Zehn Jahre nach dem Einmarsch amerikanischer Streitkräfte in den Irak 2003 kommt das Land immer noch nicht zur Ruhe. Der Dritte Golfkrieg und die folgende Besatzung des Iraks veränderten das soziale Gefüge grundlegend und führten auch zu gewalttätigen Konflikten unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die bis heute anhalten. Das Zweistromland wird bis heute von Gewaltwellen erschüttert, die das Leben vieler Menschen erschweren und den Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft unmöglich machen. An dem Ringen um politische Macht zwischen schiitischen und sunnitischen Irakern beteiligen sich auch Gruppierungen, die sich die Errichtung einer alternativen Gesellschaftsform auf die Fahnen geschrieben haben.
Das vorliegende Buch widmet sich einer dieser Gruppierungen: dem "Islamischen Staat Irak". Es untersucht die Entstehung dieses irakischen Zweiges von al-Qaida, der von Abu Mus'ab az-Zarqawi, dem "schlachtenden Fürsten", gegründet wurde und seit 2004 für die schwersten Bombenattentate im Irak verantwortlich ist. Dass Gewalt als notwendiges Mittel eingesetzt werden muss, ist jedoch nur ein Aspekt der Gruppierung. Deren chronologisch-systematische Analyse deckt hier auf, wie ein "Islamischer Staat" denn gestaltet sein soll und mit welchen kommunikativen Mitteln sie die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer solchen Gesellschaftsform überzeugen will.
Das vorliegende Buch widmet sich einer dieser Gruppierungen: dem "Islamischen Staat Irak". Es untersucht die Entstehung dieses irakischen Zweiges von al-Qaida, der von Abu Mus'ab az-Zarqawi, dem "schlachtenden Fürsten", gegründet wurde und seit 2004 für die schwersten Bombenattentate im Irak verantwortlich ist. Dass Gewalt als notwendiges Mittel eingesetzt werden muss, ist jedoch nur ein Aspekt der Gruppierung. Deren chronologisch-systematische Analyse deckt hier auf, wie ein "Islamischer Staat" denn gestaltet sein soll und mit welchen kommunikativen Mitteln sie die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer solchen Gesellschaftsform überzeugen will.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2015Den Krieg gewonnen und den Frieden verloren
Zulauf aus Europa: Der Orientalist Christoph Günther beschreibt Ursprung und Ideologie des "Islamischen Staats"
Als das Manuskript dieses Buchs abgeschlossen wurde, gab es das "neue Kalifat" unter Abu Bakr al Bagdadi, das über einige Regionen des Iraks und Syriens herrscht, noch nicht. Doch seine Entstehung zeichnete sich schon ab, und die Lektüre von Christoph Günthers Buch über die Genese und Ideologie des "Islamischen Staates Irak" macht deutlich, wie es dazu kommen konnte. Günther endet mit der Proklamation des "Islamischen Staates im Irak und in der Levante", dem unmittelbaren Vorgänger des gegenwärtigen "Islamischen Staats" (IS).
Ohne die grundstürzenden Ereignisse im Irak seit 2003, so der Autor, Orientalist aus Leipzig, hätte sich die heute so bedrohliche und bedrückende Situation um den IS und seinen Terror nicht ergeben. Der Irak, das antike Zweistromland (Mesopotamien), ist somit der Schlüssel zum Verständnis der jüngsten Entwicklung auch in Syrien, die Günther nicht mehr berücksichtigen konnte.
Zwei Schwerpunkte kennzeichnen diese wissenschaftlich gut dokumentierte Arbeit (die Bibliographie ist fünfzig Seiten stark): das Aufkommen sowie die Ausbreitung der vom Dschihadismus geprägten religiösen und politischen Vorstellungen der Terroristen im Irak sowie ihre Methoden der Kommunikation. Der Dschihadismus ist spätestens seit dem letzten Irak-Krieg auch ein "digitales Phänomen" geworden, das mit seiner Propaganda in die arabische Welt und bis nach Europa ausstrahlt. Hinzu gehört auch die (Vor-)Geschichte des modernen Iraks seit 1979, nach der Machtergreifung Saddam Husseins.
Die zunächst weltliche, gegen Tribalismus und Konfessionalismus gerichtete Herrschaft der Baath-Partei ("Sozialistische Partei der arabischen Wiedergeburt") mutierte nach Günther unter Saddam zu einer "Republikanischen Monarchie", mehr und mehr beherrscht vom Diktator und seinem (sunnitischen) Clan aus Takrit. In jenem Maße, in dem das Regime nach dem langwierigen Krieg mit Iran und dem zweiten Golf-Krieg, in dem die Truppen Saddams in der "Mutter aller Schlachten" schwer geschlagen und das Land mit Sanktionen belegt wurde, in die Krise kam, erstarkte die Religion wieder als wirksamer Bezugsrahmen und Kitt eines Landes, das nicht nur von zahlreichen Stämmen bewohnt wird, sondern auch dreigeteilt ist: in arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden, die zwar Sunniten sind, doch keine Araber.
Der Autor dieser Rezension erinnert sich aus den neunziger Jahren an zahlreiche Transparente, die Saddam Hussein überall im Land als frommen Beter darstellten. Es erstarkte jedoch auch eine religiös eingefärbte Opposition im Lande wie im Exil, die auch von Iran kräftig unterstützt wurde.
Der Sieg der Amerikaner 2003, der zum Sturz Saddam Husseins führte, entpuppte sich als Pyrrhussieg. Saddams Gegner gewannen den Krieg und verloren in den folgenden Jahren den Frieden. Bis zu seiner Tötung 2006 war der Jordanier Abu Musab al Zarqawi, damals faktisch "Repräsentant" Al Qaidas, die er von Afghanistan in den Irak brachte, der wichtigste und berüchtigtste Dschihadist. Die Fäden dschihadistischer Organisationen, die nun Anschläge am laufenden Band ausführten, liefen bei ihm zusammen, und die Idee, einen "islamischen Staat im Irak" ins Leben zu rufen - als Alternative zu dem von der Besatzungsmacht etablierten neuen Regime, das die sunnitische Minderheit immer stärker marginalisierte -, wurde Hauptanliegen der irakischen Dschihadisten.
Doch der "Kampf" galt nicht allein den Schiiten und dem "amerikanisch-iranischen Komplott", sondern allen Abweichlern von der "reinen Lehre", dem "wahren", sprich salafistischen Islam, dessen Propagierung den Aufstieg der beiden Bagdadis begleitete (Abu Omar al Bagdadi, der Vorgänger des heutigen "Kalifen", wurde 2010 getötet, ihm folgte Abu Bakr al Bagdadi nach).
Schon al Zarqawi hatte gelegentlich mit dem utopischen Ziel eines "islamischen Staates" geworben, das Narrativ einer "amerikanisch-schiitischen Verschwörung" entworfen, das von nun an auch bewusst in die neuen Medien eingespeist wurde. Die irakischen Dschihadisten hatten erkannt, dass militärische "Erfolge" allein nicht ausreichten, um ihre Ziele zu erreichen. Man schuf außerdem ein zweites Narrativ vom idealen islamischen Staat, der angeblich an die frühislamischen Verhältnisse unter dem Propheten Mohammed anknüpfte, wobei man sich interessanterweise auf Theoretiker des elften bis vierzehnten Jahrhunderts berief. Zu diesem Zeitpunkt war die Einheit der islamischen Welt schon zerbrochen. Doch die Proklamation dieses staatlichen Gebildes sollte ein "Versuch historischer Sinnbildung" sein, wie der Autor es ausdrückt. Es wurde ein Versuch - der gegenwärtige Zulauf vieler Kämpfer aus Europa macht es deutlich -, der aus der Sicht seiner Schöpfer durchaus erfolgreich verlaufen ist.
Der IS als Nachfolger des "Islamischen Staates im Irak" (ISI), so die aktuelle Befürchtung, könnte sich als dauerhafter erweisen, als der Welt lieb ist. Momentan wird darüber diskutiert, wie ihm am besten beizukommen sei. Auch dabei könnte der Irak eine entscheidende Rolle spielen: Der IS ist ein rein sunnitisches Phänomen, das ohne den Hass der Sunniten - vornehmlich des Iraks - auf die Schiiten (wie auch umgekehrt) nicht hätte entstehen können. Da gilt es anzusetzen: Den arabisch-muslimischen Gegnern des IS und dem Westen muss es gelingen, im Irak Verbündete zu gewinnen, Politiker, die die Marginalisierung und Ausgrenzung der Sunniten beenden und ein vernünftiges konfessionelles, tribales wie politisches Gleichgewicht herstellen. Nur auf dieser Grundlage könnte diesem bedrohlichen Phänomen allmählich die Basis entzogen werden. Ob es dazu kommt, ist allerdings fraglich.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Christoph Günther: "Ein zweiter Staat im Zweistromland?" Genese und Ideologie des "Islamischen Staates Irak". Ergon Verlag, Würzburg 2014. 354 S., geb., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zulauf aus Europa: Der Orientalist Christoph Günther beschreibt Ursprung und Ideologie des "Islamischen Staats"
Als das Manuskript dieses Buchs abgeschlossen wurde, gab es das "neue Kalifat" unter Abu Bakr al Bagdadi, das über einige Regionen des Iraks und Syriens herrscht, noch nicht. Doch seine Entstehung zeichnete sich schon ab, und die Lektüre von Christoph Günthers Buch über die Genese und Ideologie des "Islamischen Staates Irak" macht deutlich, wie es dazu kommen konnte. Günther endet mit der Proklamation des "Islamischen Staates im Irak und in der Levante", dem unmittelbaren Vorgänger des gegenwärtigen "Islamischen Staats" (IS).
Ohne die grundstürzenden Ereignisse im Irak seit 2003, so der Autor, Orientalist aus Leipzig, hätte sich die heute so bedrohliche und bedrückende Situation um den IS und seinen Terror nicht ergeben. Der Irak, das antike Zweistromland (Mesopotamien), ist somit der Schlüssel zum Verständnis der jüngsten Entwicklung auch in Syrien, die Günther nicht mehr berücksichtigen konnte.
Zwei Schwerpunkte kennzeichnen diese wissenschaftlich gut dokumentierte Arbeit (die Bibliographie ist fünfzig Seiten stark): das Aufkommen sowie die Ausbreitung der vom Dschihadismus geprägten religiösen und politischen Vorstellungen der Terroristen im Irak sowie ihre Methoden der Kommunikation. Der Dschihadismus ist spätestens seit dem letzten Irak-Krieg auch ein "digitales Phänomen" geworden, das mit seiner Propaganda in die arabische Welt und bis nach Europa ausstrahlt. Hinzu gehört auch die (Vor-)Geschichte des modernen Iraks seit 1979, nach der Machtergreifung Saddam Husseins.
Die zunächst weltliche, gegen Tribalismus und Konfessionalismus gerichtete Herrschaft der Baath-Partei ("Sozialistische Partei der arabischen Wiedergeburt") mutierte nach Günther unter Saddam zu einer "Republikanischen Monarchie", mehr und mehr beherrscht vom Diktator und seinem (sunnitischen) Clan aus Takrit. In jenem Maße, in dem das Regime nach dem langwierigen Krieg mit Iran und dem zweiten Golf-Krieg, in dem die Truppen Saddams in der "Mutter aller Schlachten" schwer geschlagen und das Land mit Sanktionen belegt wurde, in die Krise kam, erstarkte die Religion wieder als wirksamer Bezugsrahmen und Kitt eines Landes, das nicht nur von zahlreichen Stämmen bewohnt wird, sondern auch dreigeteilt ist: in arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden, die zwar Sunniten sind, doch keine Araber.
Der Autor dieser Rezension erinnert sich aus den neunziger Jahren an zahlreiche Transparente, die Saddam Hussein überall im Land als frommen Beter darstellten. Es erstarkte jedoch auch eine religiös eingefärbte Opposition im Lande wie im Exil, die auch von Iran kräftig unterstützt wurde.
Der Sieg der Amerikaner 2003, der zum Sturz Saddam Husseins führte, entpuppte sich als Pyrrhussieg. Saddams Gegner gewannen den Krieg und verloren in den folgenden Jahren den Frieden. Bis zu seiner Tötung 2006 war der Jordanier Abu Musab al Zarqawi, damals faktisch "Repräsentant" Al Qaidas, die er von Afghanistan in den Irak brachte, der wichtigste und berüchtigtste Dschihadist. Die Fäden dschihadistischer Organisationen, die nun Anschläge am laufenden Band ausführten, liefen bei ihm zusammen, und die Idee, einen "islamischen Staat im Irak" ins Leben zu rufen - als Alternative zu dem von der Besatzungsmacht etablierten neuen Regime, das die sunnitische Minderheit immer stärker marginalisierte -, wurde Hauptanliegen der irakischen Dschihadisten.
Doch der "Kampf" galt nicht allein den Schiiten und dem "amerikanisch-iranischen Komplott", sondern allen Abweichlern von der "reinen Lehre", dem "wahren", sprich salafistischen Islam, dessen Propagierung den Aufstieg der beiden Bagdadis begleitete (Abu Omar al Bagdadi, der Vorgänger des heutigen "Kalifen", wurde 2010 getötet, ihm folgte Abu Bakr al Bagdadi nach).
Schon al Zarqawi hatte gelegentlich mit dem utopischen Ziel eines "islamischen Staates" geworben, das Narrativ einer "amerikanisch-schiitischen Verschwörung" entworfen, das von nun an auch bewusst in die neuen Medien eingespeist wurde. Die irakischen Dschihadisten hatten erkannt, dass militärische "Erfolge" allein nicht ausreichten, um ihre Ziele zu erreichen. Man schuf außerdem ein zweites Narrativ vom idealen islamischen Staat, der angeblich an die frühislamischen Verhältnisse unter dem Propheten Mohammed anknüpfte, wobei man sich interessanterweise auf Theoretiker des elften bis vierzehnten Jahrhunderts berief. Zu diesem Zeitpunkt war die Einheit der islamischen Welt schon zerbrochen. Doch die Proklamation dieses staatlichen Gebildes sollte ein "Versuch historischer Sinnbildung" sein, wie der Autor es ausdrückt. Es wurde ein Versuch - der gegenwärtige Zulauf vieler Kämpfer aus Europa macht es deutlich -, der aus der Sicht seiner Schöpfer durchaus erfolgreich verlaufen ist.
Der IS als Nachfolger des "Islamischen Staates im Irak" (ISI), so die aktuelle Befürchtung, könnte sich als dauerhafter erweisen, als der Welt lieb ist. Momentan wird darüber diskutiert, wie ihm am besten beizukommen sei. Auch dabei könnte der Irak eine entscheidende Rolle spielen: Der IS ist ein rein sunnitisches Phänomen, das ohne den Hass der Sunniten - vornehmlich des Iraks - auf die Schiiten (wie auch umgekehrt) nicht hätte entstehen können. Da gilt es anzusetzen: Den arabisch-muslimischen Gegnern des IS und dem Westen muss es gelingen, im Irak Verbündete zu gewinnen, Politiker, die die Marginalisierung und Ausgrenzung der Sunniten beenden und ein vernünftiges konfessionelles, tribales wie politisches Gleichgewicht herstellen. Nur auf dieser Grundlage könnte diesem bedrohlichen Phänomen allmählich die Basis entzogen werden. Ob es dazu kommt, ist allerdings fraglich.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Christoph Günther: "Ein zweiter Staat im Zweistromland?" Genese und Ideologie des "Islamischen Staates Irak". Ergon Verlag, Würzburg 2014. 354 S., geb., 58,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christoph Günthers Buch "Ein zweiter Staat im Zweistromland?" ist eine umsichtige Untersuchung über die Ursprünge des Islamischen Staates, lobt Wolfgang Günter Lerch. Entscheidend sei das Ungleichgewicht konfessioneller, tribaler wie politischer Mächte im Irak, das vor allem durch die diversen Kriege der letzten Jahrzehnte verursacht wurde und die Unterdrückung der sunnitischen Minderheit im Irak zur Folge hatte, was letztlich zur Gründung einer Gegenbewegung, des "Islamischen Staates im Irak und in der Levante", geführt habe, aus der später der aktuelle IS erwuchs, fasst der Rezensent zusammen. Gründlich untersucht Günther auch die Konstruktion der Narrative einer "amerikanisch-schiitischen Verschwörung" und eines "idealen islamischen Staats", der in einer quasi-mythischen Vorzeit verortet wird, so Lerch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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