Nobelpreis für Literatur 2022
Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 schreibt Annie Ernaux ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war.
Das Leben ihrer Mutter: geboren um die Jahrhundertwende in der Normandie, Arbeiterin, dann Ladenbesitzerin, Ehefrau, zweifache Mutter, lebenslustig und offen, Körper und Geist werden später langsam durch Alzheimer zerstört. Das Ende war für die Tochter vorauszusehen, die Wirklichkeit des Todes scheint indessen kaum erträglich. Zeit ihres Lebens kämpfte die Mutter darum, ihren sozialen Status zu erhalten, ihn vielleicht sogar zu überwinden. Erst der Tochter wird dies gelingen, eine Distanz zwischen den beiden entsteht. Auch darauf blickt Annie Ernaux zurück, voller Zärtlichkeit und Abscheu und Schuldgefühl.
Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 schreibt Annie Ernaux ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war.
Das Leben ihrer Mutter: geboren um die Jahrhundertwende in der Normandie, Arbeiterin, dann Ladenbesitzerin, Ehefrau, zweifache Mutter, lebenslustig und offen, Körper und Geist werden später langsam durch Alzheimer zerstört. Das Ende war für die Tochter vorauszusehen, die Wirklichkeit des Todes scheint indessen kaum erträglich. Zeit ihres Lebens kämpfte die Mutter darum, ihren sozialen Status zu erhalten, ihn vielleicht sogar zu überwinden. Erst der Tochter wird dies gelingen, eine Distanz zwischen den beiden entsteht. Auch darauf blickt Annie Ernaux zurück, voller Zärtlichkeit und Abscheu und Schuldgefühl.
»Keine kann die biografische Analyse so sensibel wie Annie Ernaux.« Antonia Groß Berliner Zeitung 20220705
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2019Am Beispiel der Mutter
Entlarvend und zärtlich zugleich: In "Eine Frau" erzählt Annie Ernaux über ihre Herkunftsgefühle.
Von Sandra Kegel
Das ist mutig, über die eigene Mutter zu schreiben, die erst wenige Tage zuvor gestorben ist. Nicht abzuwarten, bis sich der erste große Schmerz gelegt hat und Abstand gewonnen ist, sondern mitten hineinzugehen in die Wunde, die sich nicht mehr schließen lässt. Die nunmehr Abwesende war für die Tochter immer ein Mensch ohne Geschichte, weil sie ja immer schon da war. Jetzt muss die Tochter sich zurechtfinden ohne den Schutz der Tapferen, die am Ende ihres Lebens so schwach geworden war. "Ich werde ihre Stimme nie mehr hören", schreibt Annie Ernaux: "Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren."
Annie Ernaux, 1940 in der Normandie geboren, gehört zu den wichtigsten Schriftstellerinnen Frankreichs. Ihr Werk in der deutschen Übersetzung von Sonja Finck sorgt aber inzwischen auch hierzulande für Aufsehen - wenn auch meist mit Abstand zu den Originalveröffentlichungen. Nach "Der Platz" über ihren Vater und "Erinnerung eines Mädchens" erscheint nun mit "Eine Frau" die Neuübersetzung eines in Frankreich bereits 1987 erschienenen Texts. Trotz dieser zeitlichen Distanz von mehr als dreißig Jahren hat die gerade einmal neunzig Seiten umfassende Ich-Erzählung ohne Genrebezeichnung nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Sie verhandelt Themen, die Annie Ernaux seit jeher beschäftigen, Herkunft, Aufbruch, Rückbesinnung, und für die sie auch damals schon diese so unverwechselbar schnörkellose und unsentimentale Sprache gefunden hatte.
Sie selbst nennt sich eine "Archäologin" in eigener Sache. Und in ihrem Versuch, in der Mutter jene Frau zu fassen zu bekommen, "die außerhalb von mir existiert hat", bewegt sie sich auf der Bruchkante von Familie und Gesellschaft. Der autofiktionale Text "Eine Frau" ist kein Roman, auch keine Biographie, sondern liegt irgendwo zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung.
Annie Ernaux' Mutter, die 1906 am Rande der normannischen Kleinstadt Yvetot geboren wurde und 1986 in der Geriatrie eines Pariser Vororts gestorben ist, in dem sie an Alzheimer erkrankt die letzten beiden Jahre ihres Lebens verbrachte, entstammte einfachen Verhältnissen. Der Vater war Fuhrmann, die Mutter Weberin, sie war das vierte von sechs Kindern. Mit zwölf Jahren verlässt sie die Schule, um in einer Margarinefabrik zu arbeiten, und fühlt sich als Arbeiterin den Land- und Dienstmädchen überlegen. Ihr größter Traum aber ist es, einen eigenen Laden zu eröffnen. Als sie 1928 heiratet, kann sie, getrieben vom Willen zum gesellschaftlichen Aufstieg, ihren Wunsch endlich verwirklichen.
Die Derbheit ihrer Herkunft wird sie zeit ihres Lebens nicht ablegen, die Armut aber durchaus. Ihren Laden führt sie allein, verhandelt mit Behörden und Lieferanten, bemüht sich, ein fehlerfreies Französisch zu sprechen. Vor allem aber tut sie alles dafür, dass es ihre Tochter Annie, die 1940 geboren wird, einmal besser haben wird als sie. Sie überhäuft das Kind mit Geschenken und Fürsorge, schickt es auf ein teures Pensionat: "Ihr größter Wunsch war es, mir alles zu geben, was sie selbst nicht gehabt hatte."
Als das umsorgte Kind älter wird und schließlich zum Studium nach Paris geht - "jetzt verkaufte sie von morgens bis abends Kartoffeln und Milch, damit ich in einer Vorlesung über Platon sitzen konnte" -, beginnt sich die Tochter ihrer Herkunft zu schämen. Immer ist ihr die Mutter ein bisschen zu laut, zu dick, zu vulgär. Neidvoll blickt Annie auf die kleinbürgerlichen Mütter ihrer Freundinnen, die anders als die eigene Mutter schlank und zurückhaltend waren und kochen konnten.
Scham wird für Annie Ernaux zum prägenden Gefühl jener Jahre, Scham für das Herkunftsmilieu, wie dies auch in den Büchern ihrer Landsleute Edouard Louis oder Didier Eribon manifest wird. Annie Ernaux hat als Kind ihre Mutter zu sehr bewundert, "um ihr jetzt nicht übelzunehmen, dass sie mich nicht unterstützen konnte".
Als die Tochter dann einen Studenten aus Bordeaux heiratet und sich das Paar mit seinen zwei Kindern fern der Normandie, in Annecy, niederlässt, ist sie endgültig angekommen in einer anderen Gesellschaftsschicht. Dort ist man zwar nicht unbedingt vermögend, aber man hat studiert und kann zu jedem Thema etwas Kluges anmerken, die Damen spielen Bridge miteinander. Annie Ernaux gelingt es in "Eine Frau", ihre Mutter gleichermaßen kompromisslos und zärtlich zu beschreiben, entlarvend und mitfühlend. Das lässt die ganze Ambivalenz dieser Mutter-Tochter-Beziehung greifbar werden, die sich im Laufe ihrer beiden Leben immer wieder neu sortiert hat.
Annie Ernaux: "Eine Frau".
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 88 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Entlarvend und zärtlich zugleich: In "Eine Frau" erzählt Annie Ernaux über ihre Herkunftsgefühle.
Von Sandra Kegel
Das ist mutig, über die eigene Mutter zu schreiben, die erst wenige Tage zuvor gestorben ist. Nicht abzuwarten, bis sich der erste große Schmerz gelegt hat und Abstand gewonnen ist, sondern mitten hineinzugehen in die Wunde, die sich nicht mehr schließen lässt. Die nunmehr Abwesende war für die Tochter immer ein Mensch ohne Geschichte, weil sie ja immer schon da war. Jetzt muss die Tochter sich zurechtfinden ohne den Schutz der Tapferen, die am Ende ihres Lebens so schwach geworden war. "Ich werde ihre Stimme nie mehr hören", schreibt Annie Ernaux: "Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren."
Annie Ernaux, 1940 in der Normandie geboren, gehört zu den wichtigsten Schriftstellerinnen Frankreichs. Ihr Werk in der deutschen Übersetzung von Sonja Finck sorgt aber inzwischen auch hierzulande für Aufsehen - wenn auch meist mit Abstand zu den Originalveröffentlichungen. Nach "Der Platz" über ihren Vater und "Erinnerung eines Mädchens" erscheint nun mit "Eine Frau" die Neuübersetzung eines in Frankreich bereits 1987 erschienenen Texts. Trotz dieser zeitlichen Distanz von mehr als dreißig Jahren hat die gerade einmal neunzig Seiten umfassende Ich-Erzählung ohne Genrebezeichnung nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Sie verhandelt Themen, die Annie Ernaux seit jeher beschäftigen, Herkunft, Aufbruch, Rückbesinnung, und für die sie auch damals schon diese so unverwechselbar schnörkellose und unsentimentale Sprache gefunden hatte.
Sie selbst nennt sich eine "Archäologin" in eigener Sache. Und in ihrem Versuch, in der Mutter jene Frau zu fassen zu bekommen, "die außerhalb von mir existiert hat", bewegt sie sich auf der Bruchkante von Familie und Gesellschaft. Der autofiktionale Text "Eine Frau" ist kein Roman, auch keine Biographie, sondern liegt irgendwo zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung.
Annie Ernaux' Mutter, die 1906 am Rande der normannischen Kleinstadt Yvetot geboren wurde und 1986 in der Geriatrie eines Pariser Vororts gestorben ist, in dem sie an Alzheimer erkrankt die letzten beiden Jahre ihres Lebens verbrachte, entstammte einfachen Verhältnissen. Der Vater war Fuhrmann, die Mutter Weberin, sie war das vierte von sechs Kindern. Mit zwölf Jahren verlässt sie die Schule, um in einer Margarinefabrik zu arbeiten, und fühlt sich als Arbeiterin den Land- und Dienstmädchen überlegen. Ihr größter Traum aber ist es, einen eigenen Laden zu eröffnen. Als sie 1928 heiratet, kann sie, getrieben vom Willen zum gesellschaftlichen Aufstieg, ihren Wunsch endlich verwirklichen.
Die Derbheit ihrer Herkunft wird sie zeit ihres Lebens nicht ablegen, die Armut aber durchaus. Ihren Laden führt sie allein, verhandelt mit Behörden und Lieferanten, bemüht sich, ein fehlerfreies Französisch zu sprechen. Vor allem aber tut sie alles dafür, dass es ihre Tochter Annie, die 1940 geboren wird, einmal besser haben wird als sie. Sie überhäuft das Kind mit Geschenken und Fürsorge, schickt es auf ein teures Pensionat: "Ihr größter Wunsch war es, mir alles zu geben, was sie selbst nicht gehabt hatte."
Als das umsorgte Kind älter wird und schließlich zum Studium nach Paris geht - "jetzt verkaufte sie von morgens bis abends Kartoffeln und Milch, damit ich in einer Vorlesung über Platon sitzen konnte" -, beginnt sich die Tochter ihrer Herkunft zu schämen. Immer ist ihr die Mutter ein bisschen zu laut, zu dick, zu vulgär. Neidvoll blickt Annie auf die kleinbürgerlichen Mütter ihrer Freundinnen, die anders als die eigene Mutter schlank und zurückhaltend waren und kochen konnten.
Scham wird für Annie Ernaux zum prägenden Gefühl jener Jahre, Scham für das Herkunftsmilieu, wie dies auch in den Büchern ihrer Landsleute Edouard Louis oder Didier Eribon manifest wird. Annie Ernaux hat als Kind ihre Mutter zu sehr bewundert, "um ihr jetzt nicht übelzunehmen, dass sie mich nicht unterstützen konnte".
Als die Tochter dann einen Studenten aus Bordeaux heiratet und sich das Paar mit seinen zwei Kindern fern der Normandie, in Annecy, niederlässt, ist sie endgültig angekommen in einer anderen Gesellschaftsschicht. Dort ist man zwar nicht unbedingt vermögend, aber man hat studiert und kann zu jedem Thema etwas Kluges anmerken, die Damen spielen Bridge miteinander. Annie Ernaux gelingt es in "Eine Frau", ihre Mutter gleichermaßen kompromisslos und zärtlich zu beschreiben, entlarvend und mitfühlend. Das lässt die ganze Ambivalenz dieser Mutter-Tochter-Beziehung greifbar werden, die sich im Laufe ihrer beiden Leben immer wieder neu sortiert hat.
Annie Ernaux: "Eine Frau".
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 88 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.12.2019Yvetot statt Combray
Mit den Mitteln der Literatur die eigene Mutter auf die Welt bringen:
Annie Ernaux’ autobiografische Feldstudie „Eine Frau“
VON HELMUT BÖTTIGER
Biografien wie die von Annie Ernaux gibt es auch in Deutschland. Umso erstaunlicher ist, dass das Problem, das sie ständig umkreist, anscheinend nur in Frankreich als ein solches benannt wird: Den sozialen Aufstieg durch Bildung empfindet man dort viel schneller als Verrat an der eigenen Herkunft, an der eigenen Klasse. Die 1940 geborene Annie Ernaux gehört der ersten Generation an, für die es möglich war, als Angehörige der Unterschicht zu studieren. Die Entfremdung, die daraus resultiert, die Entfremdung von den eigenen Eltern, von der eigenen Kindheit und den dort vermittelten Werten, scheint gerade im heutigen Frankreich äußerst virulent zu sein. Das lange als selbstverständlich vorausgesetzte Klassenbewusstsein hat sich mittlerweile aufgelöst. Wo man, selbst auf dem Land und in der entlegensten Provinz, lange kommunistisch wählte, gedeiht heute der Rechtsradikalismus.
Didier Eribon, der mit „Rückkehr nach Reims“ den zur Zeit empfindlichsten Punkt des intellektuellen französischen Selbstverständnisses getroffen hat, beruft sich programmatisch auf Ernaux. Sie hat die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft zu einem ureigenen Sujet gemacht, mit einer literarischen Sprache, die eine ganz spezifische Distanz erfasst und befragt. Das zeigt sich bereits im Titel des Buches. Er lautet „Eine Frau“, meint aber: Meine Mutter.
Selbst das Ureigenste scheint nicht sicher. Die Mutter, „die einzige Frau, die mir ernsthaft etwas bedeutet hat“, ist wie ein Untersuchungsgegenstand. Die Autorin nähert sich ihr wie mit einem weißen Kittel, der Unberührbarkeit und Neutralität signalisiert. Im Original 1987 erschienen, steht dieses Buch in einer Reihe mit den anderen, mittlerweile berühmt gewordenen autobiografischen Suchbewegungen von Annie Ernaux, wie „Der Platz“ oder „Die Jahre“, die sie als „Ethnologin ihrer selbst“ lange vor der aktuellen Aufladung ihrer Thematik geschrieben hat.
Man sollte sich vom schmalen Umfang auch dieses Buches nicht täuschen lassen. Es sind, bei aller vermeintlichen Schlichtheit, äußerst konzentrierte Sätze, bei denen vieles weggelassen wird und in denen jedes Wort schwer zu wiegen scheint. Das Bemühen um Neutralität wird umso deutlicher, je stärker Emotionen berührt werden. Der Text beginnt mit zögernden, sich vorantastenden Sätzen über die Beerdigung jener fremd gewordenen Frau, mit Szenen aus dem Langzeitpflegeheim und der Leichenhalle, in denen die wenigen wörtlich wiedergegebenen Zitate in direkter Rede grell herausstechen – sie sind die Realitätspartikel, die am meisten schmerzen. Dezidiert hält sich die Schreibende mit ihren eigenen Gefühlen zurück, das Buch wird zu einer Feldstudie ohne jegliches theoretische Vokabular.
Während der Text langsam entsteht, hat die Autorin „das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch auf die Welt zu bringen“. Das Verhältnis zwischen Leben und Literatur kehrt sich um. Allmählich erhält die Mutter Konturen, Schlaglichter erhellen den kleinen Aufstieg vom Fabrikmädchen zur Inhaberin eines bescheidenen Lebensmittelladens in einem Landstädtchen der Normandie, dem eine Kneipe angeschlossen ist.
Es geht um Armut, um Kargheit, um immer wiederkehrende Gesten und Sätze. Ernaux holt aus ihrem Gedächtnis in minutiöser Kleinarbeit charakteristische Details hervor, sie seziert die Vergangenheit. Genau beschworen werden die Kleider, die Verrichtungen im Haushalt, einzelne Wortfetzen. In der Familie wurde wenig gesprochen, es gab keinen Ausdruck für Gefühle, man lebte durch Rituale und Sehnsüchte. Zwischen Schlägen und Umarmungen lagen manchmal nur wenige Minuten. Und Sexualität gab es nicht. Als die Tochter zum ersten Mal ihre Regel bekam, hielt ihr die Mutter wortlos eine Monatsbinde hin, ohne zu erklären, wie man sie benutzt.
Die Mutter wollte in ihrer Jugend ein „anständiges Mädchen“ sein. Das war aber schon dadurch gefährdet, dass sie in einer Seilerei mit Männern zusammenarbeitete. Beständig vor Augen standen die Gefahren, die einer Arbeiterin drohten, wenn sie „sich gehen ließ“, wenn sie also rauchte, sich abends auf der Straße herumtrieb oder in schmutzigen Kleidern vor die Tür ging – die größte Angst war die, dass kein junger Mann „mit ernsten Absichten“ sie mehr wollte. Annie Ernaux setzt solche Partikel – „sich gehen lassen“, „mit ernsten Absichten“ – in Anführungsstriche, sie verdichten dadurch die Atmosphäre, evozieren das Lebensgefühl. Und eine beständige Bedrohung war der Alkohol: Einmal begegnete die Autorin in ihrer Kindheit zufällig auf der Straße ihrer Tante M., die eine Tasche voll leerer Flaschen schleppte, sie auf die Wangen küsste, aber dabei sofort ins Schwanken geriet und kein Wort sagen konnte: „Ich glaube, ich werde niemals so schreiben können, als hätte ich meine Tante an jenem Tag nicht getroffen.“
Überhaupt wechselt die Autorin gelegentlich unvermittelt vom Präteritum ins Präsens und reflektiert, was sie tut: „Mein Vorhaben ist literarischer Art, denn es geht darum, nach einer Wahrheit über meine Mutter zu suchen, die nur durch Worte gefunden werden kann.“ Zugleich will sie aber „unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt“. Manchmal ist die Spannung kaum mehr auszuhalten, die dadurch entsteht, dass es sich bei der beschriebenen Figur um ihre konkrete Mutter handelt. Die Autorin heiratet in „bessere Kreise“, beginnt ein arriviertes Leben in bürgerlichem Ambiente. Die Erwähnung ihrer Schwiegermutter birgt eine prägnante Skizze des französischen Bürgertums und kontrastiert schmerzhaft mit der Lebenswelt der Mutter.
Wenige Jahre nachdem ihr Mann gestorben ist, zieht die Mutter zu ihrer Tochter, und trotz aller Lebenszugewandtheit und Neugierde auch der neuen Umgebung gegenüber hinterlässt der Zusammenprall unterschiedlicher Vorstellungen eher Trostlosigkeit und Leere. Das liegt vor allem daran, dass die Ladenbesitzerin und gewinnende Verkäuferin schon früh gewisse Verhaltensweisen dieser „besseren Kreise“ abzuschauen versucht hatte. Die unfreiwillige Komik, die dadurch entstand, spürte sie nicht.
Manche Szenen dieses Buches berühren in ihrer starken allegorischen Kraft. Einmal wird beiläufig festgehalten, dass die Mutter, die sonst sehr bodenständig und zupackend ist, sich die Hände wäscht, bevor sie ein Buch anfasst. So bildet der unscheinbare Ort Yvetot in der Normandie, den Annie Ernaux immer wieder neu umkreist, in der französischen Literaturgeschichte mittlerweile einen programmatischen Widerpart zu Marcel Prousts Combray.
Annie Ernaux: Eine Frau. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 88 Seiten, 18 Euro.
Die ehemalige Verkäuferin will
sich die Verhaltensweisen der
„besseren Kreise“ abschauen
Wenige Jahre nachdem ihr
Mann gestorben ist, zieht
die Mutter zu ihrer Tochter
Man lebte durch Rituale und Sehnsüchte – Annie Ernaux seziert die Vergangenheit.
Foto: mauritius images
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit den Mitteln der Literatur die eigene Mutter auf die Welt bringen:
Annie Ernaux’ autobiografische Feldstudie „Eine Frau“
VON HELMUT BÖTTIGER
Biografien wie die von Annie Ernaux gibt es auch in Deutschland. Umso erstaunlicher ist, dass das Problem, das sie ständig umkreist, anscheinend nur in Frankreich als ein solches benannt wird: Den sozialen Aufstieg durch Bildung empfindet man dort viel schneller als Verrat an der eigenen Herkunft, an der eigenen Klasse. Die 1940 geborene Annie Ernaux gehört der ersten Generation an, für die es möglich war, als Angehörige der Unterschicht zu studieren. Die Entfremdung, die daraus resultiert, die Entfremdung von den eigenen Eltern, von der eigenen Kindheit und den dort vermittelten Werten, scheint gerade im heutigen Frankreich äußerst virulent zu sein. Das lange als selbstverständlich vorausgesetzte Klassenbewusstsein hat sich mittlerweile aufgelöst. Wo man, selbst auf dem Land und in der entlegensten Provinz, lange kommunistisch wählte, gedeiht heute der Rechtsradikalismus.
Didier Eribon, der mit „Rückkehr nach Reims“ den zur Zeit empfindlichsten Punkt des intellektuellen französischen Selbstverständnisses getroffen hat, beruft sich programmatisch auf Ernaux. Sie hat die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft zu einem ureigenen Sujet gemacht, mit einer literarischen Sprache, die eine ganz spezifische Distanz erfasst und befragt. Das zeigt sich bereits im Titel des Buches. Er lautet „Eine Frau“, meint aber: Meine Mutter.
Selbst das Ureigenste scheint nicht sicher. Die Mutter, „die einzige Frau, die mir ernsthaft etwas bedeutet hat“, ist wie ein Untersuchungsgegenstand. Die Autorin nähert sich ihr wie mit einem weißen Kittel, der Unberührbarkeit und Neutralität signalisiert. Im Original 1987 erschienen, steht dieses Buch in einer Reihe mit den anderen, mittlerweile berühmt gewordenen autobiografischen Suchbewegungen von Annie Ernaux, wie „Der Platz“ oder „Die Jahre“, die sie als „Ethnologin ihrer selbst“ lange vor der aktuellen Aufladung ihrer Thematik geschrieben hat.
Man sollte sich vom schmalen Umfang auch dieses Buches nicht täuschen lassen. Es sind, bei aller vermeintlichen Schlichtheit, äußerst konzentrierte Sätze, bei denen vieles weggelassen wird und in denen jedes Wort schwer zu wiegen scheint. Das Bemühen um Neutralität wird umso deutlicher, je stärker Emotionen berührt werden. Der Text beginnt mit zögernden, sich vorantastenden Sätzen über die Beerdigung jener fremd gewordenen Frau, mit Szenen aus dem Langzeitpflegeheim und der Leichenhalle, in denen die wenigen wörtlich wiedergegebenen Zitate in direkter Rede grell herausstechen – sie sind die Realitätspartikel, die am meisten schmerzen. Dezidiert hält sich die Schreibende mit ihren eigenen Gefühlen zurück, das Buch wird zu einer Feldstudie ohne jegliches theoretische Vokabular.
Während der Text langsam entsteht, hat die Autorin „das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch auf die Welt zu bringen“. Das Verhältnis zwischen Leben und Literatur kehrt sich um. Allmählich erhält die Mutter Konturen, Schlaglichter erhellen den kleinen Aufstieg vom Fabrikmädchen zur Inhaberin eines bescheidenen Lebensmittelladens in einem Landstädtchen der Normandie, dem eine Kneipe angeschlossen ist.
Es geht um Armut, um Kargheit, um immer wiederkehrende Gesten und Sätze. Ernaux holt aus ihrem Gedächtnis in minutiöser Kleinarbeit charakteristische Details hervor, sie seziert die Vergangenheit. Genau beschworen werden die Kleider, die Verrichtungen im Haushalt, einzelne Wortfetzen. In der Familie wurde wenig gesprochen, es gab keinen Ausdruck für Gefühle, man lebte durch Rituale und Sehnsüchte. Zwischen Schlägen und Umarmungen lagen manchmal nur wenige Minuten. Und Sexualität gab es nicht. Als die Tochter zum ersten Mal ihre Regel bekam, hielt ihr die Mutter wortlos eine Monatsbinde hin, ohne zu erklären, wie man sie benutzt.
Die Mutter wollte in ihrer Jugend ein „anständiges Mädchen“ sein. Das war aber schon dadurch gefährdet, dass sie in einer Seilerei mit Männern zusammenarbeitete. Beständig vor Augen standen die Gefahren, die einer Arbeiterin drohten, wenn sie „sich gehen ließ“, wenn sie also rauchte, sich abends auf der Straße herumtrieb oder in schmutzigen Kleidern vor die Tür ging – die größte Angst war die, dass kein junger Mann „mit ernsten Absichten“ sie mehr wollte. Annie Ernaux setzt solche Partikel – „sich gehen lassen“, „mit ernsten Absichten“ – in Anführungsstriche, sie verdichten dadurch die Atmosphäre, evozieren das Lebensgefühl. Und eine beständige Bedrohung war der Alkohol: Einmal begegnete die Autorin in ihrer Kindheit zufällig auf der Straße ihrer Tante M., die eine Tasche voll leerer Flaschen schleppte, sie auf die Wangen küsste, aber dabei sofort ins Schwanken geriet und kein Wort sagen konnte: „Ich glaube, ich werde niemals so schreiben können, als hätte ich meine Tante an jenem Tag nicht getroffen.“
Überhaupt wechselt die Autorin gelegentlich unvermittelt vom Präteritum ins Präsens und reflektiert, was sie tut: „Mein Vorhaben ist literarischer Art, denn es geht darum, nach einer Wahrheit über meine Mutter zu suchen, die nur durch Worte gefunden werden kann.“ Zugleich will sie aber „unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt“. Manchmal ist die Spannung kaum mehr auszuhalten, die dadurch entsteht, dass es sich bei der beschriebenen Figur um ihre konkrete Mutter handelt. Die Autorin heiratet in „bessere Kreise“, beginnt ein arriviertes Leben in bürgerlichem Ambiente. Die Erwähnung ihrer Schwiegermutter birgt eine prägnante Skizze des französischen Bürgertums und kontrastiert schmerzhaft mit der Lebenswelt der Mutter.
Wenige Jahre nachdem ihr Mann gestorben ist, zieht die Mutter zu ihrer Tochter, und trotz aller Lebenszugewandtheit und Neugierde auch der neuen Umgebung gegenüber hinterlässt der Zusammenprall unterschiedlicher Vorstellungen eher Trostlosigkeit und Leere. Das liegt vor allem daran, dass die Ladenbesitzerin und gewinnende Verkäuferin schon früh gewisse Verhaltensweisen dieser „besseren Kreise“ abzuschauen versucht hatte. Die unfreiwillige Komik, die dadurch entstand, spürte sie nicht.
Manche Szenen dieses Buches berühren in ihrer starken allegorischen Kraft. Einmal wird beiläufig festgehalten, dass die Mutter, die sonst sehr bodenständig und zupackend ist, sich die Hände wäscht, bevor sie ein Buch anfasst. So bildet der unscheinbare Ort Yvetot in der Normandie, den Annie Ernaux immer wieder neu umkreist, in der französischen Literaturgeschichte mittlerweile einen programmatischen Widerpart zu Marcel Prousts Combray.
Annie Ernaux: Eine Frau. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 88 Seiten, 18 Euro.
Die ehemalige Verkäuferin will
sich die Verhaltensweisen der
„besseren Kreise“ abschauen
Wenige Jahre nachdem ihr
Mann gestorben ist, zieht
die Mutter zu ihrer Tochter
Man lebte durch Rituale und Sehnsüchte – Annie Ernaux seziert die Vergangenheit.
Foto: mauritius images
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