Berlin, Bundestag, Herbst 2011. Die SPD schlummert in der Opposition, als an einem Novembertag in Eisenach ein ausgebranntes Wohnmobil gefunden wird: Das Ende einer rechtsextremen Terrorzelle stellt die noch junge Berliner Republik vor nahezu unlösbare Fragen. Plötzlich zur moralischen Instanz erhoben, brilliert der Abgeordnete Andi Nair als Vorsitzender des eingesetzten Untersuchungsausschusses. Protokolliert wird das Geschehen von seinem Büroleiter Wegman Frost, der die Verkommenheit der Verhältnisse, das Versagen der Behörden kaum fassen kann und in einen Strudel von Selbstzweifeln gerissen wird. Als Pflegekind mit ungewisser Herkunft hatte ihn sein Einsatz gegen Fremdenhass in die Politik geführt. Damit ist er nicht allein: Sein Freund aus Jugendtagen, Flo Janssen - einst als namenloses Baby aus dem brennenden Saigon ausgeflogen -, steht jetzt am Rednerpult des Reichstags und verkündet neoliberale Ideen. Der ist nicht irgendjemand, er ist der Vizekanzler.
Der neueRoman Ulf Erdmann Zieglers nimmt in den Blick, wie dieses Land zu dem wurde, was es heute ist. Eine andere Epoche erzählt von rechtem Terror, einer Krise der Verfassung, der Wiedervereinigung und der Suche nach Identität. Leidenschaftliche Demokraten geraten an die Grenzen ihrer Erklärungsmuster. Sie ahnen das Ende einer Zeit, auf der ihre eigene Lebensgeschichte gegründet ist.
Der neueRoman Ulf Erdmann Zieglers nimmt in den Blick, wie dieses Land zu dem wurde, was es heute ist. Eine andere Epoche erzählt von rechtem Terror, einer Krise der Verfassung, der Wiedervereinigung und der Suche nach Identität. Leidenschaftliche Demokraten geraten an die Grenzen ihrer Erklärungsmuster. Sie ahnen das Ende einer Zeit, auf der ihre eigene Lebensgeschichte gegründet ist.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Christoph Bartmann liest eine Art "SPD-Schlüsselroman" mit dem neuen Buch von Ulf Erdmann Ziegler, das ihn zurückführt in die Jahre 2011 bis 2013. Der Rücktritt des damaligen Bundespräsidenten, das Scheitern von Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat oder die Aufdeckung der NSU-Morde spielen im Hintergrund eine Rolle, während Ziegler einer Gruppe SPD-Abgeordneter folgt: Im Mittelpunkt steht Wegman Frost, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Abgeordneten Andi Nair, der das politische Geschehen so genau beobachtet und kommentiert wie die eigenen Befindlichkeiten und die seiner Mitstreiter im Berliner Betrieb, resümiert Bartmann. Dass Ziegler nicht "moralisiert", rechnet ihm der Kritiker hoch an. Umso mehr erfreut er sich an mancher Einsicht von "Luhmannscher Dimension".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Erkennen Sie die Vorbilder?
Ein Buch für Kopf und Bauch: Ulf Erdmann Zieglers Politroman "Eine andere Epoche" beschwört die Berliner Republik um 2013 herauf.
Sieht es so aus, wenn eine Ära zu Ende geht? Während sich dieser Tage jede Menge neuer Abgeordneter um WLAN-Passwörter, Büronamensschilder und Bundestagsausweise kümmern müssen, führt uns Ulf Erdmann Ziegler, wir sind da schon fast auf der Zielgeraden seines aktuellen Romans, noch einmal das katastrophale Scheitern der Liberalen bei der Bundestagswahl 2013 vor Augen; die größte Fraktion ihrer Geschichte hatte sich damals praktisch atomisiert. "Jemand war damit beschäftigt, die Festplatten der Computer auszutauschen. Aufkleber und Wimpel aus dem Wahlkampf, alles blau und gelb, füllten einen ganzen Karton, auf dem mit einem fetten Edding 'weg!' geschrieben stand." Auf den ersten Blick ist "Eine andere Epoche" ein Schlüsselroman über die Nachtseiten des politischen Milieus der Berliner Republik - zeitlich reicht das vom Auffliegen des NSU-Terrortrios im November 2011 und dem sich anschließenden Untersuchungsausschuss über den Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff bis zum Ende der steilen politischen Karriere des Bundeswirtschaftsministers und Vizekanzlers Philipp Rösler und der Affäre um den NSU-Untersuchungsausschuss-Vorsitzenden Sebastian Edathy, der Anfang Februar 2014 zurücktrat, nachdem ihm der Besitz kinderpornographischen Materials vorgeworfen worden war.
Erzählt wird von der komplexen Mechanik der Ausschüsse, Seilschaften und Freundschaften, diesen "Schmieden des politischen Willens", aus der Perspektive eines kleinen Rädchens im Betrieb, der einen sprechenden Namen trägt: Wegman Frost, Babyboomer mit SPD-Parteibuch, Liebe zu dezentem Luxus und einer ersten kahlen Stelle am Hinterkopf. Er ist Büroleiter des dem realen Edathy nachempfundenen Bundestagsabgeordneten Andreas Nair und ein Mann im Hintergrund, der gut darin ist, "Thesenpapiere in volkstümliche Rede" umzuschreiben. Dass Ziegler mehr vorhat, als die in langen Magazingeschichten und politischen Sachbüchern literarisch aufpolierten Haupt- und Staatsaktionen noch einmal als XXL-Puzzle nachzubauen, wird schnell deutlich; etwa wenn Frost auf der ersten Seite des Romans einer Bundestagsdebatte über den Hausfunk folgt - und glaubt, den Applaus auf den Regierungsbänken vom Klatschen der Opposition unterscheiden zu können: "Einfach durch den Klang. Aber das ist etwas jenseits der Politik, das behält Wegman Frost für sich."
Zieglers schon in seinen beiden ersten Romanen "Hamburger Hochbahn" und "Nichts Weißes" sichtbare Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Realitätssplittern ein Bild jener entschwundenen alten Bundesrepublik zusammenzusetzen, ohne die die neue nicht zu begreifen ist, hat er inzwischen beinahe zur Perfektion vervollkommnet. Auch "Eine andere Epoche" lässt sich als Entwicklungsroman lesen, dessen Kraftzentrum die biographischen Prägungen wie die politische Sozialisation Wegman Frosts sind. "In die Politik gerät man nicht, man will das", weiß Frost, dem die Ikonen der alten BRD stets näher waren als anderen seiner Generation und der den "Stern" bereits durchblätterte, bevor er flüssig lesen konnte. Doch erst als er im Herbst 2013 zusieht, wie die geschockten Liberalen fluchtartig ihre Büros verlassen, geht ihm auf, warum er im Büro eines Abgeordneten gelandet ist: "Es war so etwas wie der Wunsch, in der Sorge um das eigene Haus seine Form zu finden", eine "Genugtuung in der väterlichen Rolle, oder wenn nicht Genugtuung, dann Entschlossenheit. Nie, niemals würde man sich das Haus noch einmal anzünden lassen."
Kein Zufall, dass alles als Freundschaftsgeschichte vaterlos aufgewachsener Adoptivkinder in der norddeutschen Provinz beginnt: Wegman, der "halbe Indianer", Sohn einer Deutschen und eines Native American, nach brutalem Scheitern von deren Liebe mit sechs Jahren bei einem Onkel in Bückeburg abgegeben, ist fasziniert von seinem Schulkameraden Flo Janssen, Spitzname Kung Fu, der Philipp-Rösler-Figur des Romans: Der aus einem vietnamesischen Kinderhospital Gerettete hält als Quintaner flammende Reden für die Aufrüstung der Bundesrepublik. Was ihn nicht hindert, gemeinsam mit Wegman einen Vertrauenslehrer als NPD-Parteigänger zu entlarven. Auf einer Schülertagung der Evangelischen Akademie Loccum erweitert sich das Duo um den nur wenig älteren Juso Andi Nair zum exotischen Trio.
Loccum wird zum intellektuellen Erweckungserlebnis: "Beim Mittagessen standen Sonnenstrahlen diagonal im Raum; man sah tausende von Partikeln darin schweben wie Stellvertreter noch nicht ausgebrüteter Gedanken." Später wird man den achtzehnjährigen Wegman im SPD-Straßenwahlkampf wiedertreffen; die Jungen - Mädchen sind selten dabei - pilgern wandervogelgleich auf die Hohe Asch und nach Talle, wo ihr Idol, Gerhard "Acker" Schröder, auf dem Bolzplatz kickte. "Um Mitternacht besah sich Wegman in seinem abgeschlossenen Zimmer nackt im Spiegel, band seine Haare hinter dem Kopf wie ein Mädchen und fand sich sehr schön. Er beschloss, in die Politik zu gehen."
Ziegler hat die Latte hoch aufgelegt. In in den Erzählfluss eingestreuten "Versuchen" analysiert er medien- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge, stilistisch brillant schaltet er mal Bonner und Berliner Republik zusammen, mal das von Beate Zschäpe angezündete Haus in Zwickau und das Wulff'sche Anwesen in Großburgwedel: "Hier droht das schwarze ostdeutsche Loch; dort glotzt das westdeutsche Vorstadthaus wie verfolgte Unschuld. Tragödie oder Melodram, Komplettsanierung des moralischen Inventars oder ein täglicher Schluck magenbitterer Empörung: die Republik wird sich entscheiden müssen." Doch "Eine andere Epoche" ist ein Buch für Kopf und Bauch: Mit wenigen sicheren Strichen gelingen Ziegler immer wieder tiefenscharfe Milieustudien und Figuren, die einem mit ihren Abgründen und geheimen Sehnsüchten lange beschäftigen. Dazu gehören neben Andi Nair, der als Jugendlicher offensichtlich Opfer "heimlicher, männerbündischer Homosexualität" wurde, auch die Immobilien-Managerin Marion und deren Tochter Ellie. Eine unerwartete Liebe, die für den Solitär Frost "das Optimum an Trost" bedeutet. Auch Marion, das zweite von vier Kindern eines Pastors im Holsteinischen, hat sich aus provinzieller Enge herausgearbeitet; ihr Weg führt vom Sparkassen-Container in Hoyerswerda bis in die von Alphamännern dominierten Banker-Kreise New Yorks; der Vater ihrer Tochter stirbt 2001 kurz nach Ellies Geburt in einem der Zwillingstürme des World Trade Center. In den Gesprächen mit der Elfjährigen, die einem als etwas zu drollig übersteuerte Echos der Unterhaltungen zwischen Dietrich Erichson ("D. E.") und Marie Cresspahl in Johnsons "Jahrestagen" vorkommen, kann sich Wegman allmählich von seinen eigenen Kindheits-Traumata befreien.
Gegen Ende dieses großen Romans, das dritte Kabinett der Kanzlerin Merkel ist längst vereidigt, bekommt der ewig zweifelnde Jedermann Wegman Frost ein Exemplar von Hannah Arendts "Über die Revolution" unter den Tannenbaum gelegt. Wird ihn Arendts "warmherzige Erbarmungslosigkeit" befähigen, seinen Blick für die Zeichen der Zeit zu schärfen? Wird er in der Lage sein, die eigene Vorgeschichte nicht als "Kette von Verhängnissen", sondern seinen ureigenen "lautlosen Antrieb" zu begreifen? Wir wissen es nicht. Doch wir können, frei nach Brecht, einiges lernen von denen, die, wie Wegman, "für die Kommas zuständig sind und für die Fußnoten". NILS KAHLEFENDT
Ulf Erdmann Ziegler: "Eine andere Epoche". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch für Kopf und Bauch: Ulf Erdmann Zieglers Politroman "Eine andere Epoche" beschwört die Berliner Republik um 2013 herauf.
Sieht es so aus, wenn eine Ära zu Ende geht? Während sich dieser Tage jede Menge neuer Abgeordneter um WLAN-Passwörter, Büronamensschilder und Bundestagsausweise kümmern müssen, führt uns Ulf Erdmann Ziegler, wir sind da schon fast auf der Zielgeraden seines aktuellen Romans, noch einmal das katastrophale Scheitern der Liberalen bei der Bundestagswahl 2013 vor Augen; die größte Fraktion ihrer Geschichte hatte sich damals praktisch atomisiert. "Jemand war damit beschäftigt, die Festplatten der Computer auszutauschen. Aufkleber und Wimpel aus dem Wahlkampf, alles blau und gelb, füllten einen ganzen Karton, auf dem mit einem fetten Edding 'weg!' geschrieben stand." Auf den ersten Blick ist "Eine andere Epoche" ein Schlüsselroman über die Nachtseiten des politischen Milieus der Berliner Republik - zeitlich reicht das vom Auffliegen des NSU-Terrortrios im November 2011 und dem sich anschließenden Untersuchungsausschuss über den Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff bis zum Ende der steilen politischen Karriere des Bundeswirtschaftsministers und Vizekanzlers Philipp Rösler und der Affäre um den NSU-Untersuchungsausschuss-Vorsitzenden Sebastian Edathy, der Anfang Februar 2014 zurücktrat, nachdem ihm der Besitz kinderpornographischen Materials vorgeworfen worden war.
Erzählt wird von der komplexen Mechanik der Ausschüsse, Seilschaften und Freundschaften, diesen "Schmieden des politischen Willens", aus der Perspektive eines kleinen Rädchens im Betrieb, der einen sprechenden Namen trägt: Wegman Frost, Babyboomer mit SPD-Parteibuch, Liebe zu dezentem Luxus und einer ersten kahlen Stelle am Hinterkopf. Er ist Büroleiter des dem realen Edathy nachempfundenen Bundestagsabgeordneten Andreas Nair und ein Mann im Hintergrund, der gut darin ist, "Thesenpapiere in volkstümliche Rede" umzuschreiben. Dass Ziegler mehr vorhat, als die in langen Magazingeschichten und politischen Sachbüchern literarisch aufpolierten Haupt- und Staatsaktionen noch einmal als XXL-Puzzle nachzubauen, wird schnell deutlich; etwa wenn Frost auf der ersten Seite des Romans einer Bundestagsdebatte über den Hausfunk folgt - und glaubt, den Applaus auf den Regierungsbänken vom Klatschen der Opposition unterscheiden zu können: "Einfach durch den Klang. Aber das ist etwas jenseits der Politik, das behält Wegman Frost für sich."
Zieglers schon in seinen beiden ersten Romanen "Hamburger Hochbahn" und "Nichts Weißes" sichtbare Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Realitätssplittern ein Bild jener entschwundenen alten Bundesrepublik zusammenzusetzen, ohne die die neue nicht zu begreifen ist, hat er inzwischen beinahe zur Perfektion vervollkommnet. Auch "Eine andere Epoche" lässt sich als Entwicklungsroman lesen, dessen Kraftzentrum die biographischen Prägungen wie die politische Sozialisation Wegman Frosts sind. "In die Politik gerät man nicht, man will das", weiß Frost, dem die Ikonen der alten BRD stets näher waren als anderen seiner Generation und der den "Stern" bereits durchblätterte, bevor er flüssig lesen konnte. Doch erst als er im Herbst 2013 zusieht, wie die geschockten Liberalen fluchtartig ihre Büros verlassen, geht ihm auf, warum er im Büro eines Abgeordneten gelandet ist: "Es war so etwas wie der Wunsch, in der Sorge um das eigene Haus seine Form zu finden", eine "Genugtuung in der väterlichen Rolle, oder wenn nicht Genugtuung, dann Entschlossenheit. Nie, niemals würde man sich das Haus noch einmal anzünden lassen."
Kein Zufall, dass alles als Freundschaftsgeschichte vaterlos aufgewachsener Adoptivkinder in der norddeutschen Provinz beginnt: Wegman, der "halbe Indianer", Sohn einer Deutschen und eines Native American, nach brutalem Scheitern von deren Liebe mit sechs Jahren bei einem Onkel in Bückeburg abgegeben, ist fasziniert von seinem Schulkameraden Flo Janssen, Spitzname Kung Fu, der Philipp-Rösler-Figur des Romans: Der aus einem vietnamesischen Kinderhospital Gerettete hält als Quintaner flammende Reden für die Aufrüstung der Bundesrepublik. Was ihn nicht hindert, gemeinsam mit Wegman einen Vertrauenslehrer als NPD-Parteigänger zu entlarven. Auf einer Schülertagung der Evangelischen Akademie Loccum erweitert sich das Duo um den nur wenig älteren Juso Andi Nair zum exotischen Trio.
Loccum wird zum intellektuellen Erweckungserlebnis: "Beim Mittagessen standen Sonnenstrahlen diagonal im Raum; man sah tausende von Partikeln darin schweben wie Stellvertreter noch nicht ausgebrüteter Gedanken." Später wird man den achtzehnjährigen Wegman im SPD-Straßenwahlkampf wiedertreffen; die Jungen - Mädchen sind selten dabei - pilgern wandervogelgleich auf die Hohe Asch und nach Talle, wo ihr Idol, Gerhard "Acker" Schröder, auf dem Bolzplatz kickte. "Um Mitternacht besah sich Wegman in seinem abgeschlossenen Zimmer nackt im Spiegel, band seine Haare hinter dem Kopf wie ein Mädchen und fand sich sehr schön. Er beschloss, in die Politik zu gehen."
Ziegler hat die Latte hoch aufgelegt. In in den Erzählfluss eingestreuten "Versuchen" analysiert er medien- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge, stilistisch brillant schaltet er mal Bonner und Berliner Republik zusammen, mal das von Beate Zschäpe angezündete Haus in Zwickau und das Wulff'sche Anwesen in Großburgwedel: "Hier droht das schwarze ostdeutsche Loch; dort glotzt das westdeutsche Vorstadthaus wie verfolgte Unschuld. Tragödie oder Melodram, Komplettsanierung des moralischen Inventars oder ein täglicher Schluck magenbitterer Empörung: die Republik wird sich entscheiden müssen." Doch "Eine andere Epoche" ist ein Buch für Kopf und Bauch: Mit wenigen sicheren Strichen gelingen Ziegler immer wieder tiefenscharfe Milieustudien und Figuren, die einem mit ihren Abgründen und geheimen Sehnsüchten lange beschäftigen. Dazu gehören neben Andi Nair, der als Jugendlicher offensichtlich Opfer "heimlicher, männerbündischer Homosexualität" wurde, auch die Immobilien-Managerin Marion und deren Tochter Ellie. Eine unerwartete Liebe, die für den Solitär Frost "das Optimum an Trost" bedeutet. Auch Marion, das zweite von vier Kindern eines Pastors im Holsteinischen, hat sich aus provinzieller Enge herausgearbeitet; ihr Weg führt vom Sparkassen-Container in Hoyerswerda bis in die von Alphamännern dominierten Banker-Kreise New Yorks; der Vater ihrer Tochter stirbt 2001 kurz nach Ellies Geburt in einem der Zwillingstürme des World Trade Center. In den Gesprächen mit der Elfjährigen, die einem als etwas zu drollig übersteuerte Echos der Unterhaltungen zwischen Dietrich Erichson ("D. E.") und Marie Cresspahl in Johnsons "Jahrestagen" vorkommen, kann sich Wegman allmählich von seinen eigenen Kindheits-Traumata befreien.
Gegen Ende dieses großen Romans, das dritte Kabinett der Kanzlerin Merkel ist längst vereidigt, bekommt der ewig zweifelnde Jedermann Wegman Frost ein Exemplar von Hannah Arendts "Über die Revolution" unter den Tannenbaum gelegt. Wird ihn Arendts "warmherzige Erbarmungslosigkeit" befähigen, seinen Blick für die Zeichen der Zeit zu schärfen? Wird er in der Lage sein, die eigene Vorgeschichte nicht als "Kette von Verhängnissen", sondern seinen ureigenen "lautlosen Antrieb" zu begreifen? Wir wissen es nicht. Doch wir können, frei nach Brecht, einiges lernen von denen, die, wie Wegman, "für die Kommas zuständig sind und für die Fußnoten". NILS KAHLEFENDT
Ulf Erdmann Ziegler: "Eine andere Epoche". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.12.2021Regieren und reflektieren
Von der alten SPD ist wenigstens ein guter Schlüsselroman übrig geblieben: Ulf Erdmann Zieglers „Eine andere Epoche“
„Eine andere Epoche“, der Titel von Ulf Erdmann Zieglers Roman, kann einen ins Grübeln bringen über Fragen der politischen Periodisierung. Gemeint sind die noch nahen und doch auch schon wieder erstaunlich fernen Jahre zwischen 2011 und 2013. Ist das noch unsere erweiterte Gegenwart, auch dann, wenn die Themen und Aufregungen jener Jahre etwas verblasst sind? Oder ist das tatsächlich schon ein anderes Zeitalter, in dem die Sorgen unserer Tage noch nicht erwacht waren oder wir uns das zumindest einbildeten?
Zieglers Roman blättert die politische Chronik dieser Jahre noch einmal auf, und natürlich erinnern wir uns: in Eisenach werden zwei Männer tot in einem ausgebrannten Wohnmobil entdeckt. Im NSU-Untersuchungsausschuss profiliert sich ein SPD-Abgeordneter, der bald darauf verdächtigt wird, kinderpornografisches Material erworben zu haben. Ein anderer SPD-Kollege kommt wegen Besitzes von Crystal Meth in die Schlagzeilen. Der Bundespräsident gerät wegen Verdachts der Vorteilsnahme unter Druck und tritt zurück. In Berlin regiert eine schwarz-gelbe Koalition vor sich hin. Was macht die SPD? Davon erzählt dieser Roman. „Alle Kandidaten vor und nach Schröder sind verbrannt worden“, konstatiert einmal eine parteinahe Politikberaterin. Dass die SPD überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben. Aber 2013 soll alles besser werden.
In Zieglers Roman geht es um eine Handvoll Menschen im Berliner Betrieb jener Jahre. Ihre Namen sind so auffällig wie ihre Biographien. Andreas „Andi“ Nair, aufstrebender SPD-MdB mit sicherem Wahlkreis nahe Hannover, hat Wurzeln in Südasien. Florian „Flo“ Kessler, den liberalen Vizekanzler, hat man als Kind aus Saigon gerettet. Und Wegman Frost, die Zentralfigur, Nairs wissenschaftlicher Mitarbeiter, verdankt seinen Namen einem „native american“ aus einem Reservat im Nordwesten der USA. Kennengelernt haben sich die Drei daheim in Schaumburg-Lippe, unweit vom Geburtsort Gerhard Schröders.
Von den hier erzählten politischen Werdegängen interessiert Ziegler der unspektakulärste am meisten – der des wissenschaftlichen Mitarbeiters. Ein Grund mag darin liegen, dass man ohne Mandat und ohne Öffentlichkeit die Dinge besser beobachten kann. Von diesen Beobachtungen des Wegman Frost an sich selbst und seiner Umgebung lebt der Roman. Wer nicht regiert, hat mehr Zeit zum Reflektieren. In Wegman Frost erschafft sich Zieglers reflexives, essayistisches Erzählen eine Figur, die vieles sieht, ohne dabei gesehen zu werden. Anders als die agierenden Politikerinnen und Politiker verfügt diese Figur sogar über ein Privatleben, ja über ein ausgeprägtes Eigenleben, dem wiederum im Roman viel Raum gegeben wird.
Was ist das nun also: ein SPD-, gar ein SPD-Schlüsselroman, mit vielerlei klugen Einsichten in den Betrieb, bestens geeignet als Handreichung der Bundeszentrale für Politische Bildung? Das vielleicht auch, aber zugleich und noch mehr geht es hier um das komplexe Innen- und Familienleben eines berufstätigen 40-jährigen Mannes von „vager Herkunft“, wie er es selbst bezeichnet. Wie Ziegler im Buch diese beiden Sphären füreinander durchlässig hält, ist sehr geschickt gemacht.
Diesseits oder jenseits der zeithistorisch nachprüfbaren Sachverhalte widmet sich der Roman den „inner workings“ seiner Figuren. Ziegler lässt Raum für auch wieder produktive Träume und Absenzen. Zwar sind diese Betriebsmenschen mit allen politischen, rhetorischen und intellektuellen Wassern gewaschen, aber dann versetzt sie eine akute innere Befindlichkeit in einen auch wieder anregenden Dämmerzustand. Das Einzige, das Zieglers Figuren, angefangen mit Wegmans frühreifer Ziehtochter (in spe) Ellie, definitiv nicht können, ist: nicht klug sein.
Das führt dann ganz gelegentlich zu Übertreibungen, etwa wenn Wegmans Freundin und Lebensgefährtin (in spe) Marion, eine ebenfalls superkluge Immobilienmaklerin, auf die zugegeben etwas feuilletonistische Frage, in welcher Zeit man denn gerade lebe, einer leisen oder einer lauten, wie folgt antwortet: „Wir leben in einer Zeit der Finanzen, aber nicht des Geldes; einer der Kommunikation, aber nicht des Wissens.“ Zu derlei Einsichten von Luhmannschen Dimensionen sind Zieglers Figuren rund um die Uhr fähig. Solche Augenblicksballungen von Intelligenz und Eloquenz mögen auch im Berlin der Jahre nach 2011 eher unwahrscheinlich gewesen sein, aber Ziegler zieht die politische Blase Berlins hoch auf ein anderes, auf sein Niveau. Weder wird bei ihm dumpf moralisiert noch gar satirisch auf den Betrieb hinabgeschaut. Im Gegenteil, der Roman demonstriert, wie viel Intelligenz, manchmal ganz vergeblich, ins Regieren und vorher auch schon in die Hoffnung aufs Regieren investiert wird.
Die andere Epoche, wenn man sie denn so nennen will, hat kein Ende, es sei denn die Bundestagswahlen 2013, bei der die SPD mit Peer Steinbrück den nächsten Kandidaten erfolglos in die Wahlen schickt. Auch für den Abgeordneten Nair ist aus den bekannten Gründen Schluss, und Frost, der wissenschaftliche Mitarbeiter, müsste um seine Weiterbeschäftigung fürchten, wenn er nicht ohnehin schon ganz andere Pläne hätte. Was heißt Pläne? Die Ereignisse überstürzen sich, in der Politik und im Familienleben, aber fast sieht es aus, als könnte Zieglers Protagonist doch noch seinen (ihm selbst nicht ganz nachvollziehbaren) Traum erfüllen und fortan „ein leichtes Leben“ führen.
CHRISTOPH BARTMANN
Weder wird dumpf moralisiert
noch gar satirisch auf
den Betrieb hinabgeschaut
Ulf Erdmann Ziegler:
Eine andere Epoche.
Roman.
Suhrkamp-Verlag,
Berlin 2021.
254 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Von der alten SPD ist wenigstens ein guter Schlüsselroman übrig geblieben: Ulf Erdmann Zieglers „Eine andere Epoche“
„Eine andere Epoche“, der Titel von Ulf Erdmann Zieglers Roman, kann einen ins Grübeln bringen über Fragen der politischen Periodisierung. Gemeint sind die noch nahen und doch auch schon wieder erstaunlich fernen Jahre zwischen 2011 und 2013. Ist das noch unsere erweiterte Gegenwart, auch dann, wenn die Themen und Aufregungen jener Jahre etwas verblasst sind? Oder ist das tatsächlich schon ein anderes Zeitalter, in dem die Sorgen unserer Tage noch nicht erwacht waren oder wir uns das zumindest einbildeten?
Zieglers Roman blättert die politische Chronik dieser Jahre noch einmal auf, und natürlich erinnern wir uns: in Eisenach werden zwei Männer tot in einem ausgebrannten Wohnmobil entdeckt. Im NSU-Untersuchungsausschuss profiliert sich ein SPD-Abgeordneter, der bald darauf verdächtigt wird, kinderpornografisches Material erworben zu haben. Ein anderer SPD-Kollege kommt wegen Besitzes von Crystal Meth in die Schlagzeilen. Der Bundespräsident gerät wegen Verdachts der Vorteilsnahme unter Druck und tritt zurück. In Berlin regiert eine schwarz-gelbe Koalition vor sich hin. Was macht die SPD? Davon erzählt dieser Roman. „Alle Kandidaten vor und nach Schröder sind verbrannt worden“, konstatiert einmal eine parteinahe Politikberaterin. Dass die SPD überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben. Aber 2013 soll alles besser werden.
In Zieglers Roman geht es um eine Handvoll Menschen im Berliner Betrieb jener Jahre. Ihre Namen sind so auffällig wie ihre Biographien. Andreas „Andi“ Nair, aufstrebender SPD-MdB mit sicherem Wahlkreis nahe Hannover, hat Wurzeln in Südasien. Florian „Flo“ Kessler, den liberalen Vizekanzler, hat man als Kind aus Saigon gerettet. Und Wegman Frost, die Zentralfigur, Nairs wissenschaftlicher Mitarbeiter, verdankt seinen Namen einem „native american“ aus einem Reservat im Nordwesten der USA. Kennengelernt haben sich die Drei daheim in Schaumburg-Lippe, unweit vom Geburtsort Gerhard Schröders.
Von den hier erzählten politischen Werdegängen interessiert Ziegler der unspektakulärste am meisten – der des wissenschaftlichen Mitarbeiters. Ein Grund mag darin liegen, dass man ohne Mandat und ohne Öffentlichkeit die Dinge besser beobachten kann. Von diesen Beobachtungen des Wegman Frost an sich selbst und seiner Umgebung lebt der Roman. Wer nicht regiert, hat mehr Zeit zum Reflektieren. In Wegman Frost erschafft sich Zieglers reflexives, essayistisches Erzählen eine Figur, die vieles sieht, ohne dabei gesehen zu werden. Anders als die agierenden Politikerinnen und Politiker verfügt diese Figur sogar über ein Privatleben, ja über ein ausgeprägtes Eigenleben, dem wiederum im Roman viel Raum gegeben wird.
Was ist das nun also: ein SPD-, gar ein SPD-Schlüsselroman, mit vielerlei klugen Einsichten in den Betrieb, bestens geeignet als Handreichung der Bundeszentrale für Politische Bildung? Das vielleicht auch, aber zugleich und noch mehr geht es hier um das komplexe Innen- und Familienleben eines berufstätigen 40-jährigen Mannes von „vager Herkunft“, wie er es selbst bezeichnet. Wie Ziegler im Buch diese beiden Sphären füreinander durchlässig hält, ist sehr geschickt gemacht.
Diesseits oder jenseits der zeithistorisch nachprüfbaren Sachverhalte widmet sich der Roman den „inner workings“ seiner Figuren. Ziegler lässt Raum für auch wieder produktive Träume und Absenzen. Zwar sind diese Betriebsmenschen mit allen politischen, rhetorischen und intellektuellen Wassern gewaschen, aber dann versetzt sie eine akute innere Befindlichkeit in einen auch wieder anregenden Dämmerzustand. Das Einzige, das Zieglers Figuren, angefangen mit Wegmans frühreifer Ziehtochter (in spe) Ellie, definitiv nicht können, ist: nicht klug sein.
Das führt dann ganz gelegentlich zu Übertreibungen, etwa wenn Wegmans Freundin und Lebensgefährtin (in spe) Marion, eine ebenfalls superkluge Immobilienmaklerin, auf die zugegeben etwas feuilletonistische Frage, in welcher Zeit man denn gerade lebe, einer leisen oder einer lauten, wie folgt antwortet: „Wir leben in einer Zeit der Finanzen, aber nicht des Geldes; einer der Kommunikation, aber nicht des Wissens.“ Zu derlei Einsichten von Luhmannschen Dimensionen sind Zieglers Figuren rund um die Uhr fähig. Solche Augenblicksballungen von Intelligenz und Eloquenz mögen auch im Berlin der Jahre nach 2011 eher unwahrscheinlich gewesen sein, aber Ziegler zieht die politische Blase Berlins hoch auf ein anderes, auf sein Niveau. Weder wird bei ihm dumpf moralisiert noch gar satirisch auf den Betrieb hinabgeschaut. Im Gegenteil, der Roman demonstriert, wie viel Intelligenz, manchmal ganz vergeblich, ins Regieren und vorher auch schon in die Hoffnung aufs Regieren investiert wird.
Die andere Epoche, wenn man sie denn so nennen will, hat kein Ende, es sei denn die Bundestagswahlen 2013, bei der die SPD mit Peer Steinbrück den nächsten Kandidaten erfolglos in die Wahlen schickt. Auch für den Abgeordneten Nair ist aus den bekannten Gründen Schluss, und Frost, der wissenschaftliche Mitarbeiter, müsste um seine Weiterbeschäftigung fürchten, wenn er nicht ohnehin schon ganz andere Pläne hätte. Was heißt Pläne? Die Ereignisse überstürzen sich, in der Politik und im Familienleben, aber fast sieht es aus, als könnte Zieglers Protagonist doch noch seinen (ihm selbst nicht ganz nachvollziehbaren) Traum erfüllen und fortan „ein leichtes Leben“ führen.
CHRISTOPH BARTMANN
Weder wird dumpf moralisiert
noch gar satirisch auf
den Betrieb hinabgeschaut
Ulf Erdmann Ziegler:
Eine andere Epoche.
Roman.
Suhrkamp-Verlag,
Berlin 2021.
254 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»In seinem herausragenden Roman Eine andere Epoche erzählt Ulf Erdmann Ziegler von einem Wendepunkt in der jüngsten deutschen Geschichte. ... Mit feinsten Sensoren liest Ziegler die Codes des politischen Redens aus, und die Tragik eines öffentlichen Lebens wird in großer Lakonie dargestellt.« Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20211201