Eigentlich hatte Ingrid andere Pläne. Ein selbstbestimmtes Leben, Reisen, eine Karriere als Schriftstellerin. Doch als sie sich in ihren Literaturprofessor Gil Coleman verliebt und von ihm schwanger wird, wirft sie für ihn all dies über Bord. Gil liebt seine junge Frau, und dennoch betrügt er sie, lässt sie viel zu oft mit den Kindern in dem kleinen Ort an der englischen Küste allein. Und dann verschwindet Ingrid plötzlich auf rätselhafte Art und Weise.
»Lehrstück über menschliche Abgründe.« Dresdner Neueste Nachrichten 20180709
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017Ist es Tod, Rache oder Rücksichtslosigkeit?
Claire Fullers Roman "Eine englische Ehe" hat das Zeug dazu, die britische Autorin auch in Deutschland bekannt zu machen.
Von Rose-Maria Gropp
Es ist die packende Geschichte einer Suche. Nach der Mutter und nach der Frau, nach der Wahrheit und nach den Rätseln der Existenz, die sich dem Zugriff entziehen. Alles beginnt Mitte der siebziger Jahre, an einer Universität in London. Gil Coleman, ein Professor von Ende dreißig, hält Schreibkurse, eine junge Studentin Ingrid, keine zwanzig, kann sich seinem virilen Charme nicht entziehen, obwohl sie ein Leben in Eigenständigkeit geplant hatte. Ingrid wird schwanger, sie und Gil heiraten. Sie haben zwei Töchter, Nan und Flora, mit denen sie an die Küste gezogen sind, in einen umgebauten swimming pavilion, einst Umkleideort für das Bad im Meer.
Es beginnt die Autopsie einer gebrochenen Familie. Denn der Roman setzt knapp drei Jahrzehnte später ein - und zwölf Jahre nachdem Ingrid plötzlich spurlos verschwunden ist, die halbwüchsigen Mädchen lässt sie zurück. Flora, die jüngere exzentrische Tochter, hat nie an den Tod ihrer Mutter geglaubt, gleichzeitig hegt sie eine ungesättigte Liebe zu ihrem Vater, der meist fern war, involviert in seine sexuellen Abenteuer. Relativ spät wird er berühmt für einen erotischen Skandalroman. Nun aber ist er moribund, Schatten seines einstigen Selbsts. Gil meint, seine verschwundene Frau auf der Straße gesehen zu haben, und stürzt schwer bei dem vergeblichen Versuch, sie zu erreichen. Seine Töchter bleiben an seinem Krankenbett im Pavillon. Flora will die Spur ihrer vermissten Mutter wieder aufnehmen; "Ich habe meine Mutter verloren" wird zu ihrem Satz, in seiner ganzen Doppelbödigkeit.
Claire Fuller, Jahrgang 1967, kennt hierzulande noch kaum jemand. In ihrer Heimat ist das anders, dort hat sie 2015 den wichtigen Desmond Elliott Prize für den besten Debütroman in englischer Sprache gewonnen. "Our Endless Numbered Days" wird grade ins Deutsche übersetzt. Schon vorher aber gibt es hier ihren zweiten Roman, "Swimming Lessons", der auch in England eben erst erschienen ist. Der deutsche Titel lautet "Eine englische Ehe", und wer die kaleidoskopische Chronik liest, versteht warum. Als Fuller Bekanntheit erlangte, war sie bereits 48 Jahre alt, spätberufen für einen ersten Roman, ließe sich sagen. Die Zeit bis dahin hat ihre Beobachtung geschult, ihren untrüglichen, dabei ganz unzynischen Blick auf die Dinge des Lebens.
Wie über das ganze Buch hin Zeit und Raum, so wechseln die Erzählperspektiven, ein übers andere Kapitel. Die Schilderungen der Gegenwart im Pavillon machen sich die Sicht von Flora zueigen. Ziemlich genial ist der Einfall, Ingrids Geschichte bis zu ihrem Verschwinden als eine Art Selbstrechenschaft zu erzählen. Denn Ingrid, schlaflos in ihrer Vereinsamung, schreibt Briefe an Gil, den abwesenden Mann, der über ihr Leben entschieden hat. Diese Briefe, in denen sie ihre Beziehung zu ihm rekonstruiert, schickt sie ihm aber gar nicht, sondern sie versteckt ihre Botschaften in den Büchern, die Gil wie besessen sammelt. Die Bücher machen den Pavillon, dessen Räume sie in hohen Stapeln heillos verstopfen, zu einer Hölle aus ungelesenem Papier, in der die Geister der Vergangenheit untot hausen.
Es muss in der Schwebe bleiben, ob Ingrid wirklich will, dass der untreue Mann ihre Briefe findet. Jedenfalls will sie, dass er danach sucht. "Lieber Gil", so beginnt die erste Botschaft, es ist Anfang Juni 1992, "natürlich kann ich die Geschichte unserer Ehe nicht in einem einzigen Brief aufschreiben. Es war von Anfang an klar, dass es länger dauern würde." Knapp einen Monat später schreibt sie den letzten Brief - und ist weg. Es herrscht die Meinung vor, dass Ingrid ertrunken sei im Meer; Flora glaubt das eben nicht. Was aber dann? Der Roman entfaltet sich um diese eine Frage. Ist es dann die schier unglaubliche Rache einer Frau, die sich um ihr Leben betrogen sah? Eine brachial egozentrische Rücksichtslosigkeit den kleinen Töchtern gegenüber? Pure Verzweiflung? Wer, wenn überhaupt, könnte das je wissen?
Claire Fuller verschränkt mit bewundernswerter Ökonomie die beiden Stränge ihrer Doppelerzählung. Die katastrophische Verstrickung zwischen dem Vater und den Töchtern, zwischen den Schwestern enthüllt sich immer weiter. Dabei ist der Tonfall beherrscht, kühl, beinah lapidar, was die Intensität der hochkochenden Gefühle sogar eher verstärkt. Hinzu kommt Fullers Begabung für synästhetische Schilderungen: Die Menschen riechen wie Farben, die Farben speichern Sentimente. Die englische Küstenlandschaft wird, ein romantisches Erbe, zum Spiegel unterschiedlicher seelischer Verfassungen. Die Übersetzung von Susanne Höbel folgt diesen Textbewegungen bis in ihre feinen Verästelungen. So bildet sich ein Rhythmus beim Lesen heraus, der gewissermaßen Geschwindigkeit aufnimmt und diesen Roman zunehmend zum Pageturner macht.
Ein "Prolog" und ein "Epilog" sind die Klammern des Geschehens. Claire Fuller schließt die offenen Wunden nicht, es mag die Zeit sie heilen, vielleicht. Wer ganz am Ende, nach dem Epilog, zum Prolog zurückblättert, wird staunend feststellen, wie bis ins winzige, scheinbar unerhebliche Detail die Ereignisse miteinander verwoben sind. Der Zauber des Rätselhaften dauert an. "Eine englische Ehe" wird den Namen der Autorin auch nach Deutschland tragen.
Claire Fuller: "Eine englische Ehe". Roman.
Aus dem Englischen von Susanne Höbel.
Piper Verlag, München 2017. 356 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claire Fullers Roman "Eine englische Ehe" hat das Zeug dazu, die britische Autorin auch in Deutschland bekannt zu machen.
Von Rose-Maria Gropp
Es ist die packende Geschichte einer Suche. Nach der Mutter und nach der Frau, nach der Wahrheit und nach den Rätseln der Existenz, die sich dem Zugriff entziehen. Alles beginnt Mitte der siebziger Jahre, an einer Universität in London. Gil Coleman, ein Professor von Ende dreißig, hält Schreibkurse, eine junge Studentin Ingrid, keine zwanzig, kann sich seinem virilen Charme nicht entziehen, obwohl sie ein Leben in Eigenständigkeit geplant hatte. Ingrid wird schwanger, sie und Gil heiraten. Sie haben zwei Töchter, Nan und Flora, mit denen sie an die Küste gezogen sind, in einen umgebauten swimming pavilion, einst Umkleideort für das Bad im Meer.
Es beginnt die Autopsie einer gebrochenen Familie. Denn der Roman setzt knapp drei Jahrzehnte später ein - und zwölf Jahre nachdem Ingrid plötzlich spurlos verschwunden ist, die halbwüchsigen Mädchen lässt sie zurück. Flora, die jüngere exzentrische Tochter, hat nie an den Tod ihrer Mutter geglaubt, gleichzeitig hegt sie eine ungesättigte Liebe zu ihrem Vater, der meist fern war, involviert in seine sexuellen Abenteuer. Relativ spät wird er berühmt für einen erotischen Skandalroman. Nun aber ist er moribund, Schatten seines einstigen Selbsts. Gil meint, seine verschwundene Frau auf der Straße gesehen zu haben, und stürzt schwer bei dem vergeblichen Versuch, sie zu erreichen. Seine Töchter bleiben an seinem Krankenbett im Pavillon. Flora will die Spur ihrer vermissten Mutter wieder aufnehmen; "Ich habe meine Mutter verloren" wird zu ihrem Satz, in seiner ganzen Doppelbödigkeit.
Claire Fuller, Jahrgang 1967, kennt hierzulande noch kaum jemand. In ihrer Heimat ist das anders, dort hat sie 2015 den wichtigen Desmond Elliott Prize für den besten Debütroman in englischer Sprache gewonnen. "Our Endless Numbered Days" wird grade ins Deutsche übersetzt. Schon vorher aber gibt es hier ihren zweiten Roman, "Swimming Lessons", der auch in England eben erst erschienen ist. Der deutsche Titel lautet "Eine englische Ehe", und wer die kaleidoskopische Chronik liest, versteht warum. Als Fuller Bekanntheit erlangte, war sie bereits 48 Jahre alt, spätberufen für einen ersten Roman, ließe sich sagen. Die Zeit bis dahin hat ihre Beobachtung geschult, ihren untrüglichen, dabei ganz unzynischen Blick auf die Dinge des Lebens.
Wie über das ganze Buch hin Zeit und Raum, so wechseln die Erzählperspektiven, ein übers andere Kapitel. Die Schilderungen der Gegenwart im Pavillon machen sich die Sicht von Flora zueigen. Ziemlich genial ist der Einfall, Ingrids Geschichte bis zu ihrem Verschwinden als eine Art Selbstrechenschaft zu erzählen. Denn Ingrid, schlaflos in ihrer Vereinsamung, schreibt Briefe an Gil, den abwesenden Mann, der über ihr Leben entschieden hat. Diese Briefe, in denen sie ihre Beziehung zu ihm rekonstruiert, schickt sie ihm aber gar nicht, sondern sie versteckt ihre Botschaften in den Büchern, die Gil wie besessen sammelt. Die Bücher machen den Pavillon, dessen Räume sie in hohen Stapeln heillos verstopfen, zu einer Hölle aus ungelesenem Papier, in der die Geister der Vergangenheit untot hausen.
Es muss in der Schwebe bleiben, ob Ingrid wirklich will, dass der untreue Mann ihre Briefe findet. Jedenfalls will sie, dass er danach sucht. "Lieber Gil", so beginnt die erste Botschaft, es ist Anfang Juni 1992, "natürlich kann ich die Geschichte unserer Ehe nicht in einem einzigen Brief aufschreiben. Es war von Anfang an klar, dass es länger dauern würde." Knapp einen Monat später schreibt sie den letzten Brief - und ist weg. Es herrscht die Meinung vor, dass Ingrid ertrunken sei im Meer; Flora glaubt das eben nicht. Was aber dann? Der Roman entfaltet sich um diese eine Frage. Ist es dann die schier unglaubliche Rache einer Frau, die sich um ihr Leben betrogen sah? Eine brachial egozentrische Rücksichtslosigkeit den kleinen Töchtern gegenüber? Pure Verzweiflung? Wer, wenn überhaupt, könnte das je wissen?
Claire Fuller verschränkt mit bewundernswerter Ökonomie die beiden Stränge ihrer Doppelerzählung. Die katastrophische Verstrickung zwischen dem Vater und den Töchtern, zwischen den Schwestern enthüllt sich immer weiter. Dabei ist der Tonfall beherrscht, kühl, beinah lapidar, was die Intensität der hochkochenden Gefühle sogar eher verstärkt. Hinzu kommt Fullers Begabung für synästhetische Schilderungen: Die Menschen riechen wie Farben, die Farben speichern Sentimente. Die englische Küstenlandschaft wird, ein romantisches Erbe, zum Spiegel unterschiedlicher seelischer Verfassungen. Die Übersetzung von Susanne Höbel folgt diesen Textbewegungen bis in ihre feinen Verästelungen. So bildet sich ein Rhythmus beim Lesen heraus, der gewissermaßen Geschwindigkeit aufnimmt und diesen Roman zunehmend zum Pageturner macht.
Ein "Prolog" und ein "Epilog" sind die Klammern des Geschehens. Claire Fuller schließt die offenen Wunden nicht, es mag die Zeit sie heilen, vielleicht. Wer ganz am Ende, nach dem Epilog, zum Prolog zurückblättert, wird staunend feststellen, wie bis ins winzige, scheinbar unerhebliche Detail die Ereignisse miteinander verwoben sind. Der Zauber des Rätselhaften dauert an. "Eine englische Ehe" wird den Namen der Autorin auch nach Deutschland tragen.
Claire Fuller: "Eine englische Ehe". Roman.
Aus dem Englischen von Susanne Höbel.
Piper Verlag, München 2017. 356 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main