Der neue Roman des isländischen Kultautors Hallgrímur Helgason Drei Söhne von neun Männern, das ist genug.
In ihrer Garage surft die 80-jährige Herbjörg durchs Internet und begleicht letzte Rechnungen, während der Ofen für ihre Einäscherung heißläuft. Hallgrímur Helgasons neuer Roman ist ein Parforceritt durch die Geschichte des 20.Jahrhunderts: anrührend und voll isländischer Skurrilität.
"Ich lebe hier allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Es ist wahnsinnig gemütlich." "Ich möchte einen Termin für eine Einäscherung buchen." "Einen Termin buchen?" "Genau." "Aha. Ja ... wie war noch mal der Name?" "Herbjörg María Björnsson." "Hallo? Ich kann den Namen in der Liste nicht finden. Haben Sie den Antrag auf Einäscherung schon eingereicht?" "Nein, nein. Ich möchte einen Termin für mich buchen. Für mich selbst." "Naja, wir bearbeiten ihn nicht, bevor ... na, Sie wissen schon ... also bevor, äh ..., bevor die Leute tot sind, okay?" "Gut. Wenn es so weit ist, werde ich tot sein. Darauf können Sie sich verlassen. Also, wenn's eng wird, komme ich einfach vorbei, und ihr schiebt mich lebend in den Ofen."
In ihrer Garage surft die 80-jährige Herbjörg durchs Internet und begleicht letzte Rechnungen, während der Ofen für ihre Einäscherung heißläuft. Hallgrímur Helgasons neuer Roman ist ein Parforceritt durch die Geschichte des 20.Jahrhunderts: anrührend und voll isländischer Skurrilität.
"Ich lebe hier allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Es ist wahnsinnig gemütlich." "Ich möchte einen Termin für eine Einäscherung buchen." "Einen Termin buchen?" "Genau." "Aha. Ja ... wie war noch mal der Name?" "Herbjörg María Björnsson." "Hallo? Ich kann den Namen in der Liste nicht finden. Haben Sie den Antrag auf Einäscherung schon eingereicht?" "Nein, nein. Ich möchte einen Termin für mich buchen. Für mich selbst." "Naja, wir bearbeiten ihn nicht, bevor ... na, Sie wissen schon ... also bevor, äh ..., bevor die Leute tot sind, okay?" "Gut. Wenn es so weit ist, werde ich tot sein. Darauf können Sie sich verlassen. Also, wenn's eng wird, komme ich einfach vorbei, und ihr schiebt mich lebend in den Ofen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Schwitze-Gunnas große Liebe
Wer das moderne Island kennenlernen will, verlasse sich auf die wilde Erzählerin dieses Romans: "Eine Frau bei 1000°" von Hallgrímur Helgason.
Von Tilman Spreckelsen
Eine der vielen entsetzlichen Geschichten in diesem Roman geht so: Zwei geistig Behinderte, die in den dreißiger Jahren auf beiden Seiten des isländischen Breidafjords leben, verlieben sich und wollen heiraten. Derlei ist unter den Bauern nicht gern gesehen, doch man verabredet eine halboffizielle Hochzeit, zu der vom Hof, auf dem der Bräutigam dient, ein Boot zum Hof der Braut fahren soll. Der aber wird die Zeit bis zur Feier allzu lang, und so besteht sie auf ein Telefongespräch mit ihrem Liebsten, das damals nur mühsam und über die Sendekanäle des isländischen Radios stattfinden kann - jeder, der einschaltet, hört also das intime Gespräch mit. Die verabredete Stunde des Funktelefonats schlägt, die Braut sagt, wie sehr sie sich auf den Besuch des Bräutigams freut. Der aber teilt stolz, arglos und umso verletzender mit, dass er jetzt eine andere Gefährtin habe, die übrigens auch viel hübscher sei, und dass er diese beim verabredeten Ausflug über den Fjord hinweg mitbringen werde. Die vormalige Braut Gudrun, genannt "Schwitze-Gunna", verschwindet daraufhin und taucht erst als Wasserleiche wieder auf. Mit ihr begräbt man ihr ungeborenes Kind.
Es ist eine fortgesetzte Zumutung, was Herbjörg Maria Björnsson, die achtzigjährige Erzählerin in Hallgrímur Helgasons Roman "Eine Frau bei 1000°", auf ihrem Totenbett noch berichtet, so viel steht fest. Sie hat sich, schwer krebskrank, in einer Garage in Reykjavík wohnlich eingerichtet und zieht nun im Jahr 2009, kurz nach dem isländischen Bankencrash, die Bilanz ihres Lebens. Einer irgendwie chronologisch strukturierten Ordnung folgt sie dabei nicht, auch wenn am Ende der vierhundert Seiten dieses Bandes die grobe Chronologie eines langen Lebens aufscheint: Geboren 1929 in Island als Frucht eines Flirts zwischen einem hochwohlgeborenen Studenten und einem Bauernmädchens, aufgewachsen in Deutschland und Dänemark, weil der Vater im Nationalsozialismus seine Chance sieht, der Familie zu beweisen, was in ihm steckt, schließlich von Lebensgier über vier Kontinente und in die Arme zahlreicher Männer getrieben, von denen sie drei Söhne zurückbehält: Harald, den Immobilienhai, Olafur Helgi, den Bäcker, und Magnus, den Bankangestellten, der als Protagonist der isländischen Krise von 2008 auf ganzer Linie scheitern wird.
Es ist kein Zufall, dass die drei Söhne ausgerechnet die Namen der berühmtesten norwegischen Könige aus den Isländersagas tragen, dass die Erzählerin als Enkelin des ersten isländischen Präsidenten Sveinn Björnsson daherkommt oder dass sie mit vierzehn Jahren gewaltsam exakt an jenem Tag entjungfert wird, an dem der unabhängige isländische Staat ausgerufen wird: Herbjörg Maria Björnsson symbolisiert, ob sie will oder nicht, in dieser literarischen Konstruktion unübersehbar das moderne Island der vergangenen acht Jahrzehnte. Fortwährend sendet sie Signale aus, die auf die Verwobenheit ihrer eigenen Geschichte mit der ihrer Nation hindeuten, und wenn von der Zwölfjährigen gesagt wird, dass sie zur Kinderlandverschickung nach Amrum zwei Isländersagas mitbekommt, dann wird man diesen Hinweis gar nicht hoch genug einschätzen können.
Natürlich geht das nicht ohne Brüche ab, und umgekehrt tut die Erzählerin, aus deren Perspektive wir das Geschehen notgedrungen sehen und beurteilen müssen, das Ihre, um mit dieser Ausgangslage zu spielen: Dass - bekanntlich - gute Geschichten auf Island entscheidend in allen Lebenslagen sind, betont sie gern, und auch sie berichtet pointenselig von allem, was ihr widerfahren ist.
Und das ist eine ganze Menge. In der historischen und topographischen Situation, in der sich ihre Kindheit abspielt, sind die Katstrophen des Kriegs auf der Tagesordnung - wie sehr sie dessen Metaphorik in Bann geschlagen hat, macht sie später deutlich, als sie ihre Krebserkrankung direkt mit dem nationalsozialistischen Eroberungsdrang in Beziehung setzt, ihren Körper als das gequälte Europa bezeichnet und die gegen die Krankheit eingesetzten Medikamente als Rote Armee sieht, die sich der Wehrmacht entgegenstellt.
Vor allem aber sind es Beobachtungen an Mitläufern und Gegnern des Regimes, die sie prägen; sie wird schuldlos schuldig, als sie durch deutsche Ermittler zum Verrat genötigt wird und von den schrecklichen Folgen erfährt, die ihre Aussage hervorbringt. "Das Ende der Kindheit" nennt sie diese Phase mit einigem Recht. Damals ist sie zwölf Jahre alt.
Der Gedankenstrom der alten Frau verharrt ausdauernd in jenen Jahren, und das ist in dieser speziellen Biographie nicht nur glaubhaft, sondern auch erhellend. Denn wo die Chronologie der Erzählung obsolet wird, tritt eine andere Ordnung um so deutlicher hervor. Herbjörg Maria Björnsson arbeitet sich, schnodderige Diktion hin oder her, an das Zentrum ihres Schmerzes heran und legt so Schicht um Schicht frei, was dieses Leben eigentlich geprägt hat: von außen nach innen, vom kleinen Unglück zum großen, vom Erlittenen zu dem, was sich die Sterbende nach so viel Jahren immer noch nicht verzeihen kann.
Da ist die Schulzeit in Kopenhagen als Opfer dänischer Kinder: "Die Mädchen sengten mir mit Kerzen die Haare an, die Jungen füllten meine Stiefel mit warm dampfenden Sauereien, standen feixend in der Nähe und beobachteten mich bei den Kleiderhaken. Ich setzte die Miene unterworfener Völker auf: Stolz, Stolz, Stolz! und tat, als sei nichts, steckte die Füße in dänische Kacke und stiefelte unter dem ätzenden Gelächter der Lasses und Björns davon." Das ist das Erlebnis in jungen Jahren. Bezeichnend ist, wie lang es nachwirkt: "Mit den Trottoirs Kopenhagens habe ich seitdem immer Probleme", sagt die Greisin.
Großen Wert auf gerechte Beurteilung anderer Menschen legt sie nicht, sie schert sich keinen Deut um politisch korrekte Beschreibungen von Ethnien, und wo sie über das Internet andere mit fingierten Identitäten auf den Holzweg führen kann, tut sie das lustvoll und skrupellos. Und so bleibt in diesem packenden Roman ein weiter Raum für die Distanz zwischen Leser und Erzählerin: Wir folgen ihr, die noch im von ihr bestellten Krematoriumsfeuer ihre Stimme behält, mit atemloser Anspannung. Und wünschen uns doch nie, sie im Leben gekannt zu haben.
Hallgrímur Helgason: "Eine Frau bei 1000°". Roman.
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 400 S., geb., 19.95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer das moderne Island kennenlernen will, verlasse sich auf die wilde Erzählerin dieses Romans: "Eine Frau bei 1000°" von Hallgrímur Helgason.
Von Tilman Spreckelsen
Eine der vielen entsetzlichen Geschichten in diesem Roman geht so: Zwei geistig Behinderte, die in den dreißiger Jahren auf beiden Seiten des isländischen Breidafjords leben, verlieben sich und wollen heiraten. Derlei ist unter den Bauern nicht gern gesehen, doch man verabredet eine halboffizielle Hochzeit, zu der vom Hof, auf dem der Bräutigam dient, ein Boot zum Hof der Braut fahren soll. Der aber wird die Zeit bis zur Feier allzu lang, und so besteht sie auf ein Telefongespräch mit ihrem Liebsten, das damals nur mühsam und über die Sendekanäle des isländischen Radios stattfinden kann - jeder, der einschaltet, hört also das intime Gespräch mit. Die verabredete Stunde des Funktelefonats schlägt, die Braut sagt, wie sehr sie sich auf den Besuch des Bräutigams freut. Der aber teilt stolz, arglos und umso verletzender mit, dass er jetzt eine andere Gefährtin habe, die übrigens auch viel hübscher sei, und dass er diese beim verabredeten Ausflug über den Fjord hinweg mitbringen werde. Die vormalige Braut Gudrun, genannt "Schwitze-Gunna", verschwindet daraufhin und taucht erst als Wasserleiche wieder auf. Mit ihr begräbt man ihr ungeborenes Kind.
Es ist eine fortgesetzte Zumutung, was Herbjörg Maria Björnsson, die achtzigjährige Erzählerin in Hallgrímur Helgasons Roman "Eine Frau bei 1000°", auf ihrem Totenbett noch berichtet, so viel steht fest. Sie hat sich, schwer krebskrank, in einer Garage in Reykjavík wohnlich eingerichtet und zieht nun im Jahr 2009, kurz nach dem isländischen Bankencrash, die Bilanz ihres Lebens. Einer irgendwie chronologisch strukturierten Ordnung folgt sie dabei nicht, auch wenn am Ende der vierhundert Seiten dieses Bandes die grobe Chronologie eines langen Lebens aufscheint: Geboren 1929 in Island als Frucht eines Flirts zwischen einem hochwohlgeborenen Studenten und einem Bauernmädchens, aufgewachsen in Deutschland und Dänemark, weil der Vater im Nationalsozialismus seine Chance sieht, der Familie zu beweisen, was in ihm steckt, schließlich von Lebensgier über vier Kontinente und in die Arme zahlreicher Männer getrieben, von denen sie drei Söhne zurückbehält: Harald, den Immobilienhai, Olafur Helgi, den Bäcker, und Magnus, den Bankangestellten, der als Protagonist der isländischen Krise von 2008 auf ganzer Linie scheitern wird.
Es ist kein Zufall, dass die drei Söhne ausgerechnet die Namen der berühmtesten norwegischen Könige aus den Isländersagas tragen, dass die Erzählerin als Enkelin des ersten isländischen Präsidenten Sveinn Björnsson daherkommt oder dass sie mit vierzehn Jahren gewaltsam exakt an jenem Tag entjungfert wird, an dem der unabhängige isländische Staat ausgerufen wird: Herbjörg Maria Björnsson symbolisiert, ob sie will oder nicht, in dieser literarischen Konstruktion unübersehbar das moderne Island der vergangenen acht Jahrzehnte. Fortwährend sendet sie Signale aus, die auf die Verwobenheit ihrer eigenen Geschichte mit der ihrer Nation hindeuten, und wenn von der Zwölfjährigen gesagt wird, dass sie zur Kinderlandverschickung nach Amrum zwei Isländersagas mitbekommt, dann wird man diesen Hinweis gar nicht hoch genug einschätzen können.
Natürlich geht das nicht ohne Brüche ab, und umgekehrt tut die Erzählerin, aus deren Perspektive wir das Geschehen notgedrungen sehen und beurteilen müssen, das Ihre, um mit dieser Ausgangslage zu spielen: Dass - bekanntlich - gute Geschichten auf Island entscheidend in allen Lebenslagen sind, betont sie gern, und auch sie berichtet pointenselig von allem, was ihr widerfahren ist.
Und das ist eine ganze Menge. In der historischen und topographischen Situation, in der sich ihre Kindheit abspielt, sind die Katstrophen des Kriegs auf der Tagesordnung - wie sehr sie dessen Metaphorik in Bann geschlagen hat, macht sie später deutlich, als sie ihre Krebserkrankung direkt mit dem nationalsozialistischen Eroberungsdrang in Beziehung setzt, ihren Körper als das gequälte Europa bezeichnet und die gegen die Krankheit eingesetzten Medikamente als Rote Armee sieht, die sich der Wehrmacht entgegenstellt.
Vor allem aber sind es Beobachtungen an Mitläufern und Gegnern des Regimes, die sie prägen; sie wird schuldlos schuldig, als sie durch deutsche Ermittler zum Verrat genötigt wird und von den schrecklichen Folgen erfährt, die ihre Aussage hervorbringt. "Das Ende der Kindheit" nennt sie diese Phase mit einigem Recht. Damals ist sie zwölf Jahre alt.
Der Gedankenstrom der alten Frau verharrt ausdauernd in jenen Jahren, und das ist in dieser speziellen Biographie nicht nur glaubhaft, sondern auch erhellend. Denn wo die Chronologie der Erzählung obsolet wird, tritt eine andere Ordnung um so deutlicher hervor. Herbjörg Maria Björnsson arbeitet sich, schnodderige Diktion hin oder her, an das Zentrum ihres Schmerzes heran und legt so Schicht um Schicht frei, was dieses Leben eigentlich geprägt hat: von außen nach innen, vom kleinen Unglück zum großen, vom Erlittenen zu dem, was sich die Sterbende nach so viel Jahren immer noch nicht verzeihen kann.
Da ist die Schulzeit in Kopenhagen als Opfer dänischer Kinder: "Die Mädchen sengten mir mit Kerzen die Haare an, die Jungen füllten meine Stiefel mit warm dampfenden Sauereien, standen feixend in der Nähe und beobachteten mich bei den Kleiderhaken. Ich setzte die Miene unterworfener Völker auf: Stolz, Stolz, Stolz! und tat, als sei nichts, steckte die Füße in dänische Kacke und stiefelte unter dem ätzenden Gelächter der Lasses und Björns davon." Das ist das Erlebnis in jungen Jahren. Bezeichnend ist, wie lang es nachwirkt: "Mit den Trottoirs Kopenhagens habe ich seitdem immer Probleme", sagt die Greisin.
Großen Wert auf gerechte Beurteilung anderer Menschen legt sie nicht, sie schert sich keinen Deut um politisch korrekte Beschreibungen von Ethnien, und wo sie über das Internet andere mit fingierten Identitäten auf den Holzweg führen kann, tut sie das lustvoll und skrupellos. Und so bleibt in diesem packenden Roman ein weiter Raum für die Distanz zwischen Leser und Erzählerin: Wir folgen ihr, die noch im von ihr bestellten Krematoriumsfeuer ihre Stimme behält, mit atemloser Anspannung. Und wünschen uns doch nie, sie im Leben gekannt zu haben.
Hallgrímur Helgason: "Eine Frau bei 1000°". Roman.
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 400 S., geb., 19.95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011Ein eiskaltes, versalzenes Leben
Und dann Einäscherung bei 1000 Grad: Hallgrímur Helgasons neue Heldin heißt Herbjörg
Man hatte es immer schon geahnt: Zyniker sind die größten Weicheier unter der Sonne, ihr fieses Kollern ist nichts als ein Schrei nach Liebe und Zärtlichkeit. Trotzdem sollte man die Mein-Panzer-hat-innen-Plüsch-Fraktion nicht voreilig abschreiben, denn es gibt schillernde, selbstironische Sprachspieler unter den Zynikern.
Die achtzigjährige Isländerin Herbjörg, Icherzählerin in Hallgrímur Helgasons Roman „Eine Frau bei 1000°“, ist da ein gutes Beispiel. Tausend Grad, das ist die Temperatur des Brennofens, den die todkranke Extremraucherin schon mal für sich gebucht hat. Bis zum Termin im Krematorium bleibt ihr noch ausreichend Zeit, Vergangenheit und Gegenwart mit sarkastischen Sprachbomben zu überziehen, lungenrasselnd in sich hineinzulachen und immer wieder bitterernste Kriegsgeschichten auszupacken. Die werden dann, stilistisch gesehen, zunehmend zum Problem und führen sogar an den Rand des Komplettabsturzes, eine Weile aber wird man gut unterhalten von diesem lässigen Runzelkrähensound.
„Ich lebe allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Wir haben es wahnsinnig gemütlich.“ So beginnt Herbjörg María Björnssons hohntriefendes Pendeln zwischen dem Island des Finanzcrashs und ihrer kriegszerstörten Kindheit. Mit dem Laptop treibt sie allerhand nerdigen Schabernack, von falschen Facebook-Profilen bis zu gehackten Email-Accounts der verhassten Schwiegertöchter. Daneben ist es die Handgranate, die der bettlägerigen Alten ein Fenster zur Welt öffnet, will sagen: einen Rückblick auf die eigene, haarsträubende Geschichte.
Ihr Vater hatte ihr die Handgranate 1942 im Hamburger Hauptbahnhof zur Selbstverteidigung mitgegeben. Was eine isländische Kleinfamilie im Dritten Reich zu suchen hat, erklärt sich durch die väterliche Führer-Faszination, die direkt in eine SS-Karriere mündet. Die kleine Herbjörg wird auf der Insel Amrum einquartiert, geht in den Kriegswirren verloren, taucht im Osten wieder auf, versteckt sich bei den Sorben, kommt in einer polnischen Waldhütte unter, wird vielfach vergewaltigt, schafft es zurück nach Island. Den Krieg als großen Seelenzerstörer hat sie natürlich nie verwunden, sie geht mit dem Nazi-Vater nach Argentinien und taumelt als junge Frau weiter durch die Weltgeschichte.
Der 52-jährige Hallgrímur Helgason wurde mit dem Roman „101 Reykjavik“ und dessen Verfilmung zur isländischen Berühmtheit; er ist auch als Maler, Comic-Zeichner oder Stand-up-Comedian bekannt und hat ein Faible für bizarre, dauerkalauernde Gestalten. Ähnlich wie die Geschichte des TV- und Porno-Junkies aus „101 Reykjavik“, war auch der Roman „Rokland“ eine ätzende Mediensatire; und die „Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen“ kreisten um einen kroatischen Killer, der als TV-Priester verkleidet auf Island strandet.
Dass in „Eine Frau bei 1000[?] “ eine weibliche Stimme spricht, ändert nicht wirklich etwas an der Gonzo-Tonlage; die eiserne Krähe zieht über Männer her und dreht damit den Spieß einfach um. Helgason schneidert ihr das Kostüm der robusten Diva, die nichts mehr schrecken kann; die ihr „eiskaltes, versalzenes Leben“ in tarantinohafte Komik verpacken will. Dass sie Björnsson heißt und nicht Björnsdottir, hängt mit ihrer Diplomatenfamilie zusammen. Im Ausland wurde ihr das männliche Björnsson verpasst, obwohl es auf Island eigentlich keine Nachnamen gibt. Herbjörgs Großvater Sveinn legt dabei die Spur von der Fiktion zur Realität: Der echte Sveinn Björnsson, erster isländischer Präsident nach der Unabhängigkeit von Dänemark, hatte tatsächlich einen Nazi-Sohn. In Island dürfte Helgasons Buch auch als Schlüsselroman funktionieren; für die Leser der Übersetzung ist viel wichtiger, wie Herbjörg die isländische Geschichte kommentiert und wie sie in einer Art Pumpgunballett mal über ihre wortkargen Landsleute herzieht, um sich dann wieder nach deren Grobklotzigkeit zu sehnen. Leider mutiert die Rolle der Ich-habe-alles-überlebt-Lady zu oft ins vorhersehbar Ekelhafte. Für die Leichenberge von Treblinka erfindet Helgason ein derart missglücktes Bild, dass man alle vorherigen Lacher am liebsten zurücknehmen möchte. Der Versuch, den monströsen Schrecken des Krieges mit sprachlicher Groteske zu bannen, hat eine lange Tradition; aber das literarische Manöver, Schrecken mit Zähnezeigen zu quittieren, kann ziemlich schnell schiefgehen.
Wenn man von den krassen Aussetzern absieht, bleibt „Eine Frau bei 1000 Grad“ aber ein angenehm übergeschnappter Roman. Helgasons Sprachwitze setzen auf plakative Verzerrung, und in der brillanten Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig klingt das so: „Durch die Straßen glitten langgestreckte Cadillackel wie exotische Wundertiere.“Überall scharwenzelt, kugelt, kichert, tuckert oder schnaubt etwas, die Sonnenuntergänge sind walrückig und die Isländer hackeblau. Vielleicht sind es solche Wörter, die den Roman dann doch wieder zum Funkeln bringen. JUTTA PERSON
Hallgrímur Helgason
Eine Frau bei 1000[?]
Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 400 Seiten, 19,95 Euro.
Was hat eine isländische
Kleinfamilie im
Dritten Reich zu suchen?
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Und dann Einäscherung bei 1000 Grad: Hallgrímur Helgasons neue Heldin heißt Herbjörg
Man hatte es immer schon geahnt: Zyniker sind die größten Weicheier unter der Sonne, ihr fieses Kollern ist nichts als ein Schrei nach Liebe und Zärtlichkeit. Trotzdem sollte man die Mein-Panzer-hat-innen-Plüsch-Fraktion nicht voreilig abschreiben, denn es gibt schillernde, selbstironische Sprachspieler unter den Zynikern.
Die achtzigjährige Isländerin Herbjörg, Icherzählerin in Hallgrímur Helgasons Roman „Eine Frau bei 1000°“, ist da ein gutes Beispiel. Tausend Grad, das ist die Temperatur des Brennofens, den die todkranke Extremraucherin schon mal für sich gebucht hat. Bis zum Termin im Krematorium bleibt ihr noch ausreichend Zeit, Vergangenheit und Gegenwart mit sarkastischen Sprachbomben zu überziehen, lungenrasselnd in sich hineinzulachen und immer wieder bitterernste Kriegsgeschichten auszupacken. Die werden dann, stilistisch gesehen, zunehmend zum Problem und führen sogar an den Rand des Komplettabsturzes, eine Weile aber wird man gut unterhalten von diesem lässigen Runzelkrähensound.
„Ich lebe allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Wir haben es wahnsinnig gemütlich.“ So beginnt Herbjörg María Björnssons hohntriefendes Pendeln zwischen dem Island des Finanzcrashs und ihrer kriegszerstörten Kindheit. Mit dem Laptop treibt sie allerhand nerdigen Schabernack, von falschen Facebook-Profilen bis zu gehackten Email-Accounts der verhassten Schwiegertöchter. Daneben ist es die Handgranate, die der bettlägerigen Alten ein Fenster zur Welt öffnet, will sagen: einen Rückblick auf die eigene, haarsträubende Geschichte.
Ihr Vater hatte ihr die Handgranate 1942 im Hamburger Hauptbahnhof zur Selbstverteidigung mitgegeben. Was eine isländische Kleinfamilie im Dritten Reich zu suchen hat, erklärt sich durch die väterliche Führer-Faszination, die direkt in eine SS-Karriere mündet. Die kleine Herbjörg wird auf der Insel Amrum einquartiert, geht in den Kriegswirren verloren, taucht im Osten wieder auf, versteckt sich bei den Sorben, kommt in einer polnischen Waldhütte unter, wird vielfach vergewaltigt, schafft es zurück nach Island. Den Krieg als großen Seelenzerstörer hat sie natürlich nie verwunden, sie geht mit dem Nazi-Vater nach Argentinien und taumelt als junge Frau weiter durch die Weltgeschichte.
Der 52-jährige Hallgrímur Helgason wurde mit dem Roman „101 Reykjavik“ und dessen Verfilmung zur isländischen Berühmtheit; er ist auch als Maler, Comic-Zeichner oder Stand-up-Comedian bekannt und hat ein Faible für bizarre, dauerkalauernde Gestalten. Ähnlich wie die Geschichte des TV- und Porno-Junkies aus „101 Reykjavik“, war auch der Roman „Rokland“ eine ätzende Mediensatire; und die „Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen“ kreisten um einen kroatischen Killer, der als TV-Priester verkleidet auf Island strandet.
Dass in „Eine Frau bei 1000[?] “ eine weibliche Stimme spricht, ändert nicht wirklich etwas an der Gonzo-Tonlage; die eiserne Krähe zieht über Männer her und dreht damit den Spieß einfach um. Helgason schneidert ihr das Kostüm der robusten Diva, die nichts mehr schrecken kann; die ihr „eiskaltes, versalzenes Leben“ in tarantinohafte Komik verpacken will. Dass sie Björnsson heißt und nicht Björnsdottir, hängt mit ihrer Diplomatenfamilie zusammen. Im Ausland wurde ihr das männliche Björnsson verpasst, obwohl es auf Island eigentlich keine Nachnamen gibt. Herbjörgs Großvater Sveinn legt dabei die Spur von der Fiktion zur Realität: Der echte Sveinn Björnsson, erster isländischer Präsident nach der Unabhängigkeit von Dänemark, hatte tatsächlich einen Nazi-Sohn. In Island dürfte Helgasons Buch auch als Schlüsselroman funktionieren; für die Leser der Übersetzung ist viel wichtiger, wie Herbjörg die isländische Geschichte kommentiert und wie sie in einer Art Pumpgunballett mal über ihre wortkargen Landsleute herzieht, um sich dann wieder nach deren Grobklotzigkeit zu sehnen. Leider mutiert die Rolle der Ich-habe-alles-überlebt-Lady zu oft ins vorhersehbar Ekelhafte. Für die Leichenberge von Treblinka erfindet Helgason ein derart missglücktes Bild, dass man alle vorherigen Lacher am liebsten zurücknehmen möchte. Der Versuch, den monströsen Schrecken des Krieges mit sprachlicher Groteske zu bannen, hat eine lange Tradition; aber das literarische Manöver, Schrecken mit Zähnezeigen zu quittieren, kann ziemlich schnell schiefgehen.
Wenn man von den krassen Aussetzern absieht, bleibt „Eine Frau bei 1000 Grad“ aber ein angenehm übergeschnappter Roman. Helgasons Sprachwitze setzen auf plakative Verzerrung, und in der brillanten Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig klingt das so: „Durch die Straßen glitten langgestreckte Cadillackel wie exotische Wundertiere.“Überall scharwenzelt, kugelt, kichert, tuckert oder schnaubt etwas, die Sonnenuntergänge sind walrückig und die Isländer hackeblau. Vielleicht sind es solche Wörter, die den Roman dann doch wieder zum Funkeln bringen. JUTTA PERSON
Hallgrímur Helgason
Eine Frau bei 1000[?]
Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 400 Seiten, 19,95 Euro.
Was hat eine isländische
Kleinfamilie im
Dritten Reich zu suchen?
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das ist genau der richtige Roman, um das moderne Island der letzten achtzig Jahre zu entdecken, meint Tilman Spreckelsen. Allerdings, so berichtet der Rezensent weiter, mute Hallgrimur Helgason dem Leser in "Eine Frau bei 1000 Grad" auch einiges zu. Mit angehaltenem Atem und meist entsetzt hat er die schmerzvolle Biografie der krebskranken Protagonistin gelesen, die vom Sterbebett aus auf ihr immer mit der Geschichte ihrer Nation verwobenes Leben zurückschaue. Dabei hat er in den chronologisch ungeordneten Erinnerungen erfahren, wie die Verwicklungen ihrer Familie in den Nationalsozialismus das Leben der hier erzählenden Enkelin des ersten Präsidenten von Island prägten oder welche bedeutende Rolle ihr Sohn beim isländischen Bankencrash spielte. Der Protagonistin, deren Stimme noch aus dem selbst organisierten Krematioriumsfeuer erklinge, ist der Rezensent schon aufgrund ihrer politisch nicht immer korrekten Ansichten eher distanziert begegnet, die Lektüre dieses fesselnden Romans kann er aber unbedingt empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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