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Paris ist seine neue Heimat. Endlich das Gefühl, aufgenommen zu sein. Aber vergessen hat Arthur Kellerlicht nichts: Erst zehnjährig wird er des Landes verwiesen, verurteilt, weil er als Jude geboren ist. Rettung findet er in einem Internat in den Savoyen, wo die Züchtigung zum Alltag gehört. Und weil sich der Heranwachsende des Lebens unwürdig fühlt, ist es nur richtig, dass er bestraft wird: für das Lesen unerlaubter Bücher, für das Entdecken des eigenen Körpers, ganz einfach dafür, dass es ihn gibt, dass er überlebt hat. Kein Schreiben ist so existenziell wie das von Georges-Arthur…mehr

Produktbeschreibung
Paris ist seine neue Heimat. Endlich das Gefühl, aufgenommen zu sein. Aber vergessen hat Arthur Kellerlicht nichts: Erst zehnjährig wird er des Landes verwiesen, verurteilt, weil er als Jude geboren ist. Rettung findet er in einem Internat in den Savoyen, wo die Züchtigung zum Alltag gehört. Und weil sich der Heranwachsende des Lebens unwürdig fühlt, ist es nur richtig, dass er bestraft wird: für das Lesen unerlaubter Bücher, für das Entdecken des eigenen Körpers, ganz einfach dafür, dass es ihn gibt, dass er überlebt hat. Kein Schreiben ist so existenziell wie das von Georges-Arthur Goldschmidt. Seine Romane und Essays sind einer der schönsten Existenzbeweise.
Autorenporträt
Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L'Académie de Berlin. Zuletzt erschien seine Erzählung 'Ein Wiederkommen'.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.04.2012

Der erzwungene Erbverzicht
In Georges-Arthur Goldschmidts neuer Erzählung „Ein Wiederkommen“ ist Deutschland im Jahre 1949 eine Heimat, die man nur verlassen kann
In der zeitgenössischen Kultur der Ungeduld ist „Wiederholung“ ein abschätziges Wort. Wer stets denselben Stoff behandelt, dieselben Episoden aus seinem Leben erzählt, wer seine Empfindungen und Erinnerungen konsequent an wenige Schlüsselerlebnisse bindet und neu beschreibt, wird kaum dem Ruf des Langweilers entkommen. Doch warum gilt das nicht für Georges-Arthur Goldschmidt? Seit über drei Jahrzehnten handeln seine Romane und Erzählungen von den gleichen Erfahrungen an denselben Schauplätzen – und vor allem von derselben Person. Spätestens seit seiner Autobiographie „Über die Flüsse“, die 1999 erschienen ist, weiß man, dass diese Person Goldschmidt selbst ist, seine lange Folge von Prosawerken also Teil einer fortgeschriebenen Lebenserinnerung, die vor allem die traumatischen Jahrzehnte zwischen 1928 und 1949 behandelt.
Bereits in dem 1982 von Peter Handke ins Deutsche übersetzten Roman „Der Spiegeltag“ steht ein junger Mann kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs am Mansardenfenster eines Pariser Waisenhauses und beschreibt seine Schuld-, Lust- und Schamgefühle, die sich durch die Erfahrung ständiger Bedrohung und Verfolgung so ineinander verknäult haben, dass sie für ihn nicht mehr zu entwirren sind. Und dort steht er dreißig Jahre später immer noch in Goldschmidts neuester Erzählung „Ein Wiederkommen“. Und immer noch quälen diesen zwanzigjährigen protestantischen Juden die Schuldgefühle, den Holocaust überlebt zu haben, sowie die Scham für seine masochistischen Begierden und die lustvollen Erinnerungen an die Flagellationen im französischen Internat in Savoyen, wo er sich vor den Häschern der Gestapo versteckt hielt.
In konsequenter Wiederaufnahme bearbeitet Goldschmidt diese Erinnerungen, ob in der Erzählung „Die Absonderung“, mit der er 1991 in Deutschland endlich einem großen Publikum bekannt wurde, oder in „Die Befreiung“ (2007). Es kommt kaum neuer Stoff hinzu, die prägenden Figuren bleiben sich gleich in ihrem Einfluss auf Goldschmidts schwieriger Selbstfindung unter brutalen Umständen. Das Motiv der Umwandlung von alltäglicher Erniedrigung und Angst in zwanghafte Onanie zu schmerzhaften Phantasien und Selbstgeißelungen durchzieht als drängendes Geständnis jedes dieser Selbstzeugnisse. Und das Wort „Scham“ findet sich auf nahezu jeder Seite von Goldschmidts Prosa wie ein Blitzableiter für zerstörerische innere Spannungen.
Doch Goldschmidts Schicksals-Wiederholung, die lebenslange Aufbereitung seiner Jugend in einer Zeit der Menschenhetze und brutaler Strafen, entwickelt auch in der abermaligen Neuerzählung ihre Dringlichkeit. Es gibt Geschichten von solcher Tragweite und Widersprüchlichkeit, die nicht mit einmal zu Ende erzählt sind. Stattdessen ergeben die Mosaiksteine der Erinnerung wieder und wieder neu zusammengesetzt stets ein anderes sprachliches Kunstwerk. Und Goldschmidts so bebende wie schweifende Spracharbeit erschafft dreißig Jahre, nachdem er in „Der Spiegeltag“ von Internat, Waisenhaus und einer kurzen Rückkehr in seinen Geburtsort Reinbek bei Hamburg erzählt hat, erneut eine fesselnde Neuinszenierung.
Die titelgebende Episode von „Ein Wiederkommen“ ist jener einzige Besuch Goldschmidts in seinem Elternhaus nach dem Krieg 1949, der ihn so ängstigte und befremdete, dass er die baldige Rückkehr nach Paris als Befreiung empfand. Seine Mutter starb vier Jahre nach seiner Flucht 1942, sein Vater, ein von den Nazis entlassener Richter, hatte das KZ Theresienstadt überlebt, war aber bald nach seiner Rückkehr gestorben. Das zwangsweise verlassene Heim, in dem nun seine viel ältere Schwester mit ihrer Familie lebt, empfängt ihn als „Besucher“. Das Deutschland des Wiederaufbaus erlebt er als ein Land, wo „Beseitigen etwas Natürliches“ ist, wo die Gefahr überall „auf der Lauer“ liegt, die Menschen „ohne Ironie“ leben und dauernd jammern.
Für Goldschmidt, der sich in dieser Erzählung – wie in der „Befreiung“ – Arthur Kellerlicht nennt, ist das Land, das ihn verjagt und verfolgt hat und sich jetzt mit aller Kraft anzupassen versucht, immer noch „ein Deutschland der großen Begeisterung und der Wucht, wie man sie aus Beethovens Fünfter heraushört, wie sie aus den Lautsprechern der Konzentrationslager klang“. Angewidert von der selbstgerechten Atmosphäre in der Familie seiner Schwester, die ihn nötigt, für sie auf seine Erbansprüche zu verzichten, und die sich vier Jahre nach Kriegsende bereits sehr wohlanständig wieder eingerichtet hat, in völliger Selbstverleugnung eine perfekte Deutsche sein möchte und ihm vorhält, wie „gut“ er es doch in Frankreich gehabt hätte, wählt Goldschmidt dieses Frankreich endgültig als Heimat.
Es ist diese Schärfe in der Beurteilung, die Goldschmidts neue Version jener kurzen Rückkehr von früheren Beschreibungen – trotz teils deckungsgleicher Situationen – unterscheidet. Einst prägte die selbstquälerische Poesie der Verwirrung die beklemmende Schönheit von Goldschmidts Erinnerungen. Kaum jemand hat die traumatische Fehlleitung einer kindlichen Psyche, die erlebte Gewalt als selbstverschuldet anzunehmen, ja sie sogar zu genießen, in so eindrückliche Prosa übertragen wie Goldschmidt. Doch am Ende seiner neuen Erzählung gewinnt die Frage nach der Verantwortung plötzlich Deutlichkeit. Dass er nun auch kühle Bilder für eine moralische Verurteilung von Hass, Gier und Feigheit findet, verleiht dieser Erzählung eine befreiende Note.
Allerdings umfasst diese schonungslose Deutung deutscher Nachkriegs-Befindlichkeiten nur ein knappes Viertel der rund 200-seitigen Erzählung. Die erstmals in dieser Ausführlichkeit beschriebene Zeit in dem Waisenhaus in Pointoise am Rande von Paris, die den Hauptteil von „Ein Wiederkommen“ ausmacht, ist erneut in jener autistischen Poesie ständiger Selbstbespieglung gehalten, mit der Goldschmidt die Beschreibung kindlicher Einkapselung so drängend bebildern kann. Menschen wirken hier stets wie Funktionen, Gefühle plagen den jungen Erwachsenen als dauernde Erschütterungen, Landschaften und Details verzaubern sich in den Status einer kindlichen Geheimwelt, die vor allem Schutz vor dem anderen bietet.
Wer Goldschmidts offene Selbstbetrachtung ein erstes Mal liest, wird davon vermutlich kaum weniger in Bann geschlagen sein, als jene, die ihn vor dreißig Jahren für sich entdeckt haben. Aber auch mit Kenntnis von der stetig modifizierten Wiederkehr derselben Episoden in Goldschmidts Prosa ist „Ein Wiederkommen“ ein faszinierender neuer Baustein in seinem Mosaik der klärenden Erinnerungen. TILL BRIEGLEB
GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMIDT: Ein Wiederkommen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 192 Seiten, 18,99 Euro.
Goldschmidts Prosa enthält
Blitzableiter für zerstörerische
innere Spannungen.
„Er radelte durch die Kindheitslandschaften, wie mit einem vor den Kopf genagelten Brett, er sah das alles, aber es ging ihn nichts an, er war ganz fremd in der eigenen Heimat.“ Der Heimkehrer Georges-Arthur Goldschmidt ist im Deutschland des Wiederaufbaus nicht geblieben. Davon erzählt sein neues Buch „Ein Wiederkommen.“
Unser Foto zeigt einen Güterzug, der 1950 VW Käfer in den Hamburger Hafen bringt, von wo sie nach New York verschifft werden sollen.
Foto: AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2012

Die Umgebung als Heimwehschutz

Gegenteil von Rückkehr: In der grandiosen Erzählung "Ein Wiederkommen" des deutsch-französischen Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt funkeln die Sätze ins Unerlaubte.

Von Herta Müller

Der Zug ist "ein heller Strich im Mondlicht", schreibt Georges-Arthur Goldschmidt. Und in diesem Zug sitzt Arthur Kellerlicht, der Protagonist der Erzählung "Ein Wiederkommen". In diesem "vom Mond beleuchteten schmalen Strich saßen oder lagen einige hundert Menschen, je nach Reichtum in weichen Bettüchern oder auf Leder, Kord oder Holz, schlafend, dösend, nachdenkend, wartend, traurig, ruhig oder froh, und von all diesen jahrzehntelangen Geschichten eines jeden war nichts zu sehen, nichts zu vernehmen, und doch zog da in jenem winzigen Strich, der da fuhr, die ganze Welt vorbei. Es war eigenartig, dass die Gesichter der Mitreisenden einfach so mitfuhren . . . mit allem Zubehör: Nase, Lippen, Kinn, Stirn. Alles hatte sie immer, zu jeder Gelegenheit begleitet, war immer dabei, hatte alles gehört und gesehen", denkt Arthur Kellerlicht.

Zugfahrten sind für Arthur Kellerlicht von Anfang an Angstfahrten. Das beginnt mit der ersten Zugfahrt, mit der Grundverletzung, dass die Eltern ihren zehnjährigen Sohn Arthur aus Nazideutschland nach Frankreich verschicken, um sein Leben zu retten. Denn nach den Rassengesetzen sind die deutschen Juden "geburtsschuldig", haben kein Recht auf Leben. Arthur landet in einem Internat in Savoyen und wird bei Bauern versteckt, als die Deutschen auch Frankreich besetzen. Über die Schrecken der Internatszeit hat Goldschmidt das Buch "Die Absonderung" geschrieben: unsägliches Heimweh, totale Kontrolle, Züchtigung durch sadistische Strafen, Prügel auf den nackten Körper mit der Haselnussrute, die er selbst schneiden muss, sein Jaulen im Schmerz, die feuerroten Striemen, für die er sich bedanken muss. Und wie dieses psychisch ruinierte Kind, als Verlängerung der Qual, aber auch als Gegengewicht, die sexuelle Lust am eigenen Körper entdeckt, die Liebe zur Haselnussrute auskostet als verzweifeltes Glück, das Onanieren als "fleischliche Träumereien". Das Internat dauert acht Jahre.

"Ein Wiederkommen" beginnt mit der zweiten Angstfahrt aus dem dörflichen Internat aufs Gymnasium nach Paris. Arthur ist bereits achtzehn, wohnt in der Dachstube eines Waisenhauses. Aber die Zeit des Internats hört nie auf, sie ist fertig eingeschlichen in alles, was ihn umgibt. Er schafft das Abitur nicht, hat den Kopf nicht frei. Er lebt gefangen im "großen Trubel des Danach" - die Grundverletzung hat ihm die Eltern und die Heimat geraubt. Immer wieder stellt er sich nach der langen Zeit vor, "was ihm von der Mutter geblieben war, eine Silhouette in weißen wehenden Kleidern, im sommerlichen sonnenüberfluteten Garten, unter den hohen weißen Wolken . . . Sie hatte seine Hände gehalten und sich mit ihm lachend im Kreise gedreht, und dann war sie auf einmal weg." Und "was blieb, war die trostlose Trunkenheit des Heimwehs".

Man weiß von allen, die chronisches Heimweh hatten, Heimweh schwelt und vergrößert sich mit der Zeit, wird aber nie erwachsen. Und durch die "Absonderung" von den Eltern hat man Arthur, und das ist das Schlimmste daran, die eigene Person gestohlen. Er sieht seinen Körper als "Begleiter" von etwas, von dem er nicht weiß, was es ist: "Es erinnerte ihn an die Zeit im Internat, als es immer einige gab, die ohne weiteres ganz einfach existierten, wohingegen er nur immer mit sich selbst zu tun hatte . . . Dabei machte sich sein innerer Begleiter immer über ihn lustig."

Heimatsuche und Ichsuche sind die Themen dieses grandiosen Buches. Sie sind "der große Trubel des Danach." Goldschmidt erfindet dafür schmerzlich schöne, vor Wahrhaftigkeit funkelnde Bilder, die man nur zitieren, nicht nacherzählen kann. Denn Arthur Kellerlicht erhofft von der Ichsuche vor allem den "Ausweg aus dem Selbstsein" - "es war, als ginge er auf Stelzen, er gehörte nicht dazu, von ihm selbst war nur irgendjemand dabei und er stand daneben . . . er konnte nicht weg." Arthur übt sich im Trost, durch die Genauigkeit der Gegenstände Abstand von sich selbst zu gewinnen. Er sehnt sich nach einer Art Rettungstausch mit der äußeren Welt, um aus der inneren auszusteigen: "Vielleicht wäre es ein Ausweg gewesen, Möbelstück zum Draufsitzen zu werden oder Handtasche zum Mitnehmen. Vor allem wollte er die ununterbrochene Selbstfeststellung loswerden, als Kommode oder Schrank würde man bloß rumstehen und nichts mehr denken und nicht anderes mehr fühlen als das eigene Gewicht." Dieser Rettungstausch durchs Beobachten wird leider nur eine in die äußere Welt erweiterte Ichsuche. Er klammert sich an jede "Kleinigkeit, die als Selbstschutz diente, wenn Kummer oder Heimweh in einem aufzusteigen drohen". Und von diesem Wort "Selbstschutz" ausgehend, spannt der Autor die Beobachtung bis zu dem aparten Wort "Heimwehschutz". Arthur Kellerlicht fragt sich, ob in Paris die Lichtschalter auch so wie im Internat sind: "Es waren runde Schalter, auf die eine Art Aluminiumhaube um einen oben abgerundeten kleinen Stift geschraubt war, den man rauf- und runterkippte. Innerhalb der Haube lag zur Isolierung ein Stück Pappe, das bei jedem Schalter anders war, grau grün rosa oder gestreift und sogar manchmal mit Teilen von Buchstaben bedruckt, und man stellte sich die Menschen vor, die es hineingelegt hatten, wo sie jetzt wohl waren, ob sie überhaupt noch lebten. Solche kleinen Gegenstände verbanden einen Ort mit einem anderen, an dem man schon gewesen war, es war ein wenig wie ein Heimwehschutz."

Der pure technische Bau des Lichtschalters endet mit dem Wort "Heimwehschutz". Das technisch Kalte gleitet in dieses Wort. Das lapidare Beschreiben des Lichtschalters endet mit dem Gefühlsschock eines nie gehörten Wortes "Heimwehschutz."

Und so genau wie das Aufschrauben des Lichtschalters ist Georges-Arthur Goldschmidts Schreiben. Und noch etwas zeigt die Sprachkunst dieses Autors: Goldschmidt schreibt nicht: es war Heimwehschutz, sondern: "Es war EIN WENIG WIE Heimwehschutz." Durch zwei zarte Einschränkungen EIN WENIG und WIE wird das Gefühl immens.

Diese gleißende Suche, die erotische Aufladung der Dinge, das inzestuöse Gemisch aus Zerteilen und Zusammensetzen von Außen- und Innenwelt erinnern mich in ihrer Intensität an das Buch "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit" des rumänischen Juden M. Blecher. Im Streunen aus der Selbstsuche in die Selbstzerstörung treffen sich diese beiden zeitlich und geographisch so weit auseinanderliegenden Bücher. Nur bleibt die Ichsuche bei Blecher bloß der Ausdruck einer wilden, übersensiblen Pubertät. Die Vernichtung der Juden in der Bukowina hat Blecher nicht mehr erlebt, er starb vor der faschistischen Zeit Rumäniens kaum 29 Jahre alt an Knochentuberkulose. Bei Goldschmidt aber ist das Unglück objektiv verursacht. Es wird ihm angetan, erstens von der Katastrophe der Geschichte, dem Herausfallen Nazideutschlands aus der Zivilisation. Und zweitens vom Heimweh in den Anstalten, die ihn züchtigen statt erziehen. Kein Selbstverständnis entsteht, nur Selbstvorwürfe, dass er sein gerettetes Leben nicht verdient. Nach all den Jahren in Frankreich ist er "weder Maus noch Spatz, weder Deutscher noch Franzose, weder Christ noch Jude." Erst wird er vor den Deutschen versteckt, sein Leben wird "gehandhabt", dann rettet er sich in die "fleischlichen Träumereien", er "handhabt" seinen Körper, um sich zu spüren: "Er war ein Zuschauer, der sich aus dem Selbstfenster zuwinkte und den keiner sah." Oder: "Es war, als trüge man sich wie eine ans Fenster gehaltene Tafel." Oder: "Und er blieb lange vor sich stehen und zielte auf sich selbst." Und niemand darf ihn durchschauen. Er schleppt die "stumme Sünde" herum und die Angst, durchsichtig zu sein. Er wird für sich selbst zum Versteck.

Arthur Kellerlicht lässt seinen Körper herumreichen, unterwirft sich den pädophilen Erziehern im Internat. Aber sie werden nicht zum Ersatz für die fehlenden Eltern. Er lernt gerade dadurch, sich nie aus der Hand zu geben. Auch auf dem Gymnasium flieht er jede Menschenbeziehung, vertraut sich weiterhin lediglich den Gegenständen an, die ihm zu den "fleischlichen Träumereien" verhelfen: der Haselnussrute, der Kerze, dem ausgehöhlten Apfel. Und der Landschaft, denn: "Einzig die Landschaft wusste nichts von ihm."

Arthur Goldschmidts Sätze funkeln ins Unerlaubte, wandern zwischen Trance und Analyse: "Diese Selbstschau und das Grauen des Selbstbewusstseins sind so lächerlich düster", schreibt er, "dass sich einem der ganze Körper schüttelt. Sich selbst beim Man-selbst-Sein zu ertappen ist doch die letztendliche Wirklichkeit, durch die man alles wahrnimmt."

Mit der dritten Angstfahrt ins Nachkriegsdeutschland endet Goldschmidts Buch. Das letzte Kapitel heißt: "Vor Ort". Davor hat Kellerlicht bereits, einem Brief der daheimgebliebenen älteren Schwester gehorchend, auf die Teilhabe an seinem Elternhaus in Hamburg verzichtet. Mit einem französischen Pass in der Tasche fährt er nach Hamburg zurück.

Bisher war der Buchtitel "Ein Wiederkommen" das wiederkommende Heimweh und die Selbstsuche. "Vor Ort" im Elternhaus kommt ein neuer Sinn dazu: Wiederkommen ist mit einem Mal das Gegenteil von Rückkehr. Es klingt plötzlich harsch wie Kommen und Gehen.

Dieses letzte Kapitel ist streckenweise dokumentarisch. Die Verbrechen der Nazizeit zwingen den Text dazu. "Er hatte, wie jeder in Europa, die Leichenhaufen gesehen . . ., er hatte auch die Fotos der Deutschen gesehen, die unter Aufsicht amerikanischer Soldaten daran vorbeidefilieren mussten, diese Leute hätte er genauso gut kennen können, sie sahen wie jeder andere Mensch auch aus." Weil er überlebt hat, bildet er sich ein, ein Komplize der Verbrechen zu sein: "Der Schulddruck auf seiner Brust wurde immer schwerer." Und die Frage, wer hat was "in der kackbraunen Uniform" getan, quält ihn bei jedem Deutschen, dem er begegnet. Sie bemitleiden sich und trauern um "die schöne Hitlerzeit". Der Freund seines Onkels, ein respektierter Maler, erzählt ihm "ganz bedenkenlos", wie er 1942 als Wehrmachtsmaler in der Ukraine Frauengesichter speziell ausgesucht und gemalt hat, um die Merkmale des "Untermenschen" zu dokumentieren.

Auch die Familie lässt ihn spüren, dass er nicht mehr dazugehört. "Diesen Menschen, die nie voneinander getrennt gewesen waren, konnte er nichts erzählen, sie wussten bestimmt nichts von dem die Brust von innen auffressenden Heimweh." Sie sagen dreist: "Du, du hast es gut gehabt."

Und jetzt weiß man als Leser, Arthur Kellerlicht ist erwachsen, er hat sich in seinem "großen Trubel des Danach" selbst erzogen. Auf einmal überwältigt ihn das Heimweh nach Frankreich, "dass er vor Verzweiflung aufheulte und das Gras ausriss". In diesem Heimweh schreit aber der klare Verstand. Er weiß: "Sein Land war es nicht mehr, dazu war es zu spät . . . Er stieg wieder in den Zug nach Paris."

Auf der letzten Seite trifft Arthur "eine ganz junge Frau, fast noch ein Mädchen, im grünen Mantel mit großen, grünen Knöpfen, obgleich man sie zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, erkennt man sie sofort, sie ist es, sie hat man seit jeher gekannt . . ., obgleich man sie zum ersten Mal sieht." Er entdeckt, dass Liebe auch "anders zu machen war als mit erträumten Inszenierungen".

Als allerletzten Satz, und das zeigt wieder Goldschmidts Stilsicherheit, nimmt er sich das Ende der Märchen, wo es heißt: Sie heirateten und waren sehr glücklich. Den Märchensatz wandelt er ab: "Sie heirateten bei Regenwetter im Frühling, wurden sehr glücklich und bekamen Kinder." Dieser Satz ist parodistisch, nimmt die Parodie jedoch von selbst zurück. Vielleicht nur bei mir, weil ich mir denken muss, dass ich das Kind eines SS-Soldaten bin. Ich musste halb lachen, halb weinen. Ich mag diesen letzten Satz, seine freche Melancholie.

Goldschmidts Buch zeigt, dass die Begriffe Erfahrung, Identität, Migration einem nicht weiterhelfen, wenn das Leben ernst macht, wenn es darauf ankommt. Mit einer Wortschöpfung Goldschmidts könnte man sagen, sie sind "lippenfertig".

Im Impressum des Buchs steht in winziger schwarzer Ameisenschrift, dass "Ein Wiederkommen" 2011 auf Französisch unter dem Titel "L'esprit de retour" erschienen ist. Georges-Arthur Goldschmidt selbst hat die Erzählung aus dem Französischen "übertragen und ist zu großen Teilen von dieser Fassung abgewichen". Demnach hat Goldschmidt dasselbe Buch zweimal geschrieben. Das Deutsche hat die Abweichungen notwendig gemacht.

Deutschland hat maßlos viel unternommen, um zu verhindern, dass es den deutschen Autor Georges-Arthur Goldschmidt gibt. Es hat ihm die Eltern, die Heimat und die Muttersprache geraubt. Anders als Paul Celan hat er lange Jahre nur auf Französisch geschrieben. Und er konnte sich von diesen drei Verlusten letztendlich und leider nur die Sprache zurückholen. Und ich kenne kaum einen Autor, der so ein Deutsch schreibt, dass einem das Herz in den Kopf pocht. Und keinen, der jedes deutsche Wort so schrecklich teuer bezahlt hat.

Dass Sprache Heimat ist, diese Binsenweisheit sollte niemand mehr sagen, ohne hinzuzufügen oder, noch besser, ohne voranzustellen: Wenn man der Heimat nicht im Weg steht, wenn sie einen leben lässt, dann ist Sprache Heimat.

Georges-Arthur Goldschmidt: "Ein Wiederkommen". Erzählung.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 192 S., geb., 18,99 [Euro].

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