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Es ist eine dieser Nächte, die man durcherzählen muss. Das zumindest findet Bill, der auf dem Flug von Bangkok nach Zürich neben Emma sitzt. Bill geht ihr gehörig auf die Nerven. Mit Donnerstimme erzählt er aus seinem Leben - und um sein Leben, und nicht nur Emma, sondern auch andere Passagiere sind gezwungen zuzuhören. Trotz ihres Widerstands werden sie aber alle, Emma, Michael, Stefan, Walter und ein Junge, ja, auch die japanische Familie in der hinteren Sitzreihe, vom Sog der Geschichten erfasst, wobei eigene Geschichten und Phantasien wachgerufen werden. Alle diese Geschichten fügen sich…mehr

Produktbeschreibung
Es ist eine dieser Nächte, die man durcherzählen muss. Das zumindest findet Bill, der auf dem Flug von Bangkok nach Zürich neben Emma sitzt. Bill geht ihr gehörig auf die Nerven. Mit Donnerstimme erzählt er aus seinem Leben - und um sein Leben, und nicht nur Emma, sondern auch andere Passagiere sind gezwungen zuzuhören. Trotz ihres Widerstands werden sie aber alle, Emma, Michael, Stefan, Walter und ein Junge, ja, auch die japanische Familie in der hinteren Sitzreihe, vom Sog der Geschichten erfasst, wobei eigene Geschichten und Phantasien wachgerufen werden. Alle diese Geschichten fügen sich zu einem Reigen, bei dem sich ungeahnte Bezüge und Entsprechungen und ein geheimnisvoller Mittelpunkt her ausschälen. Denn Bill beschwört sprachgewaltig Orte, Leute und seltsame Wesen herauf. Die zwölf Stunden dieser Flugnacht entwickeln einen gefährlichen Reiz - und bekommen nicht allen gleich gut.
Autorenporträt
Christina Viragh, geboren 1953 in Budapest, kam mit sieben Jahren nach Luzern. Studium der Philosophie und Literatur. Seit den 1980er Jahren ist sie als Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. Zahlreiche Publikationen, zuletzt erschienen die Romane Pilatus und Im April. Christina Viragh übersetzte u. a. Marcel Proust, Imre Kertész, Sándor Márai und Péter Nádas. Für ihre Übersetzung von Nádas' Parallelgeschichten erhielt sie 2012 den Preis der Buchmesse Leipzig. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Rom.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2018

Im Sog des Nachtflugs
Christina Viragh führt in ihrem neuen Roman vor, wie
das Erzählen seine Zuhörer wach hält und Gemeinschaft schafft
VON MARTIN EBEL
Auf langen Nachtflügen geht leicht die Orientierung verloren. Draußen absolute Dunkelheit, keine Landmarken am Boden zu sehen, die Vorwärtsbewegung des Flugzeugs spürt man auch nicht. Mancher fühlt sich in einem fliegenden Sarg, Platzangst, Todesangst kann aufkommen. Was hilft? Ablenkung. Freundliche Stewardessen bringen Getränke, das Bordkino ein individuelles Filmangebot. In Christina Viraghs neuem Roman greift eine Gruppe Passagiere des Fluges TG970 von Bangkok nach Zürich auf ein viel älteres Mittel zurück: das Erzählen. Es strukturiert die Zeit, es zieht neue Koordinaten in die Ortlosigkeit ein. Und es macht aus Einzelnen eine kleine Gemeinschaft.
Eine unfreiwillige anfangs. Denn Bill, der das Erzählen beginnt, ist ein Amerikaner wie aus dem Klischee-Katalog, laut, aufdringlich, taktlos und hartnäckig. Ein Unsympath, vielleicht gar ein Sextourist? Das Whiskyglas in seiner Hand ist jedenfalls immer voll, „Martha“ nennt er liebevoll seinen ständigen Begleiter, nach dem Hund seines Großvaters, aber das ist schon eine eigene Geschichte.
Kurz nach dem Start legt er los, und wer in seiner Nähe sitzt, kann nicht anders: Er muss zuhören. Emma, die Schriftstellerin ungarischer Herkunft, in der Schweiz aufgewachsen und in Rom lebend – all das trifft auch auf die Autorin zu –; Walter, ein umständlich-gehemmter Ethnologe, der über Begräbnisriten forscht; das schwule Pärchen Michael und Stefan und schließlich der 15-jährige Hagen, der ununterbrochen in sein iPad tippt.
Sie alle sind nach anfänglichem Unmut nicht unglücklich, dass Bill ihnen ihre Lage, das „reglose Hängen im stockdunklen Dunkel“, für eine Weile aus dem Bewusstsein schiebt und es mit Geschichten füllt, zwei pro Stunde, das ist sein Programm, was er schon deshalb nicht einhält, weil er ein unsystematischer Erzähler ist – und weil seine Zuhörer bald die Initiative an sich reißen. Sie warten ihrerseits mit Erlebtem und Erfundenem auf, und sie greifen die losen Erzählfäden Bills auf.
Diese Fäden laufen immer wieder auf einen verwunschenen Ort zu, einen Teich irgendwo in der nordamerikanischen Prärie, umgeben von tückischem Treibsand, der mit Wirbeln und Strudeln schon etliche Menschen in seine Tiefen gerissen hat. Hier kam im Jahr 1971 auch J. P. zu Tode, ein Wanderprediger, er ertrank nicht, sondern wurde erschossen, aber von wem? Dazu hat jeder der Zuhörer eine eigene Version, eine versponnener als die andere. Hier wird nicht ermittelt, sondern wild fabuliert und spintisiert, ohne Rücksicht auf Logik und Plausibilität. Bis Emma, die zur Tatzeit noch ein Kind war, eine Version hinlegt, bei der J. P. ihr selbst die Tatwaffe in die Hand drückt.
Auch andere Geschichten verzweigen und zerfasern sich durch Wiederaufnahme, Interpretation und Kommentar. Stammt der Brief, den Bills Vater, Soldat in Vietnam, ihm kurz vor seinem Tod schrieb, eigentlich von seinem Bruder Joey? Ist der Vater gar nicht 1965 gestorben, sondern amüsiert sich noch heute, mit anderen Frauen? Was hat es mit Nguyen Tranh auf sich, einem in der Bucht von Tonkin verehrten Ahnen, der vor 3000 Jahren mit einem Affen am Strand auftauchte, und was mit dem Kaufmann im Brokatwams, der eine reich beladene Karawane anführt und den Bill tief unter dem Flugzeug lokalisiert, auf dem Weg zum Kaiser von China, aber im Moment mit dem Problem konfrontiert, eine Lücke zwischen dem „Land Hicsunt“ und dem Land der Kopffüßler zu finden. Das ist natürlich Marco Polo, und „hic sunt leones“ schrieben die frühen Kartenzeichner an den Rand der bekannten Topografie, wo sie nur Öde und Ungeheuer vermuteten.
Erzählen gliedert die Zeit, strukturiert den Raum, aber es vermag auch das Gegenteil zu tun: Zeit-Räume bis ins Unendliche aufreißen, bis es die Zuhörer schwindelt. So teilt Bill, über einen Mittelsmann, eine Vision des Wanderpredigers J. P. mit, die über Jahrtausende in die Vergangenheit des amerikanischen Kontinents führt, zu Mammuts und Säbelzahntigern und noch größeren, vorsintflutlichen Tieren.
Von „Tausendundeine Nacht“ über das Decamerone bis zu Marcel Reich-Ranickis Lebensbericht wird das Erzählen in der Literatur zum Instrument, den Tod aufzuschieben oder zu verdrängen. Natürlich tritt in den Geschichten selbst das Verdrängte umso stärker zutage. Auch bei Bill und seinen Mitreisenden auf dem Lebensschiffchen, zeitgemäß eine Boeing 777, wird viel gemordet, das Töten geplant oder zumindest gewünscht. Emma selbst hat ihren Großvater durch Gewalt verloren, der im Zweiten Weltkrieg eine Deserteursfamilie versteckte und, als die Deutschen kamen, vom Kind der Familie denunziert wurde. Es sind finstere, irritierende, auch komische Geschichten. Moralische Geschichten sind es nicht, jedenfalls nicht im Sinne des Moralisten und schon gar nicht in dem des Moralpredigers.
Viel eher formt sich daraus eine Enzyklopädie der Erzähl- und Schreibformen. Christina Viragh ist nicht nur eine großartige Autorin, sondern auch eine eminente Übersetzerin (unter anderem von Imre Kertész und Péter Nádas), sie ist es gewöhnt, sich fremde Zungenschläge zu eigen zu machen. Hier entwickelt sie mit großem Vergnügen vielerlei eigene. Es gibt die manchmal plumpe, manchmal raffinierte Fesselungsprosa Bills, die diskrete Tonlage Emmas – die aber auch ins gebrochene Deutsch des Großvaters fallen kann –, den verschämten Mitteilungsdrang Walters, den just jene Frau verlassen hat, die Michaels Therapeutin ist. Und schließlich, typografisch abgesetzt, das Tablet-Geplapper des bloggenden Teenagers.
So kommen zu den Varianten des Plots die Variationen des Mitteilens, greifen die Geschichten ineinander und überkreuzen sich die Formen, etwa wenn Michael in Hagens iPad tippt. Ein kunstvolles Geflecht. Gemeinsam ist allen Erzählern, dass sie sich Zeit lassen, sich nicht kurz fassen und eins das andere nach sich zieht: Es ist die Form der Suada, die diesen Roman prägt – wenn man so will, die literarische Entsprechung des verlockenden Sogs, der von dem tückischen, von Treibsand umgebenen Teich ausgeht.
Und der auch die Leser erfasst, die bald zu Mitreisenden werden und notfalls bereit wären, die Stewardess um eine weitere „Martha“ für Bill bitten, damit der bloß weitererzählt. Und damit das Ende, das Ende des Fluges, des Romans, des Lebens, noch etwas hinausschiebt.
Eine Karawane, unterwegs
zwischen dem „Land Hicsunt“
und dem Land der Kopffüßler
Es ist die Form der Suada, die
diesen Roman prägt – wie ein
Teich im Treibsand
Christina Viragh: Eine
dieser Nächte. Roman. Dörlemann Verlag, Zürich 2018. 496 Seiten, 28 Euro. E-Book 20,99 Euro.
Auf dem Nachtflug: Reglos hängend im stockdunklen Dunkel.
Foto: Alexander Heimann/ddp-images
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»Ein fulminantes Epos zwischen Komik und Tragik, voller Erzählungen, die einen allmählich mitreißen wie Treibsand (wovon eine Story handelt).« Julian Schütt / 52 Beste Bücher, Radio SRF2

»Christina Viragh führt in ihrem neuen Roman Eine dieser Nächte vor, wie Erzählen die Zuhörer aktiviert und Gemeinschaft schafft ... Ein kunstvolles Geflecht.« Martin Ebel / Süddeutsche Zeitung

»Im Frühling sind mit Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt von Peter Stamm und Eine dieser Nächte von Christina Viragh zwei starke Kandidaten erschienen, an denen eigentlich keine kundige Jury vorbeigehen kann.« Martin Ebel / Tages-Anzeiger

»Christina Viragh hat einen komplexen, beeindruckenden Roman geschrieben, der von der Schwierigkeit, Zusammenhänge herzustellen, handelt und gleichzeitig alles andere als zusammenhanglos ist.« Rainer Moritz / Neue Zürcher Zeitung

»Buch: super, Geschichte: super, Ende: super ... Absolut empfehlenswert. Christina Viragh hat einen Platz zwischen den Großen verdient.« Onlineradio Feuilletöne

»Wie diese Anekdoten aber mit jedem einzelnen zuhörenden Mitreisenden zu tun haben, ist ungeheuer elegant und spannend verwoben.« Film, Sound &Media

»... ein Erzählabenteuer, das jede Leserin in seinen Bann schlägt. Ähnlich wie die PassagierInnen geraten auch die Lehnstuhlreisenden in einen Strudel der Geschichten, der fast die Grenzen sprengt, wo die eigenen enden und die anderen beginnen.« Bärbel Gerdes / Aviva-Berlin.de

»Großartig ... Dieser Roman ist Eine dieser Nächte, in denen die Literatur stärker ist als der Wunsch zu schlafen.« Kurier

»So zu schreiben, dass es nach gesprochener Sprache klingt, ist eine Kunst, die die Autorin exzellent beherrscht.« Sigrid Grün / Kultur in Ostbayern

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