Eine namenlose Frau erzählt von den letzten Tagen des Krieges im Frühjahr 1945 und dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin: Schonungslos offen und mit einem feinsinnigen Gespür für diese geschichtsträchtige, beispiellose Zeit berichtet die vielleicht 30-Jährige von Hunger, Ekel und Angst. Und von plündernden Soldaten, die sie - und unzählige andere Frauen - mit roher Gewalt vergewaltigen. Doch statt Selbstmitleid oder Hass wächst in der jungen Frau ein unerschütterlicher Überlebenswille heran ...
"Das unglaubliche Sprachgefühl, der Sinn für Pointen, der unprätentiöse Gebrauch von Bildung, die genaue Beobachtungsgabe, die Dichte der Beschreibung, der intellektuelle Feinsinn, das klare Urteil - man möchte nicht aufhören, dieses Buch zu loben und für seine Lektüre zu werben."
(Hanna Leitgeb in Literaturen)
"'Eine Frau in Berlin' ist ein unglaubliches Buch. Wer das Alphabet gelernt hat, darf und muss es jetzt lesen!"
(Renée Zucker in der taz)
"Ein menschlich berührendes und literarisch gewichtiges Dokument - und eine späte, überfällige Entdeckung."
(Joachim Kronsbein in Der Spiegel)
(Hanna Leitgeb in Literaturen)
"'Eine Frau in Berlin' ist ein unglaubliches Buch. Wer das Alphabet gelernt hat, darf und muss es jetzt lesen!"
(Renée Zucker in der taz)
"Ein menschlich berührendes und literarisch gewichtiges Dokument - und eine späte, überfällige Entdeckung."
(Joachim Kronsbein in Der Spiegel)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2003Wenn weiter gelebt werden muß, geht es auch in der Erstarrung
Mehr als nur eine Fußnote zum Untergang des Abendlandes: Das Tagebuch einer Unbekannten erzählt von den letzten Tagen des Krieges in Berlin
Es gibt eine Schlaflosigkeit, die einem das Gefühl gibt, sein Leben nur zu bewohnen, anstatt daran teilzuhaben. Eine Schlaflosigkeit, die tiefer sitzt als alle Wachträume. Wenn ein fremder Körper nebenan zu laut atmet, wenn jedes nächtliche Straßengeräusch einen auffahren läßt, wenn die Gedanken sich im Kreis wund gedreht haben. Wenn jede Sehne schmerzt vor Ruhelosigkeit, selbst das Haar weh tut und die Fußsohlen. Es ist eine Schlaflosigkeit, die gleichgültig wird, sobald der Morgen graut: Wieder eine Nacht überstanden.
Uhren, um die zermürbenden Stunden des Wachliegens zu zählen, gibt es im Mai 1945 in Berlin kaum noch. Der Frau, die nach Tagen der Schlaflosigkeit erleichtert einen kurzen, "brunnentiefen" Schlummer im Tagebuch notiert, ist es gleich; Hauptsache, sie weiß, welches Datum es ist. Sie beginnt ihre Chronik am Tag, "als Berlin zum ersten Mal der Schlacht ins Auge sah". Es ist Freitag, der 20. April 1945, Hitlers sechsundfünfzigster und letzter Geburtstag. In seinem Buch "Berlin 1945" schreibt Anthony Beevor: "Für viele der Gratulanten wirkte Hitler um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Sie drängten den ,Führer', sich nach Bayern abzusetzen. Aber Hitler erklärte im Brustton der Überzeugung, die Russen erwarte vor Berlin ihre blutigste Niederlage."
Noch ist die Rote Armee nicht über die Stadt hereingebrochen. Illusionen macht die junge Frau sich nicht: "Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz." Statt Eßbarem findet sie auf ihrem Beutezug durch eine fremde Wohnung einen Liebesbrief: "Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Was für ferne, fremde Wörter. Offenbar setzt ein verfeinertes, wählerisches Liebesleben regelmäßige, ausreichende Mahlzeiten voraus. Mein Zentrum ist, während ich dies schreibe, der Bauch. Alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt beim Essen." Der "Hungerwahnsinn", wie sie es nennt, hat längst begonnen. Doch es verlangt sie noch nach einer anderen Nahrung: "Schade, daß ich darüber nicht in Hamsuns Roman ,Hunger' nachlesen kann."
Die Frau, die dies in bemerkenswert lakonischem, unsentimentalem, geradezu professionellem Ton niederschreibt, ist Anfang Dreißig. Ihren Namen kennen wir nicht, erfahren wenig über die Zeit vor oder gar nach ihren Tagebuchaufzeichnungen. Als sie ihre Notate aufnimmt, hat die Ausgebombte gerade die leerstehende Dachwohnung eines Bekannten bezogen, irgendwo im Niemandsland eines Ost-Berliner Stadtteils. Wo und wie sie die Kriegsjahre zugebracht hat, teilt sie nicht mit, nur, daß es den Freund Gerd an der Front gibt, daß sie Europa bereist hat, im Gepäck Kamera und Zeichenblock, daß sie mehrere Sprachen spricht, auch Russisch: Eine Fähigkeit, die sie heraushebt, als die Sowjetsoldaten Berlin überschwemmen.
Rasch wird sie zur Dolmetscherin, notgedrungen auch zur Vermittlerin zwischen Nachbarn und Besatzern. Das Grauen ersparen die Sprachkenntnisse ihr aber nicht, im Gegenteil: Gerade weil die Frau sie versteht, weichen die Männer ihr nicht von der Seite, mancher spricht von Liebe, die meisten erzählen von ihren Familien daheim. Aus der dumpfen Masse der plündernden, vergewaltigenden Soldaten treten Männer mit Namen und Geschichten hervor. Die Bekanntschaft mit dem Feind macht seine Vergehen nicht besser, aber doch verständlicher und damit erträglicher. "Homo homini lupus", stellt sie immer wieder fest. Und zieht ihre eigene Lehre daraus: "Hier muß ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich kriegen kann. Wozu habe ich meinen Grips und mein bißchen Kenntnis der Feindsprache?" Von den daheim gebliebenen Männern, das erfahren die Berlinerinnen rasch, ist keine Hilfe zu erwarten. "In der Pumpenschlange erzählt eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: ,Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!' Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes."
Die Anonyma notiert, was der Tag gebracht hat, meist buchstäblich zwischen Tür und Angel. "Bloß privates Gekritzel" wimmelt sie neugierige Fragen im Luftschutzkeller ab. Sie schreibt alles auf: Bombenalarm, Nahrungsbeschaffung, Wetter, Schlangestehen, Kellergespräche, Zwangsarbeit, Selbstmorde und, immer wieder, Vergewaltigungen, kurz: "Schdg.". Als Gerd von der Front zurückkehrt und sie ihm die Aufzeichnungen zu lesen gibt, fragt er sie nach der Bedeutung der Abkürzung. "Ich mußte lachen: ,Na, doch natürlich Schändung.' Er sah mich an, als ob ich verrückt sei, sagte nichts mehr." Und geht - eine Flucht ins Schweigen, welche die Reaktion späterer Jahrzehnte vorwegnimmt.
Was die Autorin in drei Schulheften und auf losen Zetteln aufschreibt, ist zunächst ein wildes Gemisch aus Kurzschrift, Abkürzungen und Andeutungen, das sie erst einige Wochen später, im Juli 1945, beim Abschreiben auf der Maschine ausformuliert und wohl auch um nachträgliche Beobachtungen und Gedanken ergänzt hat. Auf grauem Kriegspapier seien so 121 engzeilige Manuskriptseiten entstanden, vermerkt das namentlich ebenfalls nicht gekennzeichnete Vorwort. Nach Kriegsende gab die Autorin ihr Tagebuch Bekannten zu lesen, darunter dem Schriftsteller Kurt W. Marek, der als C. W. Ceram mit seinem Archäologie-Bestseller "Götter, Gräber und Gelehrte" bekannt wurde. Marek überredet sie, einer Veröffentlichung zuzustimmen. Sie willigt ein, will ihre Identität jedoch keinesfalls aufdecken: Erst die Anonymität der Verfasserin ließ jene Offenheit zu, die dieses Buch zu einem außerordentlichen historischen und literarischen Dokument macht. Im Jahr 1954 erscheint "A Woman in Berlin" zunächst in den Vereinigten Staaten, Übersetzungen in acht weiteren Sprachen folgen. 1959 publiziert der Schweizer Verlag Kossodo eine deutsche Ausgabe. Mitten im Kalten Krieg bleibt das Buch unbeachtet. Kurz vor ihrem Tod hat die Autorin das Manuskript nochmals durchgesehen und einige Veränderungen vorgenommen. Auf dieser Version beruht die jetzt in der Anderen Bibliothek erschienene Ausgabe.
Leid muß, selbst wenn es ein Kollektiv trifft, individuell erfahren und bewältigt werden. Die Erinnerung läßt sich leichter teilen. Der Frau in Berlin dient ihr Tagebuch zur Selbstvergewisserung, sie schreibt, um zu spüren, daß sie noch Mensch ist in all der Barbarei, auch, um die "zeitlose Zeit zu fixieren". Sie moralisiert und urteilt nicht, versucht eher, sich zu betäuben: "Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte." Das Grauen muß benannt werden, um den Horror auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Unter den Frauen wird die Frage nach dem "Wie oft?" obligatorisch, um ins Gespräch zu kommen.
Der Trieb, der sie am Leben erhält, ist der Hunger: Für eine anständige Mahlzeit nimmt sie sogar russische Gesellschaft in Kauf. Doch auch die Müdigkeit hat sie in ihrem paralysierenden Griff. Endlich: der 8. Mai. Die Russen ziehen ab. Endlich trommelt niemand mehr den "Hausdactylus" an die Tür. Es gibt Brot. Zurück in die Zivilisation durch Großreinemachen, sogar die Teppichfransen werden mit dem Kamm geglättet. Das Schönste: "Zum ersten Mal allein zwischen meinen Laken seit dem 27. April." So schreibt sie sich den "Wirrsinn aus Kopf und Herz", beobachtet die Menschen um sich herum, alle "hohläugig, grünbleich, übernächtigt" wie sie selbst. Im Überlebenskampf ist keine Zeit für komplizierte Beschreibungen. Stichworte müssen ausreichen, um Menschen auf den Punkt zu bringen. Da ist die Witwe, der Major, die Likörfabrikantin, der Wiener. Mit dem Nachkriegsalltag lösen sich alle Notgemeinschaften auf: "Man kann einander jetzt nicht helfen." Zwischen den Trümmern ist noch lange keine Zeit für ein Seelenleben.
Es ist müßig, dieses ungeheuerliche Buch mit anderen Aufzeichnungen jener Zeit, etwa den Berliner Tagebüchern von Marie Wassiltschikow und Ruth Andreas-Friedrich oder Margret Boveris "Tagen des Überlebens", zu vergleichen: Es ist einzigartig. Vielmehr wünscht man der "Frau in Berlin" eine breite Aufmerksamkeit, wie sie Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" und Jörg Friedrichs Bombenkriegsstudie "Der Brand" zuteil geworden ist.
Anonyma: "Eine Frau in Berlin". Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003. 291 S., geb., 27,50 [Euro].
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Mehr als nur eine Fußnote zum Untergang des Abendlandes: Das Tagebuch einer Unbekannten erzählt von den letzten Tagen des Krieges in Berlin
Es gibt eine Schlaflosigkeit, die einem das Gefühl gibt, sein Leben nur zu bewohnen, anstatt daran teilzuhaben. Eine Schlaflosigkeit, die tiefer sitzt als alle Wachträume. Wenn ein fremder Körper nebenan zu laut atmet, wenn jedes nächtliche Straßengeräusch einen auffahren läßt, wenn die Gedanken sich im Kreis wund gedreht haben. Wenn jede Sehne schmerzt vor Ruhelosigkeit, selbst das Haar weh tut und die Fußsohlen. Es ist eine Schlaflosigkeit, die gleichgültig wird, sobald der Morgen graut: Wieder eine Nacht überstanden.
Uhren, um die zermürbenden Stunden des Wachliegens zu zählen, gibt es im Mai 1945 in Berlin kaum noch. Der Frau, die nach Tagen der Schlaflosigkeit erleichtert einen kurzen, "brunnentiefen" Schlummer im Tagebuch notiert, ist es gleich; Hauptsache, sie weiß, welches Datum es ist. Sie beginnt ihre Chronik am Tag, "als Berlin zum ersten Mal der Schlacht ins Auge sah". Es ist Freitag, der 20. April 1945, Hitlers sechsundfünfzigster und letzter Geburtstag. In seinem Buch "Berlin 1945" schreibt Anthony Beevor: "Für viele der Gratulanten wirkte Hitler um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Sie drängten den ,Führer', sich nach Bayern abzusetzen. Aber Hitler erklärte im Brustton der Überzeugung, die Russen erwarte vor Berlin ihre blutigste Niederlage."
Noch ist die Rote Armee nicht über die Stadt hereingebrochen. Illusionen macht die junge Frau sich nicht: "Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz." Statt Eßbarem findet sie auf ihrem Beutezug durch eine fremde Wohnung einen Liebesbrief: "Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Was für ferne, fremde Wörter. Offenbar setzt ein verfeinertes, wählerisches Liebesleben regelmäßige, ausreichende Mahlzeiten voraus. Mein Zentrum ist, während ich dies schreibe, der Bauch. Alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt beim Essen." Der "Hungerwahnsinn", wie sie es nennt, hat längst begonnen. Doch es verlangt sie noch nach einer anderen Nahrung: "Schade, daß ich darüber nicht in Hamsuns Roman ,Hunger' nachlesen kann."
Die Frau, die dies in bemerkenswert lakonischem, unsentimentalem, geradezu professionellem Ton niederschreibt, ist Anfang Dreißig. Ihren Namen kennen wir nicht, erfahren wenig über die Zeit vor oder gar nach ihren Tagebuchaufzeichnungen. Als sie ihre Notate aufnimmt, hat die Ausgebombte gerade die leerstehende Dachwohnung eines Bekannten bezogen, irgendwo im Niemandsland eines Ost-Berliner Stadtteils. Wo und wie sie die Kriegsjahre zugebracht hat, teilt sie nicht mit, nur, daß es den Freund Gerd an der Front gibt, daß sie Europa bereist hat, im Gepäck Kamera und Zeichenblock, daß sie mehrere Sprachen spricht, auch Russisch: Eine Fähigkeit, die sie heraushebt, als die Sowjetsoldaten Berlin überschwemmen.
Rasch wird sie zur Dolmetscherin, notgedrungen auch zur Vermittlerin zwischen Nachbarn und Besatzern. Das Grauen ersparen die Sprachkenntnisse ihr aber nicht, im Gegenteil: Gerade weil die Frau sie versteht, weichen die Männer ihr nicht von der Seite, mancher spricht von Liebe, die meisten erzählen von ihren Familien daheim. Aus der dumpfen Masse der plündernden, vergewaltigenden Soldaten treten Männer mit Namen und Geschichten hervor. Die Bekanntschaft mit dem Feind macht seine Vergehen nicht besser, aber doch verständlicher und damit erträglicher. "Homo homini lupus", stellt sie immer wieder fest. Und zieht ihre eigene Lehre daraus: "Hier muß ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich kriegen kann. Wozu habe ich meinen Grips und mein bißchen Kenntnis der Feindsprache?" Von den daheim gebliebenen Männern, das erfahren die Berlinerinnen rasch, ist keine Hilfe zu erwarten. "In der Pumpenschlange erzählt eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: ,Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!' Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes."
Die Anonyma notiert, was der Tag gebracht hat, meist buchstäblich zwischen Tür und Angel. "Bloß privates Gekritzel" wimmelt sie neugierige Fragen im Luftschutzkeller ab. Sie schreibt alles auf: Bombenalarm, Nahrungsbeschaffung, Wetter, Schlangestehen, Kellergespräche, Zwangsarbeit, Selbstmorde und, immer wieder, Vergewaltigungen, kurz: "Schdg.". Als Gerd von der Front zurückkehrt und sie ihm die Aufzeichnungen zu lesen gibt, fragt er sie nach der Bedeutung der Abkürzung. "Ich mußte lachen: ,Na, doch natürlich Schändung.' Er sah mich an, als ob ich verrückt sei, sagte nichts mehr." Und geht - eine Flucht ins Schweigen, welche die Reaktion späterer Jahrzehnte vorwegnimmt.
Was die Autorin in drei Schulheften und auf losen Zetteln aufschreibt, ist zunächst ein wildes Gemisch aus Kurzschrift, Abkürzungen und Andeutungen, das sie erst einige Wochen später, im Juli 1945, beim Abschreiben auf der Maschine ausformuliert und wohl auch um nachträgliche Beobachtungen und Gedanken ergänzt hat. Auf grauem Kriegspapier seien so 121 engzeilige Manuskriptseiten entstanden, vermerkt das namentlich ebenfalls nicht gekennzeichnete Vorwort. Nach Kriegsende gab die Autorin ihr Tagebuch Bekannten zu lesen, darunter dem Schriftsteller Kurt W. Marek, der als C. W. Ceram mit seinem Archäologie-Bestseller "Götter, Gräber und Gelehrte" bekannt wurde. Marek überredet sie, einer Veröffentlichung zuzustimmen. Sie willigt ein, will ihre Identität jedoch keinesfalls aufdecken: Erst die Anonymität der Verfasserin ließ jene Offenheit zu, die dieses Buch zu einem außerordentlichen historischen und literarischen Dokument macht. Im Jahr 1954 erscheint "A Woman in Berlin" zunächst in den Vereinigten Staaten, Übersetzungen in acht weiteren Sprachen folgen. 1959 publiziert der Schweizer Verlag Kossodo eine deutsche Ausgabe. Mitten im Kalten Krieg bleibt das Buch unbeachtet. Kurz vor ihrem Tod hat die Autorin das Manuskript nochmals durchgesehen und einige Veränderungen vorgenommen. Auf dieser Version beruht die jetzt in der Anderen Bibliothek erschienene Ausgabe.
Leid muß, selbst wenn es ein Kollektiv trifft, individuell erfahren und bewältigt werden. Die Erinnerung läßt sich leichter teilen. Der Frau in Berlin dient ihr Tagebuch zur Selbstvergewisserung, sie schreibt, um zu spüren, daß sie noch Mensch ist in all der Barbarei, auch, um die "zeitlose Zeit zu fixieren". Sie moralisiert und urteilt nicht, versucht eher, sich zu betäuben: "Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte." Das Grauen muß benannt werden, um den Horror auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Unter den Frauen wird die Frage nach dem "Wie oft?" obligatorisch, um ins Gespräch zu kommen.
Der Trieb, der sie am Leben erhält, ist der Hunger: Für eine anständige Mahlzeit nimmt sie sogar russische Gesellschaft in Kauf. Doch auch die Müdigkeit hat sie in ihrem paralysierenden Griff. Endlich: der 8. Mai. Die Russen ziehen ab. Endlich trommelt niemand mehr den "Hausdactylus" an die Tür. Es gibt Brot. Zurück in die Zivilisation durch Großreinemachen, sogar die Teppichfransen werden mit dem Kamm geglättet. Das Schönste: "Zum ersten Mal allein zwischen meinen Laken seit dem 27. April." So schreibt sie sich den "Wirrsinn aus Kopf und Herz", beobachtet die Menschen um sich herum, alle "hohläugig, grünbleich, übernächtigt" wie sie selbst. Im Überlebenskampf ist keine Zeit für komplizierte Beschreibungen. Stichworte müssen ausreichen, um Menschen auf den Punkt zu bringen. Da ist die Witwe, der Major, die Likörfabrikantin, der Wiener. Mit dem Nachkriegsalltag lösen sich alle Notgemeinschaften auf: "Man kann einander jetzt nicht helfen." Zwischen den Trümmern ist noch lange keine Zeit für ein Seelenleben.
Es ist müßig, dieses ungeheuerliche Buch mit anderen Aufzeichnungen jener Zeit, etwa den Berliner Tagebüchern von Marie Wassiltschikow und Ruth Andreas-Friedrich oder Margret Boveris "Tagen des Überlebens", zu vergleichen: Es ist einzigartig. Vielmehr wünscht man der "Frau in Berlin" eine breite Aufmerksamkeit, wie sie Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" und Jörg Friedrichs Bombenkriegsstudie "Der Brand" zuteil geworden ist.
Anonyma: "Eine Frau in Berlin". Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003. 291 S., geb., 27,50 [Euro].
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