"Die Kunst Ralf Rothmanns besteht nicht nur darin, von der Liebe zu erzählen; in der atmosphärischen Dichte seiner Texte werden wir zu Mitleidenden, Mitagierenden. Das Befremdliche im Alltag, die Verlorenheit im eigenen Leben, den Schwebezustand zwischen Realität und Wunderbarem glaubhaft zu machen - Ralf Rothmann gelingt dies, ohne Pathos, mit großer narrativer Kraft."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2002Dreck am Flügel
Ralf Rothmann fürchtet weder Tod noch Engel
"Man starb und starb", heißt es in einer der Geschichten dieses Bandes, den das Todesmotiv als schwarzglänzendes Band durchzieht. Das Sterben ist hier allgegenwärtig: ein Stahlkocher, der die SS-Nummer am Unterarm trägt, hat Krebs, ein Halbwüchsiger verblutet in einem Auto, das er vermutlich gestohlen hat. Aber nicht immer wird das Ende so konkret. In Ralf Rothmanns Erzählungen erscheint das Leben als Satyrspiel zum Tod, als untaugliche Vorbereitung auf ein unausweichliches Ereignis.
Zweimal jedoch wird der Tod überwunden. Brümmerchen, Dialysepatientin des Karnkenhauses, in dem der Erzähler als Pfleger arbeitet, kollabiert, Herzstillstand. Während die Ärzte zunächst vergeblich um das Leben der Patientin kämpfen, geht der Erzähler, ein Pfleger, in ein Nebenzimmer, legt die Füße hoch, trinkt einen Kaffee, raucht eine Zigarette und denkt an seinen Dienstschluß. Aber die Patientin kehrt ins Leben zurück, und Wochen später zeigt sich, daß Brümmerchen weiß, was sie eigentlich nicht wissen kann: Im Tod hat sie den Pfleger gesehen, wie er ungerührt seinen Kaffee trank.
In einer anderen Geschichte, die den Titel "Von Mond zu Mond" trägt, geht es ebenfalls um eine Rückkehr ins Leben. Ein Mädchen wird von den Toten auferweckt. Der Ort des Geschehens ist Galiläa, die Zeit etwa das Jahr dreißig unserer Zeitrechnung. Es handelt sich um das Töchterchen des Jairus, und ihre Geschichte ist nicht neu: Sie wurde erstmals im Evangelium des Lukas beschrieben. Aber während Enosch Zeuge eines Wunders wird, geschieht, ohne daß der Hirte es bemerkt, etwas höchst Profanes: In den Taschen seines Hirtenmantels stirbt der junge Hund, der von einer Natter gebissen wurde und dem der Erzähler das Gift aus der Wunde gesogen hatte.
Nein, es geht nicht alles mit rechten Dingen zu in diesen Geschichten, die sich in Berlin und Galiläa zutragen und im Ruhrgebiet, wo Rothmann aufwuchs und seine wichtigsten Bücher spielen ließ, die Romane "Wäldernacht", "Stier" und "Milch und Kohle". Galiläa ist unter Rothmanns Schauplätzen der exotischste, aber die Verwendung biblischer Motive ist kein Einzelfall in diesem Buch, dessen Erzähler Reliquien wie "Schuhe voll Schwanenblut" in ihren Schränken aufbewahren und sich gern als Engel fühlen würden, wenn sie nicht soviel "Dreck am Flügel" hätten. Rothmann ist ein lakonischer Metaphysiker und ein melancholischer Realist. Er verbindet seine große Begabung für die Schilderung von Tonfällen und Milieus mit feinster Sensibilität für das Innenleben seiner Figuren.
Anders als Raymond Carver, mit dem Ralf Rothmann zuletzt und gewiß nicht ohne Grund oft verglichen wurde, hat dieser Autor keine Furcht vor der Transzendenz. Beide verfolgen das Prinzip der Auslassung mit großer Konsequenz und eröffnen jenseits des Gesagten Räume, in denen die Emotionen ihrer Figuren zu finden sind. Eine Geschichte wie "Ein Winter unter Hirschen" könnte ohne weiteres von Carver sein. Eine Frau lebt mit ihrer Tochter bei einem Forstarbeiter, einem "Revierschoner", der den Jägern das Wild zuführt. Das Milieu ist freudlos, Alkohol, Zigaretten, der unentwegt laufende Fernseher sind die üblichen Requisiten. Die Tochter ist fort, die Erzählerin macht sich Sorgen, die sie aber rasch wieder vergißt. Statt die Tochter im Schneetreiben zu suchen, geht das Paar ins Bett. Als sie aus dem Fenster blicken, hat sich auf der Lichtung vor dem Haus Wild versammelt: "eine riesige, graubraune Herde aus Rehen, Böcken, Damwild und Hirschen". Der letzte Satz scheint eine Katastrophe anzudeuten: "Wo ist die Kleine?"
Hier wird nichts ausgesprochen, die Spannung zwischen den Figuren, das Ausbleiben der Tochter, die mysteriöse Versammlung der Tiere unter dem Schlafzimmerfenster, all dies erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, die nicht aufgelöst wird. In "Schicke Mütze" hingegen scheut sich Rothmann nicht, einen Hund zu beschreiben, dessen Anblick den Erzähler zu trösten vermag wie der einer Ikone: Der Hund ist "erleuchtet". Brutal und zugleich sentimental ist das Ende dieser Geschichte, ein Nebeneinander, das charakteristisch für diesen beeindruckenden Erzählungsband. Rothmann wagt viel, indem er den Schnodderton seiner Figuren, ihre Roheit und Sprachlosigkeit mit einer metaphysischen Sehnsucht verbindet. Aber beinahe immer gelingt dieses Wagnis. Wenn Rothmann einen Mann beschreibt, der sein im Abendlicht erleuchtetes Haus von außen betrachtet, blicken wir in die erleuchteten Wohnräume und zugleich in das Innere der von banalen Sorgen zerfressenen Figur. Was wir sehen, ist die Schönheit des Alltäglichen. Sie sichtbar zu machen, ist Ralf Rothmanns große Kunst.
HUBERT SPIEGEL
Ralf Rothmann: "Ein Winter unter Hirschen." Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 195 S., geb., 19,80.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ralf Rothmann fürchtet weder Tod noch Engel
"Man starb und starb", heißt es in einer der Geschichten dieses Bandes, den das Todesmotiv als schwarzglänzendes Band durchzieht. Das Sterben ist hier allgegenwärtig: ein Stahlkocher, der die SS-Nummer am Unterarm trägt, hat Krebs, ein Halbwüchsiger verblutet in einem Auto, das er vermutlich gestohlen hat. Aber nicht immer wird das Ende so konkret. In Ralf Rothmanns Erzählungen erscheint das Leben als Satyrspiel zum Tod, als untaugliche Vorbereitung auf ein unausweichliches Ereignis.
Zweimal jedoch wird der Tod überwunden. Brümmerchen, Dialysepatientin des Karnkenhauses, in dem der Erzähler als Pfleger arbeitet, kollabiert, Herzstillstand. Während die Ärzte zunächst vergeblich um das Leben der Patientin kämpfen, geht der Erzähler, ein Pfleger, in ein Nebenzimmer, legt die Füße hoch, trinkt einen Kaffee, raucht eine Zigarette und denkt an seinen Dienstschluß. Aber die Patientin kehrt ins Leben zurück, und Wochen später zeigt sich, daß Brümmerchen weiß, was sie eigentlich nicht wissen kann: Im Tod hat sie den Pfleger gesehen, wie er ungerührt seinen Kaffee trank.
In einer anderen Geschichte, die den Titel "Von Mond zu Mond" trägt, geht es ebenfalls um eine Rückkehr ins Leben. Ein Mädchen wird von den Toten auferweckt. Der Ort des Geschehens ist Galiläa, die Zeit etwa das Jahr dreißig unserer Zeitrechnung. Es handelt sich um das Töchterchen des Jairus, und ihre Geschichte ist nicht neu: Sie wurde erstmals im Evangelium des Lukas beschrieben. Aber während Enosch Zeuge eines Wunders wird, geschieht, ohne daß der Hirte es bemerkt, etwas höchst Profanes: In den Taschen seines Hirtenmantels stirbt der junge Hund, der von einer Natter gebissen wurde und dem der Erzähler das Gift aus der Wunde gesogen hatte.
Nein, es geht nicht alles mit rechten Dingen zu in diesen Geschichten, die sich in Berlin und Galiläa zutragen und im Ruhrgebiet, wo Rothmann aufwuchs und seine wichtigsten Bücher spielen ließ, die Romane "Wäldernacht", "Stier" und "Milch und Kohle". Galiläa ist unter Rothmanns Schauplätzen der exotischste, aber die Verwendung biblischer Motive ist kein Einzelfall in diesem Buch, dessen Erzähler Reliquien wie "Schuhe voll Schwanenblut" in ihren Schränken aufbewahren und sich gern als Engel fühlen würden, wenn sie nicht soviel "Dreck am Flügel" hätten. Rothmann ist ein lakonischer Metaphysiker und ein melancholischer Realist. Er verbindet seine große Begabung für die Schilderung von Tonfällen und Milieus mit feinster Sensibilität für das Innenleben seiner Figuren.
Anders als Raymond Carver, mit dem Ralf Rothmann zuletzt und gewiß nicht ohne Grund oft verglichen wurde, hat dieser Autor keine Furcht vor der Transzendenz. Beide verfolgen das Prinzip der Auslassung mit großer Konsequenz und eröffnen jenseits des Gesagten Räume, in denen die Emotionen ihrer Figuren zu finden sind. Eine Geschichte wie "Ein Winter unter Hirschen" könnte ohne weiteres von Carver sein. Eine Frau lebt mit ihrer Tochter bei einem Forstarbeiter, einem "Revierschoner", der den Jägern das Wild zuführt. Das Milieu ist freudlos, Alkohol, Zigaretten, der unentwegt laufende Fernseher sind die üblichen Requisiten. Die Tochter ist fort, die Erzählerin macht sich Sorgen, die sie aber rasch wieder vergißt. Statt die Tochter im Schneetreiben zu suchen, geht das Paar ins Bett. Als sie aus dem Fenster blicken, hat sich auf der Lichtung vor dem Haus Wild versammelt: "eine riesige, graubraune Herde aus Rehen, Böcken, Damwild und Hirschen". Der letzte Satz scheint eine Katastrophe anzudeuten: "Wo ist die Kleine?"
Hier wird nichts ausgesprochen, die Spannung zwischen den Figuren, das Ausbleiben der Tochter, die mysteriöse Versammlung der Tiere unter dem Schlafzimmerfenster, all dies erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, die nicht aufgelöst wird. In "Schicke Mütze" hingegen scheut sich Rothmann nicht, einen Hund zu beschreiben, dessen Anblick den Erzähler zu trösten vermag wie der einer Ikone: Der Hund ist "erleuchtet". Brutal und zugleich sentimental ist das Ende dieser Geschichte, ein Nebeneinander, das charakteristisch für diesen beeindruckenden Erzählungsband. Rothmann wagt viel, indem er den Schnodderton seiner Figuren, ihre Roheit und Sprachlosigkeit mit einer metaphysischen Sehnsucht verbindet. Aber beinahe immer gelingt dieses Wagnis. Wenn Rothmann einen Mann beschreibt, der sein im Abendlicht erleuchtetes Haus von außen betrachtet, blicken wir in die erleuchteten Wohnräume und zugleich in das Innere der von banalen Sorgen zerfressenen Figur. Was wir sehen, ist die Schönheit des Alltäglichen. Sie sichtbar zu machen, ist Ralf Rothmanns große Kunst.
HUBERT SPIEGEL
Ralf Rothmann: "Ein Winter unter Hirschen." Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 195 S., geb., 19,80
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