Es ist eine fantastische und doch ganz und gar wahre Geschichte: Am Vorabend der angolanischen Revolution mauert sich Ludovica, nachdem sie einen Einbrecher in Notwehr erschossen und auf der Dachterrasse begraben hat, für dreißig Jahre in ihrer Wohnung in einem Hochhaus in Luanda ein. Sie lebt von Gemüse, gefangenen Tauben und von einer Hühnerzucht, die sie auf der Dachterrasse wie durch Zauber beginnt, und bekritzelt die Wände in ihrer ausgedehnten Wohnung mit Tagebuchnotaten und Gedichten. Allmählich setzt sich aus Stimmen, Radioschnipseln und flüchtigen Eindrücken zusammen, was im Land geschieht. In den Jahrzehnten, die Ludovica verborgen verbringt, kreuzen sich die Wege von Opfern und Tätern, den Beteiligten an der Revolution, ihren Profiteuren und Feinden. Bis sie alle eines Tages erneut vor der Mauer in dem wieder glanzvollen Apartmenthaus stehen. José Eduardo Agualusa hat mit seinem wunderbaren, dicht und spannend gewobenen Roman, der das Fantastische der Wirklichkeit und eine Art höhere Gerechtigkeit beschwört, unvergessliche Szenen geschaffen, tragisch, komisch, grotesk. Dieser Roman feiert die Kunst des Erzählens selbst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2017Hungern im Haus der Beneideten
José Eduardo Agualusas Roman "Eine allgemeine Theorie des Vergessens"
Luanda, die Hauptstadt der einst portugiesischen Kolonie Angola, führt die jüngste Rangliste der teuersten Städte für ins Ausland entsandte Angestellte an. Die Acht-Millionen-Metropole am Atlantik gilt dank des angolanischen Öl- und Diamantenreichtums als Eldorado des globalen Kapitalismus. Ein Mix aus Hunderten, oft von Chinesen hochgezogenen Wolkenkratzern, Wellblechhütten und einigen Kolonialbauten bestimmt das Stadtbild, dazu Verkehrschaos, Lärm rund um die Uhr, Gestank und ständige Stromausfälle.
"Es ist eine sehr, sehr, sehr aggressive Stadt", sagt José Eduardo Agualusa, einer der bekanntesten lusophonen Schriftsteller, Nachkomme der kolonialen angolanischen Oberschicht aus Portugal, heute zumeist in Lissabon lebend. Aber er fügt hinzu: "Luanda hat eine ganz besondere Energie, eine Kraft, eine Stärke. Hierher kommen Abenteurer aus der ganzen Welt, aber auch Leute vom Land mit ihrer eigenen Mythologie. Es reicht, um auf die Straße zu gehen und mit den Leuten zu sprechen, um unglaubliche Geschichten zu finden."
Eine dieser unglaublichen Geschichten erzählt Agualusa auf beeindruckende Weise in seinem nun auf Deutsch vorliegenden Roman "Eine allgemeine Theorie des Vergessens". Die schüchterne Portugiesin Ludovica (oder Ludo) lebt mit ihrer Schwester und deren Mann im obersten Stockwerk eines eleganten Hochhauses, dem "Haus der Beneideten" in Luanda, als Angola 1975 unabhängig wird. Die drei stehen kurz vor der Ausreise, doch Schwester und Schwager verschwinden plötzlich spurlos. Ludo erschießt in Notwehr einen Einbrecher, den sie anschließend auf der Dachterrasse verscharrt, und mauert die Eingangstür zum Apartment zu. Fortan lebt sie für dreißig Jahre abgeschnitten von der Außenwelt in der Wohnung: Nur der Hund Fantasma leistet ihr bis zu seinem Tod Gesellschaft. Sie versorgt sich zunächst aus den umfangreichen in der Wohnung gelagerten Vorräten, später baut sie auf der Terrasse Gemüse an, stiehlt mit Hilfe eines Seils Hühner von den Nachbarn und fängt Tauben. Gleichwohl ist der Hunger Ludos ständiger Begleiter.
"Die Tage verrinnen wie Flüssigkeit. Ich habe kein Heft mehr, um hineinzuschreiben. Ich habe auch keine Stifte mehr. Ich schreibe mit Kohle die Wände voll. Kurze Verse. Ich spare an Essen, an Wasser, an Feuer und Adjektiven." Das schreibt Ludo tatsächlich an die Wand: Tagebucheinträge und Gedichte. Später notiert sie: "Alle Wände in der Wohnung sind mein Mund." Unten auf den Straßen spielen sich derweil die Dramen des unabhängigen Angolas ab: Bürgerkrieg, Gewalt, Verrat, Korruption, Mangel, Zerfall der öffentlichen Ordnung, geschmeidige ideologische Seitenwechsel, massive soziale Gegensätze, aber auch Menschlichkeit, Solidarität und Liebe.
Diese Dramen erfahren die Leser durch zahlreiche in den Roman eingebaute Nebenstränge und -figuren. Letztere sind allesamt durch Gewalterfahrungen geprägt: die von Opfern, vor allem aber die von Tätern, die Gewalt in der Annahme ausüben, für das Richtige einzustehen. So der Soldat und Geheimdienstoffizier Montes, der portugiesische Söldner exekutieren lässt und abtrünnige "Linksabweichler" ins Gefängnis sperrt. Und am Ende vom Dach fällt, als er versucht, eine Satellitenschüssel zu befestigen. "Der frühere Agent der Staatssicherheit, letzter Repräsentant einer Vergangenheit, an die sich in Angola nur wenige gerne erinnern, war von der Zukunft erschlagen worden; die freie Kommunikation hatte gesiegt, über den Obskurantismus, das Schweigen und die Zensur." Auf Montes' Todesliste steht lange der Journalist Daniel Benchimol, der unter dem Regime verschwundene Personen sucht. Und da ist der Straßenjunge Sabalu, der schließlich in Ludos Wohnung eindringt. Alle Handlungsfäden und Geschichten dieser und anderer Figuren werden in einem fulminanten Finale zusammengefügt.
Agualusa ist ein versierter, stellenweise brillanter, oft lakonischer Erzähler. Und wie nebenbei, auf gleichsam unaufdringliche Weise enthält der Roman nicht nur einen Abriss der nachkolonialen Geschichte Angolas, sondern thematisiert überdies die Tatsache, dass der Bürgerkrieg, der das Land über nahezu drei Jahrzehnte zerrüttete, bis heute nicht aufgearbeitet ist.
Am Ende des Romans sagt Ludo: "Man kann Fehler nicht wiedergutmachen. Vielleicht muss man sie einfach vergessen. Wir sollten das Vergessen üben." Man könnte dies als ein - nicht unproblematisches - Plädoyer für eine Politik des Vergebens und Vergessens lesen. Ist das Vergessen im Titel des Romans etwas, das überwunden oder akzeptiert werden soll? Einfache Antworten liefert das Buch jedenfalls nicht.
ANDREAS ECKERT.
José Eduardo Agualusa: "Eine allgemeine Theorie des Vergessens". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Verlag C. H. Beck, München 2017. 197 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
José Eduardo Agualusas Roman "Eine allgemeine Theorie des Vergessens"
Luanda, die Hauptstadt der einst portugiesischen Kolonie Angola, führt die jüngste Rangliste der teuersten Städte für ins Ausland entsandte Angestellte an. Die Acht-Millionen-Metropole am Atlantik gilt dank des angolanischen Öl- und Diamantenreichtums als Eldorado des globalen Kapitalismus. Ein Mix aus Hunderten, oft von Chinesen hochgezogenen Wolkenkratzern, Wellblechhütten und einigen Kolonialbauten bestimmt das Stadtbild, dazu Verkehrschaos, Lärm rund um die Uhr, Gestank und ständige Stromausfälle.
"Es ist eine sehr, sehr, sehr aggressive Stadt", sagt José Eduardo Agualusa, einer der bekanntesten lusophonen Schriftsteller, Nachkomme der kolonialen angolanischen Oberschicht aus Portugal, heute zumeist in Lissabon lebend. Aber er fügt hinzu: "Luanda hat eine ganz besondere Energie, eine Kraft, eine Stärke. Hierher kommen Abenteurer aus der ganzen Welt, aber auch Leute vom Land mit ihrer eigenen Mythologie. Es reicht, um auf die Straße zu gehen und mit den Leuten zu sprechen, um unglaubliche Geschichten zu finden."
Eine dieser unglaublichen Geschichten erzählt Agualusa auf beeindruckende Weise in seinem nun auf Deutsch vorliegenden Roman "Eine allgemeine Theorie des Vergessens". Die schüchterne Portugiesin Ludovica (oder Ludo) lebt mit ihrer Schwester und deren Mann im obersten Stockwerk eines eleganten Hochhauses, dem "Haus der Beneideten" in Luanda, als Angola 1975 unabhängig wird. Die drei stehen kurz vor der Ausreise, doch Schwester und Schwager verschwinden plötzlich spurlos. Ludo erschießt in Notwehr einen Einbrecher, den sie anschließend auf der Dachterrasse verscharrt, und mauert die Eingangstür zum Apartment zu. Fortan lebt sie für dreißig Jahre abgeschnitten von der Außenwelt in der Wohnung: Nur der Hund Fantasma leistet ihr bis zu seinem Tod Gesellschaft. Sie versorgt sich zunächst aus den umfangreichen in der Wohnung gelagerten Vorräten, später baut sie auf der Terrasse Gemüse an, stiehlt mit Hilfe eines Seils Hühner von den Nachbarn und fängt Tauben. Gleichwohl ist der Hunger Ludos ständiger Begleiter.
"Die Tage verrinnen wie Flüssigkeit. Ich habe kein Heft mehr, um hineinzuschreiben. Ich habe auch keine Stifte mehr. Ich schreibe mit Kohle die Wände voll. Kurze Verse. Ich spare an Essen, an Wasser, an Feuer und Adjektiven." Das schreibt Ludo tatsächlich an die Wand: Tagebucheinträge und Gedichte. Später notiert sie: "Alle Wände in der Wohnung sind mein Mund." Unten auf den Straßen spielen sich derweil die Dramen des unabhängigen Angolas ab: Bürgerkrieg, Gewalt, Verrat, Korruption, Mangel, Zerfall der öffentlichen Ordnung, geschmeidige ideologische Seitenwechsel, massive soziale Gegensätze, aber auch Menschlichkeit, Solidarität und Liebe.
Diese Dramen erfahren die Leser durch zahlreiche in den Roman eingebaute Nebenstränge und -figuren. Letztere sind allesamt durch Gewalterfahrungen geprägt: die von Opfern, vor allem aber die von Tätern, die Gewalt in der Annahme ausüben, für das Richtige einzustehen. So der Soldat und Geheimdienstoffizier Montes, der portugiesische Söldner exekutieren lässt und abtrünnige "Linksabweichler" ins Gefängnis sperrt. Und am Ende vom Dach fällt, als er versucht, eine Satellitenschüssel zu befestigen. "Der frühere Agent der Staatssicherheit, letzter Repräsentant einer Vergangenheit, an die sich in Angola nur wenige gerne erinnern, war von der Zukunft erschlagen worden; die freie Kommunikation hatte gesiegt, über den Obskurantismus, das Schweigen und die Zensur." Auf Montes' Todesliste steht lange der Journalist Daniel Benchimol, der unter dem Regime verschwundene Personen sucht. Und da ist der Straßenjunge Sabalu, der schließlich in Ludos Wohnung eindringt. Alle Handlungsfäden und Geschichten dieser und anderer Figuren werden in einem fulminanten Finale zusammengefügt.
Agualusa ist ein versierter, stellenweise brillanter, oft lakonischer Erzähler. Und wie nebenbei, auf gleichsam unaufdringliche Weise enthält der Roman nicht nur einen Abriss der nachkolonialen Geschichte Angolas, sondern thematisiert überdies die Tatsache, dass der Bürgerkrieg, der das Land über nahezu drei Jahrzehnte zerrüttete, bis heute nicht aufgearbeitet ist.
Am Ende des Romans sagt Ludo: "Man kann Fehler nicht wiedergutmachen. Vielleicht muss man sie einfach vergessen. Wir sollten das Vergessen üben." Man könnte dies als ein - nicht unproblematisches - Plädoyer für eine Politik des Vergebens und Vergessens lesen. Ist das Vergessen im Titel des Romans etwas, das überwunden oder akzeptiert werden soll? Einfache Antworten liefert das Buch jedenfalls nicht.
ANDREAS ECKERT.
José Eduardo Agualusa: "Eine allgemeine Theorie des Vergessens". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Verlag C. H. Beck, München 2017. 197 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein unglaublich gutes Buch."
Helmut Zechner von der Buchhandlung Heyn in Klagenfurt
"Ein Roman wie ein Film."
Manfred Loimeier, Neues Deutschland, 25. November 2017
"Dank seiner schwerelosen, auf Aussparungen gründenden Prosa gelingt es Agualusa auch, Angola auf die literarische Landkarte zu heben."
Patrick Straumann, Neue Zürcher Zeitung, 25. November 2017
"Ein versierter, stellenweise brillanter, oft lakonischer Erzähler."
Andreas Eckert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. September 2017
"Verhandelt äußerst humor- und liebevoll [Angolas] intime und kollektive Tragödien."
Elise Graton, taz, 02. September 2017
"Ein Meisterwerk."
Antje Liebsch, Brigitte, September 2017 "Ein Kammerspiel mit überwätigender Panoramaaussicht (...) ein Lektüreereignis."
Katrin Hillgruber, Tagesspiegel, 6. August 2017
"Melancholische Chronik eines Landes, konzentriert erzählt, genussvoll zu lesen und hervorragend ins Deutsche übersetzt."
Holger Ehling, Buchkultur, August/September 2017
Helmut Zechner von der Buchhandlung Heyn in Klagenfurt
"Ein Roman wie ein Film."
Manfred Loimeier, Neues Deutschland, 25. November 2017
"Dank seiner schwerelosen, auf Aussparungen gründenden Prosa gelingt es Agualusa auch, Angola auf die literarische Landkarte zu heben."
Patrick Straumann, Neue Zürcher Zeitung, 25. November 2017
"Ein versierter, stellenweise brillanter, oft lakonischer Erzähler."
Andreas Eckert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. September 2017
"Verhandelt äußerst humor- und liebevoll [Angolas] intime und kollektive Tragödien."
Elise Graton, taz, 02. September 2017
"Ein Meisterwerk."
Antje Liebsch, Brigitte, September 2017 "Ein Kammerspiel mit überwätigender Panoramaaussicht (...) ein Lektüreereignis."
Katrin Hillgruber, Tagesspiegel, 6. August 2017
"Melancholische Chronik eines Landes, konzentriert erzählt, genussvoll zu lesen und hervorragend ins Deutsche übersetzt."
Holger Ehling, Buchkultur, August/September 2017