In dieser 1928 veröffentlichten Aphorismensammlung, seinem bis heute bekanntesten Werk, führt der Berliner Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin seine verblüffende Denkmethode exemplarisch vor: Aus alltäglichen Erscheinungen wie Tankstellen, Normaluhren, Feuermeldern, Reiseandenken- oder Bürobedarfsläden entwickelt er kurze, prägnante Epochenporträts der späten Weimarer Republik mit all ihren gesellschaftlichen Widersprüchen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2024Rückblick auf die großen Zeiten der Revue
Von Eckhardt Köhn
Als der Musikkritiker und Schönberg-Schüler Hans Heinz Stuckenschmidt 1926 seinen Artikel "Lob der Revue" mit der Aufforderung beendete: "Dichter und Musiker - Schafft Revuen", hatte er den Erfolg der großen Berliner Ausstattungsrevuen vor Augen, aber eine fundamentale Reform des Musiktheaters im Sinn. Erik Charell, vormaliger Assistent von Max Reinhardt, war es 1924 in Berlin mit seiner Revue "An Alle!" gelungen, ein neues Bühnenformat zu schaffen, das dem für mehrere Jahre von Einflüssen aus dem Ausland abgeschnittenen deutschen Publikum zeigen sollte, welche Formen zeitgemäßer Unterhaltung sich dort mittlerweile entwickelt hatten. Wenige Tage vor der Uraufführung schrieb sein Förderer, der Kunsthändler Alfred Flechtheim, Charell sei in Paris und New York gewesen, habe dort Jazz gehört, Chaplin-Filme gesehen, seine Ballettkenntnisse erweitert, um alle Elemente zu einer bunten Mischung aus Sketchen, Kabarett, Spiel, Musik, Tanz und Akrobatik zusammenzuführen.
Wie im Titel annonciert, war damit der Anspruch verbunden, sämtliche Schichten der Bevölkerung zu erreichen. Die von Charell im großen Berliner Schauspielhaus inszenierten Aufführungen fanden schnell ein begeistertes Publikum, das sich von Irving Berlins Jazzrhythmen mitreißen ließ. Zum außerordentlichen Erfolg der Revuen trug neben dem Broadway-Sound vor allem das sinnliche Raffinement von Tanzgruppen wie den "Tiller Girls" oder den "Jackson Girls" bei. Alfred Polgar hat dieses Phänomen in einem seiner scharfsinnigen Feuilletons beschrieben: "Girls nennt man Gruppen von jüngeren Frauen, die bereit sind, ziemlich entkleidet auf einer Bühne vorgeschriebene parallele Bewegungen zu machen. (...) Girl neben Girl gestellt wie die Posten einer Summe machen noch lange keine 'Girls', das macht erst die Addition, die Verschmelzung der Einzelwesen zum Kollektivum. Mehrere, sagen wir etwa zwölf weibliche Wesen à zwei Beine, ergeben noch keine Girls. Erst bis sie ein Wesen von vierundzwanzig Beinen geworden sind, führen sie den Namen zu Recht (...). Eine girl-lose Revue, sozusagen eine vegetarische Revue, hätte gar keinen Nährwert."
Weit entfernt von faden Gerichten dieser Art waren die von Hermann Haller im Admiralspalast oder von James Klein in der Komischen Oper gezeigten Ausstattungsrevuen, die in ihren Darbietungen ganz auf visuelle Effekte und inszenierte Nacktheit setzten. Titel wie "Berlin ohne Hemd" oder "Zieh dich aus" wiesen auch dem Strom der Touristen den Weg ins unbekannte großstädtische Vergnügen. Als die Metropole unter dem Motto "Jeder einmal in Berlin" die erste deutschlandweite Werbekampagne für den Besuch in der Hauptstadt durchführte, bilanzierte der Leiter, Karl Vetter, schon kurz nach Beginn, dass die große Masse der Berlinbesucher das "Revue-Erlebnis" suche, "den berauschenden Wechsel von Bildern, Farben und Frauen". Angesichts dieses Befundes war für ihn unter Marketingaspekten die Erkenntnis zwingend: "Die große Revue ist eine fremdenpolitische Notwendigkeit."
Dass sie sich auch für politische Zwecke eignete, bewies Erwin Piscator, als er vor den Reichstagswahlen 1924 seine "Revue Roter Rummel" auf Wahlveranstaltungen der KPD zeigte und mit "Trotz alledem" ihren 10. Parteitag im Juli 1925 eröffnete. Der Verzicht auf eine durchgehende Handlung, die Erotik der an den Körperkünsten orientierten Darbietungen sowie die mit der offenen Form gegebenen Möglichkeiten, auf gesellschaftliche Zustände und aktuelle Konflikte unmittelbar eingehen zu können, führten zu einem Verständnis der Revue als moderner, der Zeit angemessener Entwicklungsstufe theatralischer Darstellungsformen, nicht weit entfernt von Brechts ebenfalls in diesen Jahren entworfenem Konzept des epischen Theaters.
In einem gemeinsam verfassten Aufsatz, der 1925 unter dem Titel "Revue oder Theater" in dem Magazin "Der Querschnitt" erschien, erörterten Avantgardisten wie Walter Benjamin und der von Max Reinhardt als Regisseur ans Deutsche Theater berufene Bernhard Reich die Möglichkeit, "Hamlet" als Bilderfolge zu inszenieren. Von diesem Gedankenspiel ausgehend, gelangten sie zur provokativen, aber theoretisch begründeten Forderung, die Revue solle ihre Fixierung auf unbekleidete Frauenkörper abstreifen und "ganz frech" in den Bereich von Theater und Literatur eindringen: "Die feierliche Kontinuität der Akte (...) können wir uns nicht leisten. Die einzelnen Szenen müssen reizend, überraschend und appetitlich beisammenstehen. Heiteres neben Ernstem. Die Virtuosität der Schauspieler neben Theateringenieuren."
Wenig später hat Hans Heinz Stuckenschmidt die Poetik der Revue noch genauer beschrieben: "Stets der Meinung des Tages verhaftet, untertan dem Stimmungswechsel in Geschmack, Börse und Politik - aktuellster Ausdruck des täglichen und nächtlichen Brotes -, muss sie variabel sein im Ganzen wie im Detail: gewärtig neuer Eingriffe; elastisch und in allen Teilen auseinandernehmbar." Als Walter Benjamins Prosasammlung "Einbahnstraße" 1928 im Rowohlt Verlag erschien, hätte sich die Kritik mit Kriterien dieser Art dem Buch durchaus nähern können. Stattdessen belegen die Zeugnisse der zeitgenössischen Rezeption, die Detlev Schöttker in dem von ihm herausgegebenen Band acht der "Kritischen Gesamtausgabe" Walter Benjamins versammelt hat, eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber dem Buch, das den Lesern weder einen Hinweis auf die gattungsmäßige Zuordnung der Einzeltexte noch auf das dem ganzen Werk zugrundeliegende Konstruktionsprinzip an die Hand gab. Selbst Ernst Bloch schwankte mit seiner Einschätzung, wenn er in seiner Besprechung zunächst von Benjamins "sonderbarer Phänomenologie", dann von "Photomontage" und schließlich von "Surrealismus in der Philosophie" sprach. Allerdings trifft der auf Phänomene der populären Kultur stets neugierige Freund Benjamins mit dem Titel seiner Kritik "Revueform in der Philosophie" den Nagel auf den Kopf, verzichtet jedoch darauf, ihn weiter einzuschlagen. Da er bei Benjamin "Philosopheme unterm Glas der Schaufenster" zu erkennen glaubte, rückte er ihn in die Nähe seines eigenen Denkens, ohne den Hinweis auf die Kunstform weiter zu verfolgen.
Legt man den Akzent von Blochs Formulierung jedoch auf diesen Aspekt, so ergeben sich weitreichende Gemeinsamkeiten zwischen dem Genre der Massenkultur und Benjamins schmalem Prosaband. Alle zeitgenössischen Beiträge zur Form der Revue stimmen darin überein, dass sie sich durch Abwechslung, Gegenwartsbezug und Tempo auszeichnen und zudem eine gewisse Analogie zur Struktur der Großstadterfahrung aufweist. Berlin selbst, schrieb ein Kritiker, sei eine "große Revue"; einem launigen Feuilletonisten erschien die Straße als attraktive Bühne, bei der man besonders darauf achten solle, was der Luftzug aus U-Bahnschächten bei vorübergehenden Damen anrichten könne: "Ein Parkettplatz in der Revue? Zwölf Mark bitte sehr! Wie? Das hat er nicht. Hat er nicht auf der Straße mitten im hellen Sonnenschein, mitten im Trubel von Lärm und Gedränge die reizendsten Dinge gesehen. Beine - Beine - Dessous und Auslagen! Ein reizendes Durcheinander von Pikanterien (...). Ein Wirbel, der an den Augen vorbeizieht, wie ein buntes Revuefinale." Was in der Wirklichkeit bei einem Gang durch die Straße als Nacheinander von zufälligen Überraschungen erlebt werden kann, wird in der Revue zum Formprinzip erhoben.
Konnte die Straße als Revue verstanden werden, so lag es nahe, im Umkehrschluss die Revue als Straße zu inszenieren, zumindest immer wieder auf die Dynamik von urbanen Szenen und Bildern zurückzugreifen. In seinem Standardwerk "Glanzrevuen der zwanziger Jahre" hat Wolfgang Jansen anhand von historischen Fotografien belegt, dass Hermann Haller in seinen Inszenierungen "Noch und noch" (1925) und "An und aus" (1926) den Hintergrund der Bühne mit riesigen Straßenbildern ausgestattet hat, vor denen Autos fahren und die "Tiller Girls" tanzen.
Dem Urbanismus der Epoche gleichermaßen verfallen, fand auch Benjamin sein Material buchstäblich auf der Straße, indem er auf Hauswänden, Plakaten und Schildern zu lesende Schriften wie "Ankleben verboten", "Deutsche trinkt deutsches Bier" oder "Nachtglocke zum Arzt" notiert, um sie als Überschriften für seine zeitdiagnostischen Prosastücke zu verwenden. Bereits im September 1926 hatte Benjamin Gershom Scholem brieflich mitgeteilt, es sei "eine merkwürdige Organisation oder Konstruktion aus meinen 'Aphorismen' geworden, eine Straße". Dem renommierten Fotografen Sasha Stone gelang es wenig später, diese Idee mit den Mitteln einer für den Umschlag entworfenen Fotomontage sinnfällig zu machen, auf der eine Staffelung leuchtend rot umrahmter Verkehrsschilder den Titel des Buches anzeigen.
Galt neben dem Zeitbezug das Tempo der Darbietung als unentbehrliches Merkmal der Revue, so vollzieht sich auch Benjamins Erfahrung der Straße ganz im Zeichen einer beschleunigten Wahrnehmung und Reflexion. Sie gestatteten es ihm im Hinblick auf die literarische Darstellung nicht mehr, auf die Figur des Flaneurs zurückzugreifen, der seine Eindrücke gemächlich schildert. Benjamin, so sein Freund Franz Hessel, "schraubt der Erkenntnis einen Geschwindigkeitsmesser an", was eher an eine Autofahrt denken lässt. Auch in der Revue hatte der forcierte Bühnenverkehr seine Opfer gefordert, und der einstige, für Überleitungen zuständige Conférencier war längst unter die Räder gekommen. Der schnellen Abfolge der höchst unterschiedlichen Szenen auf der Bühne entspricht bei ihm die Reihung kurzer, thematisch variierender Prosastücke, für deren Abfolge das Moment der Unterbrechung ebenso konstitutiv ist wie das der Kontinuität.
Noch deutlicher tritt die Verwendung eines genrespezifischen Elements der Revue an einem Detail hervor, das Benjamin ebenfalls in sein avantgardistisches Konzept übernimmt. Bei der Revue wird im Programmheft auf den Inhalt der einzelnen Szenen durch entsprechende Titel hingewiesen, oder diese werden durch Schilder angezeigt, die sogenannte Nummerngirls vor sich hertragen; in Benjamins Buch übernehmen die typographisch fett gesetzten Überschriften der Prosastücke die gleiche Funktion. In der Revue "An alle" finden sich Titel wie "Die Schaubude", "Kindertraum" oder "Galante Zeit", nicht viel anders ist bei Benjamin von "Kaiserpanorama", "Spielwaren" oder "Coiffeur für penible Damen" die Rede. Allerdings sind bei ihm die Bezeichnungen nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen. So hat der Begriff "Tankstelle" bei Benjamin nichts mit der Benzinausgabe zu tun, sondern bezeichnet einen poetologischen Ort, an dem sich der Leser mit Wissen versorgen kann, das zu einem besseren Verständnis der Texte verhelfen soll.
Es bleibt die Frage, auf welche Weise Benjamin zu dem Einfall gekommen sein könnte, sein Werk "Einbahnstraße" zu nennen? In einem Beitrag mit dem Titel "Wie eine Revue entsteht", der 1925 im Magazin "Uhu" erschien, hat Erik Charell seine Arbeitsweise beschrieben: "Das Schwerste ist das Finden einer Grundidee, einer einfachen Handlung, um die sich die Bilder dann zwanglos gruppieren, und das Finden eigener Bilder selbst, die etwas besonders Neues und Kostbares bieten sollen. Sind diese Grundpfeiler vorhanden, so baut sich dann das Gebäude von selbst." Nicht nur die Architekturmetapher verweist auf Benjamins Konzeption; noch ein anderes, bislang unbekanntes Dokument ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Ende September 1925 veröffentliche die "Berliner Illustrirte Zeitung" die Fotografie einer in einer Richtung aufgereihten Girl-Gruppe mit der Bildunterschrift: "Ornament des Zeitgeistes - Tanzmädchen in einer Revue-Szene 'Die Einbahnstraße'". Um welche Revue es sich dabei gehandelt hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Geht man von einer gewissen Aktualität der Berichterstattung aus, so kommen jedoch nur Charells Produktionen "An Alle" und "Für dich" sowie Hallers "Achtung! Welle 505" infrage, die zu dieser Zeit in Berlin zu sehen waren. Es ist dabei unerheblich, ob Benjamin die entsprechende Aufführung selbst gesehen oder als Leser der von ihm überaus geschätzten "Berliner Illustrirten Zeitung" von der getanzten "Einbahnstraße" erfahren hat.
Viel spricht dafür, dass Benjamins Erfahrungen mit der Revue nicht nur dazu geführt haben, ihr Formprinzip im Akt einer ästhetischen Transposition in den Bereich der Literatur zu übertragen, sondern auch den Titel dieser Szene für sein Buch zu übernehmen. Vermutlich erschien er ihm deshalb hervorragend geeignet, weil er sein eigenes Denken mittlerweile so verstand, dass es sich nur in eine Richtung entwickelte, nämlich in die eines Materialismus marxistischer Prägung. Jedenfalls liegt mit der beschrifteten Fotografie eine wichtige Quelle vor, die Benjamin-Forschern bislang entgangen ist. Vielleicht empfand der Liebhaber von versteckten Zitaten ein stilles Vergnügen bei dem Gedanken, dass die vorgeschriebene Richtung einer Einbahnstraße es neugierigen Lesern schwer machen würde, an den Anfang zurückzukehren.
Eckhardt Köhn lehrt Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Von Eckhardt Köhn
Als der Musikkritiker und Schönberg-Schüler Hans Heinz Stuckenschmidt 1926 seinen Artikel "Lob der Revue" mit der Aufforderung beendete: "Dichter und Musiker - Schafft Revuen", hatte er den Erfolg der großen Berliner Ausstattungsrevuen vor Augen, aber eine fundamentale Reform des Musiktheaters im Sinn. Erik Charell, vormaliger Assistent von Max Reinhardt, war es 1924 in Berlin mit seiner Revue "An Alle!" gelungen, ein neues Bühnenformat zu schaffen, das dem für mehrere Jahre von Einflüssen aus dem Ausland abgeschnittenen deutschen Publikum zeigen sollte, welche Formen zeitgemäßer Unterhaltung sich dort mittlerweile entwickelt hatten. Wenige Tage vor der Uraufführung schrieb sein Förderer, der Kunsthändler Alfred Flechtheim, Charell sei in Paris und New York gewesen, habe dort Jazz gehört, Chaplin-Filme gesehen, seine Ballettkenntnisse erweitert, um alle Elemente zu einer bunten Mischung aus Sketchen, Kabarett, Spiel, Musik, Tanz und Akrobatik zusammenzuführen.
Wie im Titel annonciert, war damit der Anspruch verbunden, sämtliche Schichten der Bevölkerung zu erreichen. Die von Charell im großen Berliner Schauspielhaus inszenierten Aufführungen fanden schnell ein begeistertes Publikum, das sich von Irving Berlins Jazzrhythmen mitreißen ließ. Zum außerordentlichen Erfolg der Revuen trug neben dem Broadway-Sound vor allem das sinnliche Raffinement von Tanzgruppen wie den "Tiller Girls" oder den "Jackson Girls" bei. Alfred Polgar hat dieses Phänomen in einem seiner scharfsinnigen Feuilletons beschrieben: "Girls nennt man Gruppen von jüngeren Frauen, die bereit sind, ziemlich entkleidet auf einer Bühne vorgeschriebene parallele Bewegungen zu machen. (...) Girl neben Girl gestellt wie die Posten einer Summe machen noch lange keine 'Girls', das macht erst die Addition, die Verschmelzung der Einzelwesen zum Kollektivum. Mehrere, sagen wir etwa zwölf weibliche Wesen à zwei Beine, ergeben noch keine Girls. Erst bis sie ein Wesen von vierundzwanzig Beinen geworden sind, führen sie den Namen zu Recht (...). Eine girl-lose Revue, sozusagen eine vegetarische Revue, hätte gar keinen Nährwert."
Weit entfernt von faden Gerichten dieser Art waren die von Hermann Haller im Admiralspalast oder von James Klein in der Komischen Oper gezeigten Ausstattungsrevuen, die in ihren Darbietungen ganz auf visuelle Effekte und inszenierte Nacktheit setzten. Titel wie "Berlin ohne Hemd" oder "Zieh dich aus" wiesen auch dem Strom der Touristen den Weg ins unbekannte großstädtische Vergnügen. Als die Metropole unter dem Motto "Jeder einmal in Berlin" die erste deutschlandweite Werbekampagne für den Besuch in der Hauptstadt durchführte, bilanzierte der Leiter, Karl Vetter, schon kurz nach Beginn, dass die große Masse der Berlinbesucher das "Revue-Erlebnis" suche, "den berauschenden Wechsel von Bildern, Farben und Frauen". Angesichts dieses Befundes war für ihn unter Marketingaspekten die Erkenntnis zwingend: "Die große Revue ist eine fremdenpolitische Notwendigkeit."
Dass sie sich auch für politische Zwecke eignete, bewies Erwin Piscator, als er vor den Reichstagswahlen 1924 seine "Revue Roter Rummel" auf Wahlveranstaltungen der KPD zeigte und mit "Trotz alledem" ihren 10. Parteitag im Juli 1925 eröffnete. Der Verzicht auf eine durchgehende Handlung, die Erotik der an den Körperkünsten orientierten Darbietungen sowie die mit der offenen Form gegebenen Möglichkeiten, auf gesellschaftliche Zustände und aktuelle Konflikte unmittelbar eingehen zu können, führten zu einem Verständnis der Revue als moderner, der Zeit angemessener Entwicklungsstufe theatralischer Darstellungsformen, nicht weit entfernt von Brechts ebenfalls in diesen Jahren entworfenem Konzept des epischen Theaters.
In einem gemeinsam verfassten Aufsatz, der 1925 unter dem Titel "Revue oder Theater" in dem Magazin "Der Querschnitt" erschien, erörterten Avantgardisten wie Walter Benjamin und der von Max Reinhardt als Regisseur ans Deutsche Theater berufene Bernhard Reich die Möglichkeit, "Hamlet" als Bilderfolge zu inszenieren. Von diesem Gedankenspiel ausgehend, gelangten sie zur provokativen, aber theoretisch begründeten Forderung, die Revue solle ihre Fixierung auf unbekleidete Frauenkörper abstreifen und "ganz frech" in den Bereich von Theater und Literatur eindringen: "Die feierliche Kontinuität der Akte (...) können wir uns nicht leisten. Die einzelnen Szenen müssen reizend, überraschend und appetitlich beisammenstehen. Heiteres neben Ernstem. Die Virtuosität der Schauspieler neben Theateringenieuren."
Wenig später hat Hans Heinz Stuckenschmidt die Poetik der Revue noch genauer beschrieben: "Stets der Meinung des Tages verhaftet, untertan dem Stimmungswechsel in Geschmack, Börse und Politik - aktuellster Ausdruck des täglichen und nächtlichen Brotes -, muss sie variabel sein im Ganzen wie im Detail: gewärtig neuer Eingriffe; elastisch und in allen Teilen auseinandernehmbar." Als Walter Benjamins Prosasammlung "Einbahnstraße" 1928 im Rowohlt Verlag erschien, hätte sich die Kritik mit Kriterien dieser Art dem Buch durchaus nähern können. Stattdessen belegen die Zeugnisse der zeitgenössischen Rezeption, die Detlev Schöttker in dem von ihm herausgegebenen Band acht der "Kritischen Gesamtausgabe" Walter Benjamins versammelt hat, eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber dem Buch, das den Lesern weder einen Hinweis auf die gattungsmäßige Zuordnung der Einzeltexte noch auf das dem ganzen Werk zugrundeliegende Konstruktionsprinzip an die Hand gab. Selbst Ernst Bloch schwankte mit seiner Einschätzung, wenn er in seiner Besprechung zunächst von Benjamins "sonderbarer Phänomenologie", dann von "Photomontage" und schließlich von "Surrealismus in der Philosophie" sprach. Allerdings trifft der auf Phänomene der populären Kultur stets neugierige Freund Benjamins mit dem Titel seiner Kritik "Revueform in der Philosophie" den Nagel auf den Kopf, verzichtet jedoch darauf, ihn weiter einzuschlagen. Da er bei Benjamin "Philosopheme unterm Glas der Schaufenster" zu erkennen glaubte, rückte er ihn in die Nähe seines eigenen Denkens, ohne den Hinweis auf die Kunstform weiter zu verfolgen.
Legt man den Akzent von Blochs Formulierung jedoch auf diesen Aspekt, so ergeben sich weitreichende Gemeinsamkeiten zwischen dem Genre der Massenkultur und Benjamins schmalem Prosaband. Alle zeitgenössischen Beiträge zur Form der Revue stimmen darin überein, dass sie sich durch Abwechslung, Gegenwartsbezug und Tempo auszeichnen und zudem eine gewisse Analogie zur Struktur der Großstadterfahrung aufweist. Berlin selbst, schrieb ein Kritiker, sei eine "große Revue"; einem launigen Feuilletonisten erschien die Straße als attraktive Bühne, bei der man besonders darauf achten solle, was der Luftzug aus U-Bahnschächten bei vorübergehenden Damen anrichten könne: "Ein Parkettplatz in der Revue? Zwölf Mark bitte sehr! Wie? Das hat er nicht. Hat er nicht auf der Straße mitten im hellen Sonnenschein, mitten im Trubel von Lärm und Gedränge die reizendsten Dinge gesehen. Beine - Beine - Dessous und Auslagen! Ein reizendes Durcheinander von Pikanterien (...). Ein Wirbel, der an den Augen vorbeizieht, wie ein buntes Revuefinale." Was in der Wirklichkeit bei einem Gang durch die Straße als Nacheinander von zufälligen Überraschungen erlebt werden kann, wird in der Revue zum Formprinzip erhoben.
Konnte die Straße als Revue verstanden werden, so lag es nahe, im Umkehrschluss die Revue als Straße zu inszenieren, zumindest immer wieder auf die Dynamik von urbanen Szenen und Bildern zurückzugreifen. In seinem Standardwerk "Glanzrevuen der zwanziger Jahre" hat Wolfgang Jansen anhand von historischen Fotografien belegt, dass Hermann Haller in seinen Inszenierungen "Noch und noch" (1925) und "An und aus" (1926) den Hintergrund der Bühne mit riesigen Straßenbildern ausgestattet hat, vor denen Autos fahren und die "Tiller Girls" tanzen.
Dem Urbanismus der Epoche gleichermaßen verfallen, fand auch Benjamin sein Material buchstäblich auf der Straße, indem er auf Hauswänden, Plakaten und Schildern zu lesende Schriften wie "Ankleben verboten", "Deutsche trinkt deutsches Bier" oder "Nachtglocke zum Arzt" notiert, um sie als Überschriften für seine zeitdiagnostischen Prosastücke zu verwenden. Bereits im September 1926 hatte Benjamin Gershom Scholem brieflich mitgeteilt, es sei "eine merkwürdige Organisation oder Konstruktion aus meinen 'Aphorismen' geworden, eine Straße". Dem renommierten Fotografen Sasha Stone gelang es wenig später, diese Idee mit den Mitteln einer für den Umschlag entworfenen Fotomontage sinnfällig zu machen, auf der eine Staffelung leuchtend rot umrahmter Verkehrsschilder den Titel des Buches anzeigen.
Galt neben dem Zeitbezug das Tempo der Darbietung als unentbehrliches Merkmal der Revue, so vollzieht sich auch Benjamins Erfahrung der Straße ganz im Zeichen einer beschleunigten Wahrnehmung und Reflexion. Sie gestatteten es ihm im Hinblick auf die literarische Darstellung nicht mehr, auf die Figur des Flaneurs zurückzugreifen, der seine Eindrücke gemächlich schildert. Benjamin, so sein Freund Franz Hessel, "schraubt der Erkenntnis einen Geschwindigkeitsmesser an", was eher an eine Autofahrt denken lässt. Auch in der Revue hatte der forcierte Bühnenverkehr seine Opfer gefordert, und der einstige, für Überleitungen zuständige Conférencier war längst unter die Räder gekommen. Der schnellen Abfolge der höchst unterschiedlichen Szenen auf der Bühne entspricht bei ihm die Reihung kurzer, thematisch variierender Prosastücke, für deren Abfolge das Moment der Unterbrechung ebenso konstitutiv ist wie das der Kontinuität.
Noch deutlicher tritt die Verwendung eines genrespezifischen Elements der Revue an einem Detail hervor, das Benjamin ebenfalls in sein avantgardistisches Konzept übernimmt. Bei der Revue wird im Programmheft auf den Inhalt der einzelnen Szenen durch entsprechende Titel hingewiesen, oder diese werden durch Schilder angezeigt, die sogenannte Nummerngirls vor sich hertragen; in Benjamins Buch übernehmen die typographisch fett gesetzten Überschriften der Prosastücke die gleiche Funktion. In der Revue "An alle" finden sich Titel wie "Die Schaubude", "Kindertraum" oder "Galante Zeit", nicht viel anders ist bei Benjamin von "Kaiserpanorama", "Spielwaren" oder "Coiffeur für penible Damen" die Rede. Allerdings sind bei ihm die Bezeichnungen nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen. So hat der Begriff "Tankstelle" bei Benjamin nichts mit der Benzinausgabe zu tun, sondern bezeichnet einen poetologischen Ort, an dem sich der Leser mit Wissen versorgen kann, das zu einem besseren Verständnis der Texte verhelfen soll.
Es bleibt die Frage, auf welche Weise Benjamin zu dem Einfall gekommen sein könnte, sein Werk "Einbahnstraße" zu nennen? In einem Beitrag mit dem Titel "Wie eine Revue entsteht", der 1925 im Magazin "Uhu" erschien, hat Erik Charell seine Arbeitsweise beschrieben: "Das Schwerste ist das Finden einer Grundidee, einer einfachen Handlung, um die sich die Bilder dann zwanglos gruppieren, und das Finden eigener Bilder selbst, die etwas besonders Neues und Kostbares bieten sollen. Sind diese Grundpfeiler vorhanden, so baut sich dann das Gebäude von selbst." Nicht nur die Architekturmetapher verweist auf Benjamins Konzeption; noch ein anderes, bislang unbekanntes Dokument ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Ende September 1925 veröffentliche die "Berliner Illustrirte Zeitung" die Fotografie einer in einer Richtung aufgereihten Girl-Gruppe mit der Bildunterschrift: "Ornament des Zeitgeistes - Tanzmädchen in einer Revue-Szene 'Die Einbahnstraße'". Um welche Revue es sich dabei gehandelt hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Geht man von einer gewissen Aktualität der Berichterstattung aus, so kommen jedoch nur Charells Produktionen "An Alle" und "Für dich" sowie Hallers "Achtung! Welle 505" infrage, die zu dieser Zeit in Berlin zu sehen waren. Es ist dabei unerheblich, ob Benjamin die entsprechende Aufführung selbst gesehen oder als Leser der von ihm überaus geschätzten "Berliner Illustrirten Zeitung" von der getanzten "Einbahnstraße" erfahren hat.
Viel spricht dafür, dass Benjamins Erfahrungen mit der Revue nicht nur dazu geführt haben, ihr Formprinzip im Akt einer ästhetischen Transposition in den Bereich der Literatur zu übertragen, sondern auch den Titel dieser Szene für sein Buch zu übernehmen. Vermutlich erschien er ihm deshalb hervorragend geeignet, weil er sein eigenes Denken mittlerweile so verstand, dass es sich nur in eine Richtung entwickelte, nämlich in die eines Materialismus marxistischer Prägung. Jedenfalls liegt mit der beschrifteten Fotografie eine wichtige Quelle vor, die Benjamin-Forschern bislang entgangen ist. Vielleicht empfand der Liebhaber von versteckten Zitaten ein stilles Vergnügen bei dem Gedanken, dass die vorgeschriebene Richtung einer Einbahnstraße es neugierigen Lesern schwer machen würde, an den Anfang zurückzukehren.
Eckhardt Köhn lehrt Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.