Marktplatzangebote
10 Angebote ab € 10,00 €
  • Gebundenes Buch

Produktdetails
  • Bestandskataloge der Graphischen Sammlung des Martin-von Wagner-Museums der Universität Würzburg
  • Verlag: Hirmer
  • Seitenzahl: 203
  • Abmessung: 360mm x 235mm x 35mm
  • Gewicht: 1802g
  • ISBN-13: 9783777469607
  • ISBN-10: 3777469602
  • Artikelnr.: 24080814
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.1996

Vaters Larven
Blick in die Tiepolo-Werkstatt: Ein Würzburger Album

Im November 1750 brach Giambattista Tiepolo in Venedig zur Reise nach Würzburg auf. Er folgte dem Ruf des Fürstbischofs Carl Philipp von Greiffenklau, der das von seinem Vorgänger errichtete Schloß, ein fränkisches Versailles, mit der Ausmalung des Kaisersaals und des Treppenhauses vollenden wollte. Der Fürst war von deutschen Malern enttäuscht, dann einem italienischen Hochstapler in die Falle gegangen. Danach setzte er alles auf eine Karte und gewann den virtuosesten und teuersten Maler seiner Zeit, der in drei Jahren das Riesenwerk bewältigte und im Würzburger Treppenhaus das schönste Gewölbebild des Spätbarock schuf. Die 40000 rheinischen Gulden, die Tiepolo am Ende dafür kassierte, wären heute etwa dreieinhalb Millionen Mark wert.

Der Maler wurde auf seiner Reise über den Brenner von zwei Söhnen begleitet: Giandomenico, der in der Würzburger Zeit zu eigener Meisterschaft heranreifte, und der damals erst vierzehnjährige Lorenzo. Der Vater nutzte Reise und Arbeit in Würzburg auch zur Ausbildung seiner Söhne. Giandomenico tritt bald markant aus dem Schatten des Vaters: Der überließ ihm zum Beispiel die großartigen Supraporten im Kaisersaal, griff aber, wie Studienblätter belegen, auch ein, um einer Komposition einen dramatischen Akzent zu geben. Der junge Lorenzo blieb dagegen unbeachtet. Er geistert als Knabenmodell durch die Bilder des Vaters, war aber künstlerisch lange nicht recht faßbar. Kontur gewinnt er durch eines von sieben Zeichnungsalben, die der Maler, Bildhauer und Antiquar Martin von Wagner 1858 der Würzburger Universität vermachte. Er hatte die Bände von seinem Vater, einem Hofbildhauer geerbt, der die Blätter im Würzburger Tiepolo-Umkreis aufgesammelt hatte.

Drei der sieben Alben aus dem Wagner-Besitz sind verloren, vier werden noch heute dem fränkischen Maler Georg-Anton Urlaub, der sich gleichfalls an der Tiepolo-Sonne wärmte, zugeschrieben. Die Konvolute waren bisher unpubliziert und unerschlossen. Auch das umfangreichste Album mit achtzig Kopfstudien unterschiedlichster Qualität, 1945 geraubt und 1971 für das Würzburger Universitätsmuseum zurückerworben, wurde pauschal dem Regionalisten Urlaub zugeschlagen. Doch die neuere Forschung kam zu anderen Bestimmungen. George Knox schrieb als erster einzelne Blätter dem jungen Lorenzo zu. Er konnte 25 Zeichnungen als Kopien nach Vorlagen des Vaters identifizieren. Zwanzig Blätter stellte Christel Thiem, die Stuttgarter Zeichungspezialistin, in diesem Frühjahr im Anhang der Würzburger Tiepolo-Ausstellung zum ersten Mal vor.

Das Album eröffnet einen tiefen Blick in die Werkstattpraxis des Venezianers und illustriert das Milieu seiner Würzburger Zeit. Denn ein Teil der mit Rötel und weißer Kreide gezeichneten Blätter, die alle das gleiche Format (33 mal 22 Zentimeter) und das gleiche blaue, venezianische Papier haben, zeigt lebensnahe, ja expressive Porträts aus der fränkischen Hofwelt mit Beamten, Dienern und Künstlern. Überraschend sind drei bäurisch geprägte Figuren, die eine in den Alpen verbreitete Mütze tragen. Thiem sieht darin auf der Reise der Tiepolos nach Würzburg entstandene Bildnisstudien. Offenbar hielt der Vater seine Söhne auf der Fahrt über die Alpen zu solchen Beobachtungen und ihrer zeichnerischen Formulierung an.

Nun hat Christel Thiem das gesamte Album mit den achtzig durchnumerierten Blättern, von denen heute vier fehlen, in einem mit faksimilehafter Treue gedruckten Band publiziert und mit akribischer Sorgfalt kommentiert ("Ein Zeichnungsalbum der Tiepolo in Würzburg", Hirmer Verlag München, 1996). Sie versucht einzelne Köpfe zu identifizieren und, vor allem, weitere Vorlagen ausfindig zu machen. Giambattista, so zeigt sich, hielt seine Söhne zum Kopieren seiner eigenen Zeichnungen an. Der Zweck war die Schulung, zugleich die Herstellung von Belegen für den Werkstattvorrat. Die Tiepolo-Söhne lernten also nicht primär am lebenden Modell, sondern trainierten sich in der Nachbildung und in der Auseinandersetzung mit den Vorlagen des Vaters. Das schließt nicht aus, daß einzelne Studien, so die nach den erwähnten Alpenbauern, unter Aufsicht des Vaters auch nach der Natur entstanden.

Das Kopieren züchtete keine Sklaven, sondern erlaubte auch zeichnerische Umprägungen und die Demonstration von eigenem Charakter. In der Besprechung jedes einzelnen Blatts erkundet die Autorin die Spielräume. Für knapp die Hälfte der Rötelzeichnungen sind nun die Vorbilder Giambattistas und des älteren Bruders Domenico ermittelt. Für die schwankende Qualität sind verschiedene Hände in Rechnung zu stellen. Im schlichtesten Fall hat man es mit etwas dürren und leblosen Durchzeichnungs- und Umrißskizzen zu tun, die Ideen und Motive festhalten und archivieren. Lorenzo vergröbert bisweilen das sensible Charakterbild eines Kopfes und den atmosphärischen Reichtum des Vorlageblattes. Er versachlicht und ernüchtert die Zeichnung und reduziert das lichtvolle malerische Fluidum auf den reinen Linien- und Strichbefund, auf ein kühles Notat. Manchmal neigt Lorenzo in seinen Reproduktionen zu medaillenhaften, ja skulpturalen Stilisierungen. In solchen Heroisierungen kündigt sich in der Tiepolo-Werkstatt der Klassizismus an. Die eindrucksvollsten Porträt-Kopien verwandeln das Abbild in Leben zurück. Kunst und Wirklichkeit sind im Spätbarock austauschbar, sie entzünden und steigern sich gegenseitig.

Die Kopien erlauben dem Adepten Interventionen und eigenwillige Umdeutungen. Lorenzo insistiert manchmal auf Details, er buchstabiert das elegante Sfumato und den fließenden Duktus des Vaters nach und löst sie in ein borstiges Staccato mit expressiven Pointen auf. Das wirkt so, als ob hier ein Realist, der dem Zauberwerk des Rokoko abschwört, oder ein Skulpteur am Werk wäre. Dann wieder beißt sich der Sohn in Physiognomien fest und arbeitet die Vorbilder zu Karikaturen um. Er behandelt die Porträts des Vaters wie Larven oder Draperien, er zeichnet Hülsen und traktiert Masken. Doch die besten Blätter kommen dem Vater ununterscheidbar nahe. Zwei Porträts des Albums können am Ende dem großen Giambattista selber zugeschrieben werden. EDUARD BEAUCAMP

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr