Elisabeth Borchers, von Marcel Reich-Ranicki gerühmt als "Meisterin des Verschweigens, der irritierenden Stille", legt mit "Eine Geschichte auf Erden" einen Gedichtband vor, in den beunruhigende Erfahrungen eingegangen sind. Entstanden ist: ein Buch des Abschieds. Beharrlich und in immer neuen Anläufen versucht die Autorin einen Ort zu finden, an dem sich Klarheit über die eigene Existenz, über das Weiter nach einem Verlust gewinnen lässt.
Auf wundersame Weise gelingt es Elisabeth Borchers, die bedrängenden Beobachtungen und Reflexionen so zu verknappen, dass sie allesamt, je karger die Worte und Bilder ausfallen, um so intensiver wirken. In dieser Geschichte auf Erden ist nichts mehr märchenhaft im Ton, nichts mehr spielerisch leicht wie in früheren Gedichten der Autorin. Und jeder ihrer Texte hat die Kraft, einen Raum zu öffnen, in dem der Leser umgehend auf Eigenes stößt, sich lesend selbst erfährt.
Auf wundersame Weise gelingt es Elisabeth Borchers, die bedrängenden Beobachtungen und Reflexionen so zu verknappen, dass sie allesamt, je karger die Worte und Bilder ausfallen, um so intensiver wirken. In dieser Geschichte auf Erden ist nichts mehr märchenhaft im Ton, nichts mehr spielerisch leicht wie in früheren Gedichten der Autorin. Und jeder ihrer Texte hat die Kraft, einen Raum zu öffnen, in dem der Leser umgehend auf Eigenes stößt, sich lesend selbst erfährt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Rettende Katastrophen
Elisabeth Borchers bewahrt die Sehnsucht / Von Wulf Segebrecht
Im vergangenen Jahr, zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag, kamen endlich unter dem Titel "Alles redet, schweigt und ruft" die gesammelten Gedichte von Elisabeth Borchers heraus. Das war allerhöchste Zeit. Denn Rang und Bedeutung dieser Autorin, deren erster Gedichtband schon 1961 erschienen ist, standen zwar seit langem fest, doch der Weg, den Elisabeth Borchers als Lyrikerin gegangen ist, von den frühen surrealistischen, klangvollen Versen bis zur meisterhaften Lakonik der Gedichte des Bandes "Was ist die Antwort" (1998), den man als "ein Buch der existentiellen Bilanz" gelesen hat, war bis dahin in seinen einzelnen Stationen nur schwer erkennbar. Wer allerdings glaubte, auf diese Bilanz könne allenfalls noch eine ergänzende Variation des bisher Geleisteten folgen, den belehrt schon das erste Gedicht des neuen Bandes von Elisabeth Borchers gründlich eines anderen.
Denn eine unerhörte und erschreckende Radikalität der Verlusterfahrung und Orientierungslosigkeit eröffnet diesen Band: "Ich sitze hier wie krank, / wie allein, wie verlassen, / vergessen, unheilbar. / Aber ich kann doch nicht immer nur sterben" - so wird dieses Thema in dem resümierenden Gedicht intoniert, als Klage über Krankheit, Einsamkeit, Tod eines geliebten Du, über die Ausweglosigkeit und Kälte der Welt. In diesem Eröffnungsgedicht sind die Themen des ganzen Bandes enthalten, und diese geraten unweigerlich in den Sog des schmerzlichen Abschiednehmens. Dies - der ungeheure Schmerz und die Klage über die Vergänglichkeit und die Aussichtslosigkeit - ist der Grundton, die Grundlage des Ganzen. Das Eingangsgedicht müßte während der Lektüre dieses Gedichtbandes stets mitgelesen werden. Dann erst erscheint "Eine Geschichte auf Erden" illusionslos genug, um jeden Anschein eines leichtfertigen Trostes oder einer trotzigen "Und dennoch"-Reaktion strikt zu unterbinden: Kein Pathos regiert hier und kein Selbstmitleid, sondern ausschließlich die Macht der Wörter in ihrer (scheinbaren) Simplizität. "Wie klein und verständlich sind meine Wörter", wird einmal mit Verwunderung vermerkt, vielleicht auch mit Skepsis. Die vermeintlich kleinen Wörter sind hier der denkbar größten Belastungsprobe ausgesetzt; denn ihre karge Direktheit könnte fälschlicherweise bequeme Verständlichkeit signalisieren, als sei die große Welt ohne weiteres begreiflich mit Hilfe der kleinen Wörter.
Das ganz Kleine und das ganz Große rücken in den Versen von Elisabeth Borchers unvermittelt zueinander, wie in dem Gedicht "Die Ereignisse eines ereignislosen Tages auf La Collina", in dem die banalen Vordergründigkeiten ("Das besetzte Telefon") und die Letzten Dinge ("Das tragische Ende des Menschen") reihend in Registerform aufgelistet werden. Erst das anschließende Gedicht trägt den Kommentar nach: "Woran aber halte ich mich / in dieser Anhäufung / von Unzählbarem / von Möglichem und Wirklichem / Ich fahre an mir vorbei."
Es ist eine Fahrt ohne Ziel, ohne Rückversicherung und ohne Rückkehr. Die Zukunft: ungewiß ("Was weiß denn ich, wohin"); die Vergangenheit, das "Haus der Kindheit": besetzt. "Wer weiß, von wem es besetzt wird. Ich will es nicht wissen", heißt es, und auch eine Rückkehr nach Art des porträtierten "H. A." - womit Hans Arp gemeint sein dürfte - kommt für Elisabeth Borchers wohl kaum in Frage: Der nämlich kehrt zurück "zu den kleinen Blumen / den großen Sternen, / zum Flüstern der rauschenden / Brunnen".
Für sie gibt es weder den Trost der Bäume noch den der romantischen Kulisse. Jeder Ort ist ihr ein Ort, "der für den Schmerz geschaffen wurde". Unter dieser Prämisse allerdings nimmt sie zwei Wörter aus der universellen Apokalypse aus und hält sie als bewahrenswert fest: "Eines der Wörter, die wir groß schreiben müssen", und vor dessen "Allmacht" sich sogar die Bäume verneigen, heißt: Sehnsucht. Sehnsucht ist "die Scherbe aus heilen Zeiten", die von einer Griechenland-Reise aus der verlassenen Unterkunft eines Eremiten mitgenommen wird; und "sehnsüchtig" ist auch der Blick, den der lautespielende Engel von Melozzo da Forlí aus dem Blau des Himmels auf die Erde wirft. Das andere - richtiger: das erste und das letzte - Wort, das bei der Betrachtung des Tutench-amun-Kopfes aufgedeckt und aufbewahrt wird, heißt: Liebe. "Liebe / weil meine Katastrophen / Rettung sind", so die Begründung. Sie bezeugt ebenso verzweifelte Modernität wie sichere Klassizität.
Elisabeth Borchers: "Eine Geschichte auf Erden". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 72 S., geb., 15,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elisabeth Borchers bewahrt die Sehnsucht / Von Wulf Segebrecht
Im vergangenen Jahr, zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag, kamen endlich unter dem Titel "Alles redet, schweigt und ruft" die gesammelten Gedichte von Elisabeth Borchers heraus. Das war allerhöchste Zeit. Denn Rang und Bedeutung dieser Autorin, deren erster Gedichtband schon 1961 erschienen ist, standen zwar seit langem fest, doch der Weg, den Elisabeth Borchers als Lyrikerin gegangen ist, von den frühen surrealistischen, klangvollen Versen bis zur meisterhaften Lakonik der Gedichte des Bandes "Was ist die Antwort" (1998), den man als "ein Buch der existentiellen Bilanz" gelesen hat, war bis dahin in seinen einzelnen Stationen nur schwer erkennbar. Wer allerdings glaubte, auf diese Bilanz könne allenfalls noch eine ergänzende Variation des bisher Geleisteten folgen, den belehrt schon das erste Gedicht des neuen Bandes von Elisabeth Borchers gründlich eines anderen.
Denn eine unerhörte und erschreckende Radikalität der Verlusterfahrung und Orientierungslosigkeit eröffnet diesen Band: "Ich sitze hier wie krank, / wie allein, wie verlassen, / vergessen, unheilbar. / Aber ich kann doch nicht immer nur sterben" - so wird dieses Thema in dem resümierenden Gedicht intoniert, als Klage über Krankheit, Einsamkeit, Tod eines geliebten Du, über die Ausweglosigkeit und Kälte der Welt. In diesem Eröffnungsgedicht sind die Themen des ganzen Bandes enthalten, und diese geraten unweigerlich in den Sog des schmerzlichen Abschiednehmens. Dies - der ungeheure Schmerz und die Klage über die Vergänglichkeit und die Aussichtslosigkeit - ist der Grundton, die Grundlage des Ganzen. Das Eingangsgedicht müßte während der Lektüre dieses Gedichtbandes stets mitgelesen werden. Dann erst erscheint "Eine Geschichte auf Erden" illusionslos genug, um jeden Anschein eines leichtfertigen Trostes oder einer trotzigen "Und dennoch"-Reaktion strikt zu unterbinden: Kein Pathos regiert hier und kein Selbstmitleid, sondern ausschließlich die Macht der Wörter in ihrer (scheinbaren) Simplizität. "Wie klein und verständlich sind meine Wörter", wird einmal mit Verwunderung vermerkt, vielleicht auch mit Skepsis. Die vermeintlich kleinen Wörter sind hier der denkbar größten Belastungsprobe ausgesetzt; denn ihre karge Direktheit könnte fälschlicherweise bequeme Verständlichkeit signalisieren, als sei die große Welt ohne weiteres begreiflich mit Hilfe der kleinen Wörter.
Das ganz Kleine und das ganz Große rücken in den Versen von Elisabeth Borchers unvermittelt zueinander, wie in dem Gedicht "Die Ereignisse eines ereignislosen Tages auf La Collina", in dem die banalen Vordergründigkeiten ("Das besetzte Telefon") und die Letzten Dinge ("Das tragische Ende des Menschen") reihend in Registerform aufgelistet werden. Erst das anschließende Gedicht trägt den Kommentar nach: "Woran aber halte ich mich / in dieser Anhäufung / von Unzählbarem / von Möglichem und Wirklichem / Ich fahre an mir vorbei."
Es ist eine Fahrt ohne Ziel, ohne Rückversicherung und ohne Rückkehr. Die Zukunft: ungewiß ("Was weiß denn ich, wohin"); die Vergangenheit, das "Haus der Kindheit": besetzt. "Wer weiß, von wem es besetzt wird. Ich will es nicht wissen", heißt es, und auch eine Rückkehr nach Art des porträtierten "H. A." - womit Hans Arp gemeint sein dürfte - kommt für Elisabeth Borchers wohl kaum in Frage: Der nämlich kehrt zurück "zu den kleinen Blumen / den großen Sternen, / zum Flüstern der rauschenden / Brunnen".
Für sie gibt es weder den Trost der Bäume noch den der romantischen Kulisse. Jeder Ort ist ihr ein Ort, "der für den Schmerz geschaffen wurde". Unter dieser Prämisse allerdings nimmt sie zwei Wörter aus der universellen Apokalypse aus und hält sie als bewahrenswert fest: "Eines der Wörter, die wir groß schreiben müssen", und vor dessen "Allmacht" sich sogar die Bäume verneigen, heißt: Sehnsucht. Sehnsucht ist "die Scherbe aus heilen Zeiten", die von einer Griechenland-Reise aus der verlassenen Unterkunft eines Eremiten mitgenommen wird; und "sehnsüchtig" ist auch der Blick, den der lautespielende Engel von Melozzo da Forlí aus dem Blau des Himmels auf die Erde wirft. Das andere - richtiger: das erste und das letzte - Wort, das bei der Betrachtung des Tutench-amun-Kopfes aufgedeckt und aufbewahrt wird, heißt: Liebe. "Liebe / weil meine Katastrophen / Rettung sind", so die Begründung. Sie bezeugt ebenso verzweifelte Modernität wie sichere Klassizität.
Elisabeth Borchers: "Eine Geschichte auf Erden". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 72 S., geb., 15,-
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.04.2002Ein Engel treibt zur Eile
Echo der Psalmen: Elisabeth Borchers- neuer Gedichtband „Eine Geschichte auf Erden”
Vor knapp einem Jahr hat Arnold Stadler die Gesammelten Gedichte von Elisabeth Borchers herausgegeben. Der Auswahlband aus ihrer lyrischen Werk von den 60er Jahren bis in die späten 90er Jahre trug den Titel: „Alles redet, schweigt und ruft”. Das klingt irgendwie nach einem Psalmenvers.
Stadler selbst hat Psalmen ins Deutsche übertragen. Und gleich im ersten Gedicht von Elisabeth Borchers eben erschienenem Band mit fast fünfzig neuen Gedichten ist zu lesen: „Ich lese Psalmen / wiederhole die Lektüre / und kenne mich auswendig.” Mit ihrer Vorliebe zu kürzeren Gedichten möchte Borchers den Lesern immer auch eines sagen: In der Sprache der Lyrik gibt es viele Leerstellen, Gesagtes und Ungesagtes erschließen sich nur im Lesen und Wiederlesen. Man sollte Gedichte ein wenig „auswendig” kennen.
Der neue Band besteht neben einigen längeren vor allem aus kleineren Gedichten. Nimmt man ein so kurzes Gedicht wie „ICH WILL IHN HEBEN / den versunkenen Schatz” zur Hand und lässt sich durch den Kreuzreim dazu verleiten, laut und ein wenig mit Singstimme zu lesen, dann merkt man, wie stark Borchers Lyrik psalmodisch ist, ohne dabei verstaubt und altmodisch zu wirken. „Eine Geschichte auf Erden”, so der Titel des Ganzen, ist auch eine Sammlung moderner Klage-, Trost- und Dankpsalmen. Dieser verhaltene Lobgesang, der niemals ins Naive abrutscht, gilt all denen, die auf Erden Teil der Geschichte und der kleinen Geschichten sind.- „Dem Vogel der heute sang / dem Schnee der heute fiel / dem Gedicht das ich hörte / dem Mond der die Sonne überstrahlt / gilt dieses Gedicht”.
Im Zentrum steht nicht das lyrische Ich, sondern das „Gedicht” – ein Wort, doppelt gesetzt und doch nicht ein und dasselbe bezeichnend. Wie bei einem Psalmendichter gibt es auch bei Borchers das Wiederholen und Umschreiben von Gedanken oder Begriffen, wobei Wortfolgen ihre Bedeutung wie von selbst zu erweitern scheinen: „mein gewöhnliches Licht / mein ungewöhnliches Leuchten” heisst es an einer Stelle, an einer anderen: „Ich banne den Schmerz / verbanne ihn nicht”. Meisterlich beherrscht die Autorin das Spiel mit Alliterationen. Das Gedicht „Eines der Wörter, die wir groß schreiben müssen” ist fast schon – falls es das gibt! – ein ironischer Psalm. „Das groß zu schreibende Wort”, welches soll es denn sein? Sind es die „Schatten” und „Schiffe”, die „Berge” und „Bäume”, besteht die „Allmacht des Wortes” aus „Wolken” und „Wellen”? Doch die Natur und unsere Worte für sie sind längst „müde / vom Wandern und Warten. ”
Nicht nur durch Wiederholung und Umschreibung lassen sich Worte und Dinge fortschreiben, sondern auch dadurch, dass man sie aufzählt. In den längeren Gedichten erzählt Elisabeth Borchers von Kindheit und Gegenwart. Beide sind im Moment der Niederschrift Teil der Vergangenheit. „Die ermüdeten Augen” etwa notieren „Die Verschwiegenheit der Berge / Die Stille der Bäume und lärmenden Vögel”, und werden dann selbst Teil der lyrischen Aufzählung: „Die Müdigkeit der Augen im Abendwind”. Goethe und Celan sind im Gedicht als Namen da, auch „Der Abendhauch / Die Treulosigkeit” und „Das Zittern der Palmblätter”. Alles ist „Spiegelbild” und damit niemals ein und dasselbe. Aber woran sich halten „in dieser Anhäufung / von Unzählbarem / von Möglichem und Wirklichem”? Denn die Zeit schreitet im Erzählen unaufhaltsam voran, läutet „Das Ende des dritten Tages” ein. Gegen das Ende hilft kein Psalm – oder doch? Das Gedicht „Wenn um Mitternacht” besteht aus drei Strophen. Die erste handelt, kaum verhüllt, von den Dingen, die wir „die letzten” nennen. Die zweite ist ein einfaches Lied: „Kein Wolf kein Reh / still ruht der Schnee / Kein Du kein Ich / du hörst mich nicht / Der Himmel aber / bittet um eine Geschichte auf Erden / Uns soll sie werden.”
Der Psalmist kennt die Unglücksgeschichten der Irdischen und ihr himmlisches Flehen, er weiß, dass selbst die Nacht zum „Flutlicht der Sterne” zu zählen ist. Die dritte Strophe des Gedichts endet mit den Worten: „und ein Engel treibt zur Eile”. Immer wieder treten in den Gedichten von Elisabeth Borchers Engel auf. Sie tun dies ohne Posaunenschwall und eher beiläufig. Sie sind Schutzgeister und himmlische Souffleure in einem, die den Dichter „das letzte Wort” nicht finden lassen und sein Schweigen nicht annehmen. Sie sind daher auch Quälgeister. Sie treiben den Dichter zur Eile, weil in jener „Anhäufung von Unzählbarem” das Erzählbare kein Ende kennen soll. Gedichte sind niemals gesammelte, meinen sie. Sie meinen es, weil jedes Wort auch immer eines sein kann: „Licht, das durch die Wolken bricht.”
ANDREAS PUFF-TROJAN
ELISABETH BORCHERS: Eine Geschichte auf Erden. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 72 Seiten. 15 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Echo der Psalmen: Elisabeth Borchers- neuer Gedichtband „Eine Geschichte auf Erden”
Vor knapp einem Jahr hat Arnold Stadler die Gesammelten Gedichte von Elisabeth Borchers herausgegeben. Der Auswahlband aus ihrer lyrischen Werk von den 60er Jahren bis in die späten 90er Jahre trug den Titel: „Alles redet, schweigt und ruft”. Das klingt irgendwie nach einem Psalmenvers.
Stadler selbst hat Psalmen ins Deutsche übertragen. Und gleich im ersten Gedicht von Elisabeth Borchers eben erschienenem Band mit fast fünfzig neuen Gedichten ist zu lesen: „Ich lese Psalmen / wiederhole die Lektüre / und kenne mich auswendig.” Mit ihrer Vorliebe zu kürzeren Gedichten möchte Borchers den Lesern immer auch eines sagen: In der Sprache der Lyrik gibt es viele Leerstellen, Gesagtes und Ungesagtes erschließen sich nur im Lesen und Wiederlesen. Man sollte Gedichte ein wenig „auswendig” kennen.
Der neue Band besteht neben einigen längeren vor allem aus kleineren Gedichten. Nimmt man ein so kurzes Gedicht wie „ICH WILL IHN HEBEN / den versunkenen Schatz” zur Hand und lässt sich durch den Kreuzreim dazu verleiten, laut und ein wenig mit Singstimme zu lesen, dann merkt man, wie stark Borchers Lyrik psalmodisch ist, ohne dabei verstaubt und altmodisch zu wirken. „Eine Geschichte auf Erden”, so der Titel des Ganzen, ist auch eine Sammlung moderner Klage-, Trost- und Dankpsalmen. Dieser verhaltene Lobgesang, der niemals ins Naive abrutscht, gilt all denen, die auf Erden Teil der Geschichte und der kleinen Geschichten sind.- „Dem Vogel der heute sang / dem Schnee der heute fiel / dem Gedicht das ich hörte / dem Mond der die Sonne überstrahlt / gilt dieses Gedicht”.
Im Zentrum steht nicht das lyrische Ich, sondern das „Gedicht” – ein Wort, doppelt gesetzt und doch nicht ein und dasselbe bezeichnend. Wie bei einem Psalmendichter gibt es auch bei Borchers das Wiederholen und Umschreiben von Gedanken oder Begriffen, wobei Wortfolgen ihre Bedeutung wie von selbst zu erweitern scheinen: „mein gewöhnliches Licht / mein ungewöhnliches Leuchten” heisst es an einer Stelle, an einer anderen: „Ich banne den Schmerz / verbanne ihn nicht”. Meisterlich beherrscht die Autorin das Spiel mit Alliterationen. Das Gedicht „Eines der Wörter, die wir groß schreiben müssen” ist fast schon – falls es das gibt! – ein ironischer Psalm. „Das groß zu schreibende Wort”, welches soll es denn sein? Sind es die „Schatten” und „Schiffe”, die „Berge” und „Bäume”, besteht die „Allmacht des Wortes” aus „Wolken” und „Wellen”? Doch die Natur und unsere Worte für sie sind längst „müde / vom Wandern und Warten. ”
Nicht nur durch Wiederholung und Umschreibung lassen sich Worte und Dinge fortschreiben, sondern auch dadurch, dass man sie aufzählt. In den längeren Gedichten erzählt Elisabeth Borchers von Kindheit und Gegenwart. Beide sind im Moment der Niederschrift Teil der Vergangenheit. „Die ermüdeten Augen” etwa notieren „Die Verschwiegenheit der Berge / Die Stille der Bäume und lärmenden Vögel”, und werden dann selbst Teil der lyrischen Aufzählung: „Die Müdigkeit der Augen im Abendwind”. Goethe und Celan sind im Gedicht als Namen da, auch „Der Abendhauch / Die Treulosigkeit” und „Das Zittern der Palmblätter”. Alles ist „Spiegelbild” und damit niemals ein und dasselbe. Aber woran sich halten „in dieser Anhäufung / von Unzählbarem / von Möglichem und Wirklichem”? Denn die Zeit schreitet im Erzählen unaufhaltsam voran, läutet „Das Ende des dritten Tages” ein. Gegen das Ende hilft kein Psalm – oder doch? Das Gedicht „Wenn um Mitternacht” besteht aus drei Strophen. Die erste handelt, kaum verhüllt, von den Dingen, die wir „die letzten” nennen. Die zweite ist ein einfaches Lied: „Kein Wolf kein Reh / still ruht der Schnee / Kein Du kein Ich / du hörst mich nicht / Der Himmel aber / bittet um eine Geschichte auf Erden / Uns soll sie werden.”
Der Psalmist kennt die Unglücksgeschichten der Irdischen und ihr himmlisches Flehen, er weiß, dass selbst die Nacht zum „Flutlicht der Sterne” zu zählen ist. Die dritte Strophe des Gedichts endet mit den Worten: „und ein Engel treibt zur Eile”. Immer wieder treten in den Gedichten von Elisabeth Borchers Engel auf. Sie tun dies ohne Posaunenschwall und eher beiläufig. Sie sind Schutzgeister und himmlische Souffleure in einem, die den Dichter „das letzte Wort” nicht finden lassen und sein Schweigen nicht annehmen. Sie sind daher auch Quälgeister. Sie treiben den Dichter zur Eile, weil in jener „Anhäufung von Unzählbarem” das Erzählbare kein Ende kennen soll. Gedichte sind niemals gesammelte, meinen sie. Sie meinen es, weil jedes Wort auch immer eines sein kann: „Licht, das durch die Wolken bricht.”
ANDREAS PUFF-TROJAN
ELISABETH BORCHERS: Eine Geschichte auf Erden. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 72 Seiten. 15 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Anlässlich des 75. Geburtstages der Dichterin sind im vergangenen Jahr endlich die gesammelten Gedichte von Elisabeth Borchers erschienen: Wulf Segebrecht schienen sie bisher ein Endpunkt zu sein, Bilanz eines Lebens. Er habe sich getäuscht, meint er nun, denn im neuesten Band komme gleich im ersten Gedicht eine solche "Verlusterfahrung und Orientierungslosigkeit" zum Vorschein, wie er sie bisher von Borchers nie gehört oder gelesen hat. Diese ersten Verszeilen sollte man sich beim Lesen der übrigen immer wieder vergegenwärtigen, rät Segebrecht, erst dann werde man sich Borchers harter auswegloser Klage über die Vergänglichkeit, das Sterben der anderen, den eigenen Tod bewusst. "Ich kann doch nicht immer nur sterben", heißt die letzte Zeile des von Segebrecht zitierten Gedichts. Borchers Klage ist jedoch völlig klaglos, staunt der Rezensent, sie komme ohne Pathos und Selbstmitleid aus, sondern berufe sich auf die Macht der Sprache, derer sie sich in einer einfachen Art bediene. Aber Achtung, schnellt der Finger des Rezensenten hoch, man dürfe ihre klare Sprache nicht mit größerer Verständlichkeit gleichsetzen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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