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Die Nobelpreisträgerin Herta Müller über Würde und Freiheit, Exil und Heimat und die subversive Kraft des Lachens
Ob Herta Müller die Werke von Böll, Liao Yiwu oder Goldschmidt liest, oder sich mit dem politischen Geschehen befasst: stets ergreift sie Partei für die Aufrichtigkeit. Sie kennt die subversive Kraft des Lachens, und sie weiß, dass Diktatoren nichts so schlecht vertragen wie die Wahrheit. Aber auch ihr Blick auf unsere Gesellschaft ist unbestechlich. Stehen wir für unsere Werte ein, wenn es um den Schutz von Minderheiten, Verfolgten und Exilsuchenden geht? Politisch-literarische…mehr

Produktbeschreibung
Die Nobelpreisträgerin Herta Müller über Würde und Freiheit, Exil und Heimat und die subversive Kraft des Lachens

Ob Herta Müller die Werke von Böll, Liao Yiwu oder Goldschmidt liest, oder sich mit dem politischen Geschehen befasst: stets ergreift sie Partei für die Aufrichtigkeit. Sie kennt die subversive Kraft des Lachens, und sie weiß, dass Diktatoren nichts so schlecht vertragen wie die Wahrheit. Aber auch ihr Blick auf unsere Gesellschaft ist unbestechlich. Stehen wir für unsere Werte ein, wenn es um den Schutz von Minderheiten, Verfolgten und Exilsuchenden geht? Politisch-literarische Wortmeldungen der Nobelpreisträgerin aus dem letzten Jahrzehnt. Eindringlich und hochaktuell.
Autorenporträt
Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis. Ihr Werk wurde in über 50 Sprachen übersetzt und erscheint auf Deutsch bei Hanser, zuletzt die Collagenbände Im Heimweh ist ein blauer Saal (2019) und Der Beamte sagte (2021) sowie Eine Fliege kommt durch einen halben Wald (2023).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Dieser Band versammelt Reden, Essays und Prosa Herta Müllers, die sich für den Rezensenten Paul Jandl zusammenfügen zu einem inspirierenden "Nachdenken über die Bedürftigkeit des Menschen". Es geht um Humor in der Diktatur und in einem fremden Land, um Freiheit und Würde, so Jandl. Wie bemerkt man den schleichenden Verlust von Freiheit? Wie bleibt man Subjekt, und wie bekämpft man die Angst? Für Müller gibt es darauf eine Antwort, so der beeindruckte Kritiker: durch Beobachten. Das schult den "inneren Freigeist" und schärft eine Sprache, die wie bei Müller immer präziser wird, lernt Jandl. Unbedingt eine Leseempfehlung.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Herta Müllers neues Buch ist ein Nachdenken über die Bedürftigkeit des Menschen und über die Notwendigkeit des Lachens. ... Erst mit Herta Müllers besonderer Sprache sieht man, was man ohne diese Sprache nicht sehen könnte." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 24.07.23

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2023

Das Wort
ist nicht
verhandelbar
Immer wieder bezeugt Herta Müller
ihre Erfahrung mit Diktatur und Exil.
Nun wird die Trägerin des
Literaturnobelpreises 70 Jahre alt
VON LOTHAR MÜLLER
Vor einigen Tagen hat die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller einen offenen Brief an den belarussischen Präsidenten Lukaschenko verfasst. Unter dem Titel „Wo sind sie geblieben?“ fragt er nach dem Schicksal der verschwundenen politischen Gefangenen in Belarus, Maria Kolesnikowa, Viktor Babariko, Sergej Tichanowskij und anderen. Zu den Erstunterzeichnern zählen Olga Tokarczuk, Salman Rushdie, Elfriede Jelinek, Péter Nádas, Margaret Atwood und Gidon Kremer.
Die Erfahrung der Diktatur ist Ausgangspunkt und Erfahrungskern in Herta Müllers literarischem Werk. Er ist eng verknüpft mit ihrem zweiten Lebensthema, dem Exil. Sie ist Initiatorin und Schirmherrin des Exilmuseums Berlin, das auf der Freifläche neben der Portalruine des Anhalter Bahnhofs entstehen soll. Von dieser Verknüpfung handelt ihr Buch „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“, das kurz vor ihrem 70. Geburtstag erschienen ist. Es versammelt Gelegenheitsarbeiten, die im vergangenen Jahrzehnt entstanden sind, Dankesreden, Buchvorstellungen, Ausstellungseröffnungen und manches mehr. Oft wird gesagt, der Zufall führe solche Gelegenheitstexte zusammen. Hier ist das offenkundig nicht der Fall.
Herta Müller wurde 1953 in der deutschsprachigen Ortschaft Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Nach ihrer Weigerung, für den rumänischen Geheimdienst die Kollegen in der Maschinenbaufabrik zu bespitzeln, in der sie als Übersetzerin arbeitete, unterlag sie heftigsten Repressionen, die Todesdrohungen einschlossen.
Die Schikanen schildert sie in einer Passage des Textes, den sie zu einer Sammlung mit literarischen Kommentaren zum Grundgesetz beigesteuert hat. Er behandelt Artikel 1, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, aus der Erfahrung der Negation heraus: „Das meiste, was ich über Freiheit und Würde gelernt habe, habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt.“ Mehrfach taucht im Securitate-Strang dieses Buches die Zahnbürste auf, die Herta Müller mitnahm, wenn sie, sogfältig geschminkt, zu einem Verhörtermin ging, der mit ihrer Verhaftung hätte enden können. Diese Zahnbürste, die stumme Zeugin der Verhörrituale, die sehr viel später, lange nach dem Gang ins Exil, bei einem Handtaschendiebstahl verschwindet, steht im Zentrum der Dankesrede zur Aufnahme in den Orden pour le Mérite im Juni 2022.
Wenig später, im November 2022, nahm Herta Müller im Jüdischen Museum Berlin den Preis für Toleranz und Menschenrechte entgegen. Der Titel dieser Dankesrede – „Der verschwommene Mond“ – scheint die große Tradition der lunaren Poesie aufzurufen. Aber er findet in einer Kindheitsszene eine sehr prosaische Auflösung. Der Großvater sitzt am Tisch vor einem Foto des Onkels, seines Sohnes, der als SS-Soldat im Krieg gefallen ist. Der Großvater will die Runen auf den Kragenspitzen der Uniform entfernen. Aber durch den Versuch, sie mit einer Rasierklinge abzukratzen, werden sie zu hellen Flecken, mit einem blassen Hof „wie nachts der verschwommene Mond“.
In Herta Müllers neuem Band sind nun der Securitate-Strang mit der Zahnbürste und der Familienstrang mit der Rasierklinge des Großvaters ineinander verflochten. Der Großvater hat selbst nichts gegen die SS-Runen, er trägt nur den Usancen des Spätstalinismus im rumänischen Dorf Rechnung. Der Vater der Autorin ist freiwillig zur SS gegangen und wird als Kriegsheimkehrer zum Alkoholiker. Die Mutter macht ihr Vorhaltungen, als sie wegen ihrer Verweigerung der Spitzeltätigkeit zum politischen Fall wird. Noch als sie in Rumänien lebte, hat Herta Müller ihr Debüt „Niederungen“ publiziert, die bildkräftige Schilderung ihrer Herkunftswelt. Im banatschwäbischen Dorf galt sie seitdem als Nestbeschmutzerin. In ihrem Leben wie in ihrem Werk war damit die Identifizierung von Herkunft und „Heimat“ blockiert.
Zum Securitate-Strang gehört, dass die rumänischen Behörden ihr bei der Übersiedlung nach Deutschland den 29. Februar 1987 als Ausreisedatum in den Pass stempelten, obwohl das Jahr kein Schaltjahr war. Dass sie nicht zu Unrecht hofften, damit bürokratische Schwierigkeiten für die Exilantin zu erzeugen, lässt sich in der Rede nachlesen, die sie im August 2012 zur Eröffnung der Exil-Ausstellung „Fremd bin ich den Menschen dort“ in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main gehalten hat. Darin erzählt sie ausführlich die Geschichte ihrer Ausreise und des Verdachts der deutschen Einwanderungsbehörde und des Bundesnachrichtendienstes, sie könne eine verkappte Securitate-Agentin sein. Die Securitate selbst hatte diesen Verdacht genährt. Die Banatschwäbische Landsmannschaft, die in ihren Blättern lange schon die „Nestbeschmutzerin“ attackierte, sorgte in Kooperation mit den rumänischen Behörden gut für die ausreisenden Familien. Müller erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft erst eineinhalb Jahre nach ihrer Ausreise. „Ich war nicht zu meinem Onkel gekommen, sondern ins Exil. Für mich war dieser Begriff nicht verhandelbar. Ich beanspruchte ihn, weil er den Tatsachen entsprach.“
Schon 2011 hatte sich Müller in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel für die Errichtung eines Exilmuseums in Berlin ausgesprochen, das an die seit 1933 vom Nationalsozialismus Vertriebenen erinnern soll. Die Frankfurter Rede untermauerte dieses Plädoyer und hob hervor, dass es ohne den Nationalsozialismus, der die Vertreibungen aus Deutschland hinaus betrieb, die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nicht gäbe.
Einer der dichtesten Texte im neuen Buch handelt von dieser Vertreibung. Der Form nach handelt es sich um die Rezension der Erzählung „Ein Wiederkommen“ (2012) von Georges-Arthur Goldschmidt. Das close reading dieses Textes wird zu einer Reflexion über den Begriff „Heimat“, anlässlich einer Wortschöpfung, die Goldschmidt in der deutschen Fassung seiner Erzählung – er hatte sie zunächst auf Französisch geschrieben – geprägt hat: „Heimwehschutz“. Dieser Schutz funktioniert über die alltagsmagische Aufladung von Dingen und Apparaturen und erinnert Herta Müller – durch das „inzestuöse Gemisch aus Zerteilen und Zusammensetzen von Außen- und Innenwelt“ – an das Buch „Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit“ des früh verstorbenen rumänischen Juden M. Blecher. Dieses Gemisch erinnert aber auch an die Tendenz zur surrealen Prosa in ihrem eigenen Werk.
Dieser Surrealismus ist kein Import des französischen, obwohl es in der Zwischenkriegszeit Verbindungen zwischen rumänischer Avantgarde und den Surrealisten in Paris gab. Er ist bei Herta Müller aus der Erfahrung der Diktatur, der inneren Notwehr gegen die Verhöre hervorgegangen: „Es schneite zerrissene Taschentücher, der Vogel an der Bushaltestelle ging auf den Händen ins Gras, der Stoppelbart des Vernehmers war aus Erde, das Holz der Erde Möbel im Wind, die Frau im Park aß einen Pfirsich aus ihrer eigenen Gesichtshaut. So fing ich an zu schreiben.“
Als eine Miniatur-Poetik dieses Schreibens lässt sich der 2012 entstandene Text „Das chinesische Glasauge“ lesen. Er handelt, im Blick auf mehrere Glasdosen im Schaufenster einer Konditorei in Temeswar in den 1980er-Jahren, vom wahllosen Nebeneinander der Dinge und wie sich daraus im Kopf eine Art sprachmagische Rüstung gegen die Zumutungen der Diktatur basteln lässt. Von diesen Glasdosen ist es nicht weit zum Titeltext des Bandes „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“. Es gab ihn bisher als Hörfassung , gesprochen von Angela Winkler. Nun lässt sich diese surreale Erzählung nachlesen. Sie führt auf verschlungenen Wegen und seltsamen Zugfahrten, an Vogelscheuchen, Blechschildern und vorbei, auf ein Straflager zu, ohne es je zu erreichen.
Ihr Surrealismus ist aus der
inneren Notwehr gegen
die Verhöre hervorgegangen
Herta Müller, am
17. August 1953 im Banat geboren. 2009 bekam sie den Nobelpreis für
Literatur.
Foto: Mauersberger/imago
Herta Müller:
Eine Fliege kommt durch einen halben Wald.
Hanser, München 2023.
126 Seiten, 24 Euro.
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