Cornelia Geisslers Besprechung von Hanya Yanagiharas Roman "Ein wenig Leben" nicht aus: Wenn ihr die Autorin von der lebenslangen, liebevollen Freundschaft zwischen vier College-Jungs erzählt, wähnt sich die Kritikerin unter einer "daunendicken Gefühlsdecke", die zwar oft gefühlig-schön, gelegentlich aber doch etwas "kitschig-schwer" gerät. Die unaussprechlichen Grausamkeiten, die Held Jude in seinem Leben widerfahren und die häppchenweise enthüllt werden, lassen zwar auch Geissler nicht kalt. Und doch muss sie trotz der Sogkraft des Romans gestehen, dass sie das "ritualhafte" Wiederholen bestimmter Szenen während der Lektüre erschöpft hat. Yanagiharas Vermögen, die drei erzählten Jahrzehnte des Romans ganz zeitlos erscheinen zu lassen, ringt allerdings auch Geissler große Anerkennung ab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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