Wie kommt es, dass der Mensch, dieses schwache Wesen, sich zum Herrscher über die Erde aufgeschwungen hat? Andere Tiere sind kräftiger, können besser schwimmen und fliegen, vermehren sich weniger umständlich, brauchen nicht so lange, bis sie erwachsen sind. Der Mensch aber, so der Autor, hat das Zeug zum Experten! Doch was ist seine Spezialität, worin ist er der Beste? Da muss man schon sehr genau hinsehen. Egal, ob wir es mit einem leidenschaftlichen Busfahrer zu tun haben, einem Kometenjäger, einem Spezialisten für Mausefallen oder Plastiktüten, einem Hochstapler oder Zahlentheoretiker - dem Dämon der Arbeitsteilung verdanken wir unseren vorläufigen Sieg auf diesem Planeten, unsere Verrücktheiten und unsere Niederlagen.
In neunundachtzig gewöhnlichen und spektakulären Varianten entfaltet Enzensberger ein geistreiches Panorama menschlicher Überlebensstrategien. Seine Beispiele reichen von der Antike bis in die Gegenwart, von der Erfindung der Spirale und des Alphabetsbis zur Kunst, Kanaldeckel zu verschönern.
In neunundachtzig gewöhnlichen und spektakulären Varianten entfaltet Enzensberger ein geistreiches Panorama menschlicher Überlebensstrategien. Seine Beispiele reichen von der Antike bis in die Gegenwart, von der Erfindung der Spirale und des Alphabetsbis zur Kunst, Kanaldeckel zu verschönern.
»Brillant führt er darin Genie und Wahnsinn berühmter oder vergessener Spezialisten vor, ob für Schrauben, physikalische Welträtsel, das bedingungslose Grundeinkommen oder britische Wasservögel.« Peter von Becker Der Tagesspiegel 20191110
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2019Nur der Laie sagt dazu Rolltreppe
Ein Spätwerk voller Buntheit und Spleens: Hans Magnus Enzensberger inszeniert eine "Experten-Revue in 89 Nummern".
All die Verallgemeinerungen, all das Herumgemeine und Globalerklären - was für ein vergebliches, den Bedingungen der Zivilisation unangemessenes Treiben! Um dies zu erkennen, muss man nicht einmal den hyperkomplexen Bereich der Politik berühren. Wer sich irgendwie gehaltvoll äußern möchte über, sagen wir, Hemdkragen, sollte zunächst einmal die basalen Unterschiede studieren zwischen "Hai" und "Windsor", "Kent" und "Kent, lang". Dasselbe gilt für die Feuerwehrleiter, die es als solche natürlich gar nicht gibt: Wer nicht zumindest Stufen-, Anlege-, Klapp-, Podest- und Teleskopleitern auseinanderhalten kann, wird sich vor echten Kennern zwangsläufig blamieren.
Nicht allein den Experten für Herrenoberbekleidung und Feuerwehrausrüstung widmet Hans Magnus Enzensberger sein neues Buch. Es enthält insgesamt 89 kurze Porträts von Spezialisten aus unterschiedlichsten Disziplinen, Epochen und gesellschaftlichen Teilbereichen - vom Tresorerfinder zum Mathematiker, vom Bierdeckelsammler zum Namenskundler, vom Tonmeister zum Eulenkenner. Doch interessieren Enzensberger seine Experten nicht in erster Linie in ihrer Kuriosität, die sich aus der Einseitigkeit ihres Interesses für den Außenstehenden ergeben mag: "Wann genau der erste Bieruntersetzer hergestellt wurde, wird sich wohl niemals ganz klären lassen" - mit diesem liebenswert-lustigen Satz zitiert Enzensberger eine gewisse Martina Berg, die sage und schreibe fünf Bücher verfasst hat über die "Archäologie ihres Lieblingsobjektes".
Vielmehr repräsentieren die Experten für ihn das Erfolgsrezept der menschlichen Zivilisation schlechthin. Als geborene Mängelwesen seien die Menschen zwar nicht in der Lage, alles zu können, wohl aber, in bestimmten Bereichen erstaunliche Fähigkeiten zu erlangen und somit kooperativ die nichtmenschliche Welt zu beherrschen. Im Spezialisten verkörpert sich, mit einem anderen Wort, das Prinzip der Arbeitsteilung. Entwickelt wird diese Theorie in einem den Porträts vorangestellten Dialog zwischen einem "Unzufriedenen" und der personifizierten "Natur". Drei "Experten für das Expertentum" werden dabei als Impulsgeber genannt, deren Namen zwar ungenannt bleiben, aber aus dem Zusammenhang erschlossen werden können; es handelt sich um Bernard Mandeville, Adam Smith und Karl Marx.
Bei all dem geht es Enzensberger nicht allein um eine Beschreibung, sondern immer wieder auch um eine Würdigung des Spezialisten, so etwa im Falle des Hamburger Concierge Lutz Jöhnke, der es in seinem Beruf zu einem Experten in der Erfüllung von Gästewünschen gebracht habe. Wer sprach je öffentlich von diesem Mann und seiner Kunst? Während Enzensberger in solchen Passagen das Kleine groß machen will, zielt er in anderen Kapiteln darauf, an die Kennerschaft vergangener Zeiten zu erinnern. In einem Stück geht es beispielsweise um "das Handwerk des klassischen Henkers", dessen Ausbildung, man ahnt es nicht, durch eine "Meisterprobe" abgeschlossen wurde: "Dabei mußte dem Verurteilten unter der Aufsicht eines Meisters der Kopf abgeschlagen werden. Dann bekam der Henker seinen Meisterbrief und konnte auf eine feste Anstellung hoffen." Wer wüsste heute noch etwas von der Formalität und Professionalität in diesem Bereich des Inhumanen?
Aber auch die Spleenigkeiten und Absurditäten von Expertendiskursen kommen bei Enzensberger zur Geltung. So referiert er in einer "Nummer" seiner "Revue" die unterschiedlichen und durchaus widersprüchlichen Positionen, die katholische Gelehrte im Streit um den Limbus, die Vorhölle, eingenommen haben - und zeigt somit auf performativem Wege, worum es in dieser Debatte von Beginn an eigentlich ging, nämlich um eine bloße "Hypothese" (so die Formulierung des von Enzensberger herbeizitierten Kardinal Ratzinger). Wieder andere Kapitel sind in ihrer Kritik sehr viel unverhohlener, etwa wenn es um die heutigen Flughäfen als Sphären der Kontrolle und des Konsums geht, deren Einrichtung durch eine ganze "Phalanx an Experten" bewerkstelligt worden sei. Seine mit Detailinformationen gespickten Ausführungen beschließt Enzensberger mit einer dialektischen Volte: "Der Gang zu Fuß muss im Vergleich dazu als Triumph der Zivilisation gelten."
Dennoch: Skepsis und Kritik sind für dieses Buch viel weniger charakteristisch als Freundlichkeit und Sympathie, was auch damit zusammenhängen mag, dass viele der Experten gänzlich uneitle Menschen sind - es geht ihnen ja schließlich um die Sache. "Daß der Diplom-Ingenieur Rudolf Riedel der Herr über die 770 Rolltreppen der Münchener U-Bahn ist, kann man nicht sagen", so beginnt das Porträt eines Mannes, der "sein ganzes 48jähriges Berufsleben der Rolltreppe gewidmet hat". Unmittelbar darauf folgen die Gründe für seine Zurückhaltung: "Erstens legt er keinen Wert auf seinen akademischen Titel . . . Zweitens bevorzugt er die Bezeichnung Fahrtreppe. Nur der Laie hält daran fest, daß dieser Apparat Rolltreppe heißt. Und drittens bezeichnet sich Riedel als normalen Angestellten bei den Stadtwerken." Nein, der wahre Experte schätze die große Welle nicht.
Auch wenn Enzensberger angibt, nicht "dem Expertentum für die Experten" anheimfallen zu wollen, beruht sein Buch doch auf einer Haltung der interessierten Aufgeschlossenheit. Odo Marquard und Niklas Luhmann, die seit den späten achtziger Jahren wichtige theoretische Bezugsgrößen für ihn darstellen, stehen auch bei dieser Nummernshow im Hintergrund. Ganz gleich, ob die einzelnen Texte auf persönliche Begegnungen zurückgehen oder historischen Recherchen zu verdanken sind: Enzensberger will nicht nur die Motivation seiner Protagonisten verstehen, sondern auch Einblick in ihr jeweiliges Spezialgebiet gewinnen. Dabei ist er vollkommen frei von irgendwelchen zivilisations- oder modernekritischen Ressentiments, die ja ihrerseits auf mehr oder weniger waghalsigen Generalisierungen beruhen müssten. In seiner Akzeptanz geht er verblüffend weit, ja buchstäblich sogar bis in ein Industriegebiet im Norden Münchens, wo es eine Ausstellung für "mobile Leidenschaft", die sogenannte "Motorworld", zu besichtigen gibt. Ohne irgendwelche Vorbehalte schmeißt sich hier einer in unsere laute, stinkende, bunte Gegenwart - und das mit fast neunzig Jahren!
Stilistisch hat dieses Buch nichts von einem klassischen Spätwerk, im Gegenteil, auf lebendigste Weise verbinden sich in ihm Gelehrsamkeit und Essayistik, anekdotisches Erzählen und sanfte Komik, Reportage und Intervention. Hinzu kommt die kompilatorische Form, also die lockere Zusammenstellung einer Vielzahl an Textstücken, die Enzensberger schon seit einigen Jahren zu favorisieren scheint: Im vergangenen Jahr sind "eine Handvoll" autobiographischer "Anekdoten" erschienen, denen wiederum ein Jahr zuvor "99 literarische Vignetten" unter dem Titel "Überlebenskünstler" vorangingen. Formal gesehen, sind diese Bücher locker strukturierte Ensembles, die man auf mindestens zwei Arten lesen kann: konventionell von hinten nach vorne im Ganzen, aber auch herumblätternd und verweilend an einer bestimmten Stelle, die einen besonders anspricht. So überträgt sich die grundliberale Haltung, mit der Enzensberger der Welt gegenübertritt, auf den Leser und die Lektüre.
Wollte man in Enzensbergers Schaffen der letzten Jahre einen gewissen Zug von Spätwerkhaftigkeit ausmachen, so müsste man eher die ungebrochene Produktivität dieses Autors und die weiterhin sehr hohe Schlagzahl seiner Veröffentlichungen in den Blick nehmen. Möglicherweise trifft auf diese hochtourige Arbeits- und Publikationspraxis ein Satz jenes Dichters zu, der zweifellos zu den Virtuosen des Spätwerks gezählt werden muss: "Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß".
KAI SINA
Hans Magnus Enzensberger: "Eine Experten-Revue in 89 Nummern".
Mit einem Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen: Vom Dämon der Arbeitsteilung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 335 S., geb., Abb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Spätwerk voller Buntheit und Spleens: Hans Magnus Enzensberger inszeniert eine "Experten-Revue in 89 Nummern".
All die Verallgemeinerungen, all das Herumgemeine und Globalerklären - was für ein vergebliches, den Bedingungen der Zivilisation unangemessenes Treiben! Um dies zu erkennen, muss man nicht einmal den hyperkomplexen Bereich der Politik berühren. Wer sich irgendwie gehaltvoll äußern möchte über, sagen wir, Hemdkragen, sollte zunächst einmal die basalen Unterschiede studieren zwischen "Hai" und "Windsor", "Kent" und "Kent, lang". Dasselbe gilt für die Feuerwehrleiter, die es als solche natürlich gar nicht gibt: Wer nicht zumindest Stufen-, Anlege-, Klapp-, Podest- und Teleskopleitern auseinanderhalten kann, wird sich vor echten Kennern zwangsläufig blamieren.
Nicht allein den Experten für Herrenoberbekleidung und Feuerwehrausrüstung widmet Hans Magnus Enzensberger sein neues Buch. Es enthält insgesamt 89 kurze Porträts von Spezialisten aus unterschiedlichsten Disziplinen, Epochen und gesellschaftlichen Teilbereichen - vom Tresorerfinder zum Mathematiker, vom Bierdeckelsammler zum Namenskundler, vom Tonmeister zum Eulenkenner. Doch interessieren Enzensberger seine Experten nicht in erster Linie in ihrer Kuriosität, die sich aus der Einseitigkeit ihres Interesses für den Außenstehenden ergeben mag: "Wann genau der erste Bieruntersetzer hergestellt wurde, wird sich wohl niemals ganz klären lassen" - mit diesem liebenswert-lustigen Satz zitiert Enzensberger eine gewisse Martina Berg, die sage und schreibe fünf Bücher verfasst hat über die "Archäologie ihres Lieblingsobjektes".
Vielmehr repräsentieren die Experten für ihn das Erfolgsrezept der menschlichen Zivilisation schlechthin. Als geborene Mängelwesen seien die Menschen zwar nicht in der Lage, alles zu können, wohl aber, in bestimmten Bereichen erstaunliche Fähigkeiten zu erlangen und somit kooperativ die nichtmenschliche Welt zu beherrschen. Im Spezialisten verkörpert sich, mit einem anderen Wort, das Prinzip der Arbeitsteilung. Entwickelt wird diese Theorie in einem den Porträts vorangestellten Dialog zwischen einem "Unzufriedenen" und der personifizierten "Natur". Drei "Experten für das Expertentum" werden dabei als Impulsgeber genannt, deren Namen zwar ungenannt bleiben, aber aus dem Zusammenhang erschlossen werden können; es handelt sich um Bernard Mandeville, Adam Smith und Karl Marx.
Bei all dem geht es Enzensberger nicht allein um eine Beschreibung, sondern immer wieder auch um eine Würdigung des Spezialisten, so etwa im Falle des Hamburger Concierge Lutz Jöhnke, der es in seinem Beruf zu einem Experten in der Erfüllung von Gästewünschen gebracht habe. Wer sprach je öffentlich von diesem Mann und seiner Kunst? Während Enzensberger in solchen Passagen das Kleine groß machen will, zielt er in anderen Kapiteln darauf, an die Kennerschaft vergangener Zeiten zu erinnern. In einem Stück geht es beispielsweise um "das Handwerk des klassischen Henkers", dessen Ausbildung, man ahnt es nicht, durch eine "Meisterprobe" abgeschlossen wurde: "Dabei mußte dem Verurteilten unter der Aufsicht eines Meisters der Kopf abgeschlagen werden. Dann bekam der Henker seinen Meisterbrief und konnte auf eine feste Anstellung hoffen." Wer wüsste heute noch etwas von der Formalität und Professionalität in diesem Bereich des Inhumanen?
Aber auch die Spleenigkeiten und Absurditäten von Expertendiskursen kommen bei Enzensberger zur Geltung. So referiert er in einer "Nummer" seiner "Revue" die unterschiedlichen und durchaus widersprüchlichen Positionen, die katholische Gelehrte im Streit um den Limbus, die Vorhölle, eingenommen haben - und zeigt somit auf performativem Wege, worum es in dieser Debatte von Beginn an eigentlich ging, nämlich um eine bloße "Hypothese" (so die Formulierung des von Enzensberger herbeizitierten Kardinal Ratzinger). Wieder andere Kapitel sind in ihrer Kritik sehr viel unverhohlener, etwa wenn es um die heutigen Flughäfen als Sphären der Kontrolle und des Konsums geht, deren Einrichtung durch eine ganze "Phalanx an Experten" bewerkstelligt worden sei. Seine mit Detailinformationen gespickten Ausführungen beschließt Enzensberger mit einer dialektischen Volte: "Der Gang zu Fuß muss im Vergleich dazu als Triumph der Zivilisation gelten."
Dennoch: Skepsis und Kritik sind für dieses Buch viel weniger charakteristisch als Freundlichkeit und Sympathie, was auch damit zusammenhängen mag, dass viele der Experten gänzlich uneitle Menschen sind - es geht ihnen ja schließlich um die Sache. "Daß der Diplom-Ingenieur Rudolf Riedel der Herr über die 770 Rolltreppen der Münchener U-Bahn ist, kann man nicht sagen", so beginnt das Porträt eines Mannes, der "sein ganzes 48jähriges Berufsleben der Rolltreppe gewidmet hat". Unmittelbar darauf folgen die Gründe für seine Zurückhaltung: "Erstens legt er keinen Wert auf seinen akademischen Titel . . . Zweitens bevorzugt er die Bezeichnung Fahrtreppe. Nur der Laie hält daran fest, daß dieser Apparat Rolltreppe heißt. Und drittens bezeichnet sich Riedel als normalen Angestellten bei den Stadtwerken." Nein, der wahre Experte schätze die große Welle nicht.
Auch wenn Enzensberger angibt, nicht "dem Expertentum für die Experten" anheimfallen zu wollen, beruht sein Buch doch auf einer Haltung der interessierten Aufgeschlossenheit. Odo Marquard und Niklas Luhmann, die seit den späten achtziger Jahren wichtige theoretische Bezugsgrößen für ihn darstellen, stehen auch bei dieser Nummernshow im Hintergrund. Ganz gleich, ob die einzelnen Texte auf persönliche Begegnungen zurückgehen oder historischen Recherchen zu verdanken sind: Enzensberger will nicht nur die Motivation seiner Protagonisten verstehen, sondern auch Einblick in ihr jeweiliges Spezialgebiet gewinnen. Dabei ist er vollkommen frei von irgendwelchen zivilisations- oder modernekritischen Ressentiments, die ja ihrerseits auf mehr oder weniger waghalsigen Generalisierungen beruhen müssten. In seiner Akzeptanz geht er verblüffend weit, ja buchstäblich sogar bis in ein Industriegebiet im Norden Münchens, wo es eine Ausstellung für "mobile Leidenschaft", die sogenannte "Motorworld", zu besichtigen gibt. Ohne irgendwelche Vorbehalte schmeißt sich hier einer in unsere laute, stinkende, bunte Gegenwart - und das mit fast neunzig Jahren!
Stilistisch hat dieses Buch nichts von einem klassischen Spätwerk, im Gegenteil, auf lebendigste Weise verbinden sich in ihm Gelehrsamkeit und Essayistik, anekdotisches Erzählen und sanfte Komik, Reportage und Intervention. Hinzu kommt die kompilatorische Form, also die lockere Zusammenstellung einer Vielzahl an Textstücken, die Enzensberger schon seit einigen Jahren zu favorisieren scheint: Im vergangenen Jahr sind "eine Handvoll" autobiographischer "Anekdoten" erschienen, denen wiederum ein Jahr zuvor "99 literarische Vignetten" unter dem Titel "Überlebenskünstler" vorangingen. Formal gesehen, sind diese Bücher locker strukturierte Ensembles, die man auf mindestens zwei Arten lesen kann: konventionell von hinten nach vorne im Ganzen, aber auch herumblätternd und verweilend an einer bestimmten Stelle, die einen besonders anspricht. So überträgt sich die grundliberale Haltung, mit der Enzensberger der Welt gegenübertritt, auf den Leser und die Lektüre.
Wollte man in Enzensbergers Schaffen der letzten Jahre einen gewissen Zug von Spätwerkhaftigkeit ausmachen, so müsste man eher die ungebrochene Produktivität dieses Autors und die weiterhin sehr hohe Schlagzahl seiner Veröffentlichungen in den Blick nehmen. Möglicherweise trifft auf diese hochtourige Arbeits- und Publikationspraxis ein Satz jenes Dichters zu, der zweifellos zu den Virtuosen des Spätwerks gezählt werden muss: "Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß".
KAI SINA
Hans Magnus Enzensberger: "Eine Experten-Revue in 89 Nummern".
Mit einem Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen: Vom Dämon der Arbeitsteilung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 335 S., geb., Abb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2019Nicht suchen,
aber finden
„Eine Experten-Revue in 89 Nummern“ heißt das neueste
Produkt aus Hans Magnus Enzensbergers Essaywerkstatt
VON LEA SCHNEIDER
Was haben die verschiedenen Anwendungsgebiete der Eulerschen Zahl, Bierdeckel, das Flaggenalphabet, Vakuumpumpen, Wörterbücher für Rotwelsch und verzierte Kanaldeckel gemeinsam? Es sind Dinge, über die man sich wundern kann, wenn man Hans Magnus Enzensberger folgt. In seiner „Experten-Revue in 89 Nummern“ bedient der Lyriker und Essayist das zuverlässig unterhaltsame Prinzip der Wunderkammer: Er sammelt Seltenes und Kurioses, aus der Zeit Gefallenes und Nebensächliches, das seinen Unterhaltungswert aus der großen Ernsthaftigkeit bezieht, mit dem es von denjenigen untersucht wird, die dieser Auseinandersetzung ihr Leben gewidmet haben. Denn Ordnungsprinzip der Enzensbergerschen Wunderkammer ist, wie der Titel bereits verrät, das Expertentum.
Zu den versammelten Experten gehören historische Persönlichkeiten und Menschen, die sich einem abwegigen Hobby oder aus der Zeit gefallenen Handwerk widmen. Enzensberger würdigt einen Fachmann für Astrologie (Girolamo Cardano, der Horoskope für Petrarca und Dürer erstellt und nebenbei die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie begründet hat) ebenso wie einen für Schrauben (Herr P., der den Autor in einer Baumarktfiliale mit dem 592 Seiten starken „Profibuch“ in die Welt der Senkköpfe und Innensechskantschlitze einführt); er widmet sich der Pomologie, also der wissenschaftlichen Untersuchung von Äpfeln und ihrem Erfinder Johann Hermann Knoop und Herbert Gericke, den langjährigen und zumeist übellaunigen Direktor der Villa Massimo in Rom, und dessen Leidenschaft, der Beizjagd.
Das Sammeln denkwürdiger Realien ist natürlich alles andere als neu. Man findet es in historischen Kuriositätenkabinetten und seit vielen Jahren auch in Zeitschriften wie der jüngst eingestellten Neon, die ihrem studentischen Publikum mit jeder Ausgabe eine Zusammenstellung von „Unnützem Wissen“ präsentierte. Es macht auch den Witz jedes sogenannten Wiki Walks aus, bei dem man eigentlich nur schnell etwas in der Wikipedia nachschlagen wollte und sich dann den ganzen Abend lang von einem weiterführenden Link zum nächsten klickt. In der Fachsprache der Informationswissenschaft heißt dieses Prinzip Serendipität: Es bezeichnet jenes schöne Moment, in dem man etwas findet, das man gar nicht gesucht hat, das sich aber sofort als nützlich, interessant oder unterhaltsam entpuppt.
Dieses Gefühl erlebt man beim Lesen von Enzensbergers Expertenrevue leider eher unregelmäßig. Manche seiner Entdeckungen sind so bekannt, dass sie banal wirken. Häufiger aber krankt seine Zusammenstellung daran, dass die literarische Wunderkammer aktuell so populär ist: Es sind in den letzten Jahren sehr viele Essaybände erschienen, die sich der Sammlung von exzessiv dokumentierten Wunderlichkeiten widmen. Vorreiter sind dabei Independent-Verlage wie etwa „Das Kulturelle Gedächtnis“, wo unlängst etwa unter dem Titel „Wohl bekam’s!“ eine kommentierte Sammlung historischer Menükarten erschien. Am bekanntesten ist vielleicht die Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz, aus deren Bänden Enzensberger auch ausführlich zitiert.
Man hat hin und wieder den Eindruck, dass er für die „Experten-Revue“ im Wesentlichen aus den Neuerscheinungen der letzten Jahre die für ihn interessantesten Rosinen herausgepickt und mit dem ein oder anderen Wikipedia-Fund zu einer Art Meta-Essay kombiniert hat, der mehr wie ein Katalog mit Empfehlungen zur weiteren Lektüre wirkt. Wer die deutsche Literaturlandschaft in den vergangenen Jahren halbwegs aufmerksam beobachtet hat, für den sind viele von Enzensbergers Novitäten eher zweiter Hand.
Viel stärker wirken hingegen die Kurzessays, in denen er sich Expertisen widmet, für die er erkennbar selbst in weniger bekannten oder schwerer zugänglichen Archiven recherchiert hat: Die Auseinandersetzung mit dem 1990 von der Bundesagentur für Arbeit publizierten „Schlüsselverzeichnis für die Angaben zur Tätigkeit“ und den in ihm aufgeführten Berufen ist zum Beispiel so ein Fall, in dem man kaum anders kann, als sich mit Enzensberger über die systematische Erfassung von Berufen wie Mulzer, Wobbler, Köderin, Stegreifdichter, Buggler, Zäckler oder Biermädchen zu freuen.
Überhaupt ist es die Freude an Fachbegriffen und beinahe vergessenen Handwerkskünsten, die sich als roter Faden durch dieses Buch zieht, egal, ob es um die Entwicklung des Internationalen Phonetischen Alphabets, den Fachhandel mit Terrariumfutter oder die Kragenformen eines Herrenhemds geht.
In ihrer Aufmachung wirkt die „Experten-Revue“ mit ihren eingestreuten schwarz-weißen Illustrationen wiederum eher wie eine mutlose Kopie der aufwendig illustrierten, farbig gedruckten, und mit bibliophilen Extras wie Lesebändchen, Prägung und Farbschnitt ausgestatteten Bücher, die in den letzten Jahren in kleineren Verlagen erschienen sind. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man berücksichtigt, wie sehr diese Verlage sich offensichtlich die Bücher der „Anderen Bibliothek“ zum Vorbild genommen haben, die Enzensberger von 1985 bis 2004 herausgegeben hat.
Hans Magnus Enzensberger feiert in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag. Es sei verrückt, hat er dem Bayerischen Rundfunk zu diesem Anlass in einem Interview gesagt: „Je weniger man schreibt, desto mehr Bücher erscheinen von einem.“ Das impliziert ja im Umkehrschluss: (Fast) alles, was Enzensberger schreibt, wird auch publiziert. In der Tat wird man das Gefühl nicht ganz los, dass der Suhrkamp-Verlag dieses Buch in erster Linie nicht des Inhalts wegen, sondern aufgrund des Autorennamens auf dem Cover aufgelegt hat. Man kann das als Respekt vor einem großen Intellektuellen verstehen, der die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte wie nur wenige andere geprägt und sich im Alter von 90 Jahren eine weitgehende Narrenfreiheit wohlverdient hat.
Man kann darin aber auch eine Ideenlosigkeit wittern, wie man sie aktuell häufig im Kino antrifft, wenn Filmstudios die x-te Fortsetzung einer etablierten Erzählung bringen, anstatt etwas Neues zu entwickeln. Enzensbergers literarisches und intellektuelles Werk ist, spätestens seit seinem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ von 1970, in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zu Hollywood und Unterhaltungsindustrie; umso auffälliger wirkt da die strukturelle Ähnlichkeit von „Experten-Revue“ und Filmen wie „Spider Man 3“.
Man kann kaum anders, als
sich über Berufe wie Wobbler
und Köderin zu freuen
„Je weniger man schreibt,
desto mehr Bücher
erscheinen von einem.“
Hans Magnus
Enzensberger:
Eine Expertenrevue in 89 Nummern. Suhrkamp, Berlin 2019. 335 Seiten,
24 Euro.
Der Dichter, Essayist und Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, geboren 1929 in Kaufbeuren.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
aber finden
„Eine Experten-Revue in 89 Nummern“ heißt das neueste
Produkt aus Hans Magnus Enzensbergers Essaywerkstatt
VON LEA SCHNEIDER
Was haben die verschiedenen Anwendungsgebiete der Eulerschen Zahl, Bierdeckel, das Flaggenalphabet, Vakuumpumpen, Wörterbücher für Rotwelsch und verzierte Kanaldeckel gemeinsam? Es sind Dinge, über die man sich wundern kann, wenn man Hans Magnus Enzensberger folgt. In seiner „Experten-Revue in 89 Nummern“ bedient der Lyriker und Essayist das zuverlässig unterhaltsame Prinzip der Wunderkammer: Er sammelt Seltenes und Kurioses, aus der Zeit Gefallenes und Nebensächliches, das seinen Unterhaltungswert aus der großen Ernsthaftigkeit bezieht, mit dem es von denjenigen untersucht wird, die dieser Auseinandersetzung ihr Leben gewidmet haben. Denn Ordnungsprinzip der Enzensbergerschen Wunderkammer ist, wie der Titel bereits verrät, das Expertentum.
Zu den versammelten Experten gehören historische Persönlichkeiten und Menschen, die sich einem abwegigen Hobby oder aus der Zeit gefallenen Handwerk widmen. Enzensberger würdigt einen Fachmann für Astrologie (Girolamo Cardano, der Horoskope für Petrarca und Dürer erstellt und nebenbei die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie begründet hat) ebenso wie einen für Schrauben (Herr P., der den Autor in einer Baumarktfiliale mit dem 592 Seiten starken „Profibuch“ in die Welt der Senkköpfe und Innensechskantschlitze einführt); er widmet sich der Pomologie, also der wissenschaftlichen Untersuchung von Äpfeln und ihrem Erfinder Johann Hermann Knoop und Herbert Gericke, den langjährigen und zumeist übellaunigen Direktor der Villa Massimo in Rom, und dessen Leidenschaft, der Beizjagd.
Das Sammeln denkwürdiger Realien ist natürlich alles andere als neu. Man findet es in historischen Kuriositätenkabinetten und seit vielen Jahren auch in Zeitschriften wie der jüngst eingestellten Neon, die ihrem studentischen Publikum mit jeder Ausgabe eine Zusammenstellung von „Unnützem Wissen“ präsentierte. Es macht auch den Witz jedes sogenannten Wiki Walks aus, bei dem man eigentlich nur schnell etwas in der Wikipedia nachschlagen wollte und sich dann den ganzen Abend lang von einem weiterführenden Link zum nächsten klickt. In der Fachsprache der Informationswissenschaft heißt dieses Prinzip Serendipität: Es bezeichnet jenes schöne Moment, in dem man etwas findet, das man gar nicht gesucht hat, das sich aber sofort als nützlich, interessant oder unterhaltsam entpuppt.
Dieses Gefühl erlebt man beim Lesen von Enzensbergers Expertenrevue leider eher unregelmäßig. Manche seiner Entdeckungen sind so bekannt, dass sie banal wirken. Häufiger aber krankt seine Zusammenstellung daran, dass die literarische Wunderkammer aktuell so populär ist: Es sind in den letzten Jahren sehr viele Essaybände erschienen, die sich der Sammlung von exzessiv dokumentierten Wunderlichkeiten widmen. Vorreiter sind dabei Independent-Verlage wie etwa „Das Kulturelle Gedächtnis“, wo unlängst etwa unter dem Titel „Wohl bekam’s!“ eine kommentierte Sammlung historischer Menükarten erschien. Am bekanntesten ist vielleicht die Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz, aus deren Bänden Enzensberger auch ausführlich zitiert.
Man hat hin und wieder den Eindruck, dass er für die „Experten-Revue“ im Wesentlichen aus den Neuerscheinungen der letzten Jahre die für ihn interessantesten Rosinen herausgepickt und mit dem ein oder anderen Wikipedia-Fund zu einer Art Meta-Essay kombiniert hat, der mehr wie ein Katalog mit Empfehlungen zur weiteren Lektüre wirkt. Wer die deutsche Literaturlandschaft in den vergangenen Jahren halbwegs aufmerksam beobachtet hat, für den sind viele von Enzensbergers Novitäten eher zweiter Hand.
Viel stärker wirken hingegen die Kurzessays, in denen er sich Expertisen widmet, für die er erkennbar selbst in weniger bekannten oder schwerer zugänglichen Archiven recherchiert hat: Die Auseinandersetzung mit dem 1990 von der Bundesagentur für Arbeit publizierten „Schlüsselverzeichnis für die Angaben zur Tätigkeit“ und den in ihm aufgeführten Berufen ist zum Beispiel so ein Fall, in dem man kaum anders kann, als sich mit Enzensberger über die systematische Erfassung von Berufen wie Mulzer, Wobbler, Köderin, Stegreifdichter, Buggler, Zäckler oder Biermädchen zu freuen.
Überhaupt ist es die Freude an Fachbegriffen und beinahe vergessenen Handwerkskünsten, die sich als roter Faden durch dieses Buch zieht, egal, ob es um die Entwicklung des Internationalen Phonetischen Alphabets, den Fachhandel mit Terrariumfutter oder die Kragenformen eines Herrenhemds geht.
In ihrer Aufmachung wirkt die „Experten-Revue“ mit ihren eingestreuten schwarz-weißen Illustrationen wiederum eher wie eine mutlose Kopie der aufwendig illustrierten, farbig gedruckten, und mit bibliophilen Extras wie Lesebändchen, Prägung und Farbschnitt ausgestatteten Bücher, die in den letzten Jahren in kleineren Verlagen erschienen sind. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man berücksichtigt, wie sehr diese Verlage sich offensichtlich die Bücher der „Anderen Bibliothek“ zum Vorbild genommen haben, die Enzensberger von 1985 bis 2004 herausgegeben hat.
Hans Magnus Enzensberger feiert in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag. Es sei verrückt, hat er dem Bayerischen Rundfunk zu diesem Anlass in einem Interview gesagt: „Je weniger man schreibt, desto mehr Bücher erscheinen von einem.“ Das impliziert ja im Umkehrschluss: (Fast) alles, was Enzensberger schreibt, wird auch publiziert. In der Tat wird man das Gefühl nicht ganz los, dass der Suhrkamp-Verlag dieses Buch in erster Linie nicht des Inhalts wegen, sondern aufgrund des Autorennamens auf dem Cover aufgelegt hat. Man kann das als Respekt vor einem großen Intellektuellen verstehen, der die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte wie nur wenige andere geprägt und sich im Alter von 90 Jahren eine weitgehende Narrenfreiheit wohlverdient hat.
Man kann darin aber auch eine Ideenlosigkeit wittern, wie man sie aktuell häufig im Kino antrifft, wenn Filmstudios die x-te Fortsetzung einer etablierten Erzählung bringen, anstatt etwas Neues zu entwickeln. Enzensbergers literarisches und intellektuelles Werk ist, spätestens seit seinem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ von 1970, in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zu Hollywood und Unterhaltungsindustrie; umso auffälliger wirkt da die strukturelle Ähnlichkeit von „Experten-Revue“ und Filmen wie „Spider Man 3“.
Man kann kaum anders, als
sich über Berufe wie Wobbler
und Köderin zu freuen
„Je weniger man schreibt,
desto mehr Bücher
erscheinen von einem.“
Hans Magnus
Enzensberger:
Eine Expertenrevue in 89 Nummern. Suhrkamp, Berlin 2019. 335 Seiten,
24 Euro.
Der Dichter, Essayist und Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, geboren 1929 in Kaufbeuren.
Foto: Regina Schmeken
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de