Paul Biegels Erzählung vom tausendjährigen König Mansolin ist ein literarisches Meisterwerk für Groß und Klein: tief und umfassend angelegt und dabei alltäglich-einfach in den geschilderten Situationen, bald skurril, bald schaurig-schön, bald traurig und bald fröhlich.Der uralte König Mansolin lebt mit dem Hasen, seinem letzten Diener, von allen Untertanen vergessen in der kupfernen Burg. Nun wird er sterben, wenn er das heilende Schlüsselkraut nicht rechtzeitig bekommt. Während der Arzt sich auf den Weg macht, um das Kraut zu holen, kann Mansolin nur dadurch am Leben erhalten werden, dass man ihm Geschichten erzählt. Da erscheint täglich ein Tier mit einer Geschichte vor dem Burgtor - wird aber wirklich jeden Tag eines zur Stelle sein, bis das Schlüsselkraut da ist?Ein hervorragendes Vorlesebuch dieses preisgekrönten, äußerst vielseitigen niederländischen Autors.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Fridtjof Küchemann hat sich von Paul Biegels Kinderbuch "Eine Geschichte für den König" verzaubern lassen. In dem Buch, das erstmals im Jahre 1967 unter dem Titel "Das Schlüsselkraut" auf Deutsch veröffentlicht wurde, erzähle der niederländische Schriftsteller die Geschichte des tausend Jahre alten und kranken Königs Mansolin, dessen müdes Herz nur noch durch das Erzählen von spannenden Geschichten zum Schlagen bewegt werden kann. Und so begegnen dem Kritiker hier zahlreiche kuriose Gestalten, etwa Drachen, Zwerge, Wölfe und Käfer, die von aufregenden, aber vor allem auch von ergreifenden Erlebnissen aus ihrem Leben berichten. Der Rezensent lobt nicht nur Biegels Gabe, seine meisterhaften Geschichten mit erstaunlicher Leichtigkeit miteinander zu verbinden, sondern auch die "zeitlose" Sprache dieser geradezu "erhabenen" und "märchenhaften" Erzählungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2012Erzählen ist eine Angelegenheit des Herzens
Meisterlich: Paul Biegels Zunge entwaffnet den Tod
Vielleicht, sagt der Wunderdoktor dem Hasen und nimmt seine Gelehrtenbrille ab, vielleicht gibt es ja ein Mittel, das den alten König am Leben hält, ein Mittel für die Zwischenzeit, bis der Arzt hoch in den Norden geeilt ist, um das Schlüsselkraut zu finden, das des greisen Herrschers Herz aufziehen könne wie eine Uhr. Aber es ist kein Mittel, das man schlucken kann: "Das Herz des Königs muss einmal am Tag schnell schlagen, dann schafft er es vielleicht. Erzähl ihm jeden Tag eine spannende Geschichte, bevor er ins Bett geht."
Gut tausend Jahre schon regiert Mansolin in seiner kupfernen Burg, und aus "Tausendundeiner Nacht" kennen wir das Motiv des Erzählens um des Lebens willen, das der 2006 gestorbene niederländische Autor Paul Biegel in seinem zauberhaften Buch "Eine Geschichte für den König" aufgegriffen hat. Anders als Scheherazade jedoch geht es den Erzählern in dieser Geschichte nicht um das eigene Leben, und anders als die junge Frau aus der alten orientalischen Geschichtensammlung, die dem König an jedem Morgen eine weitere Nacht Aufschub ihres eigenen Todesurteils abgerungen hat, damit er ihrer Erzählung weiter zuhören könne, bleibt der Hase, letzter, treuster Diener Mansolins, auch nicht allein mit dieser Aufgabe: Der Wunderdoktor verspricht, jeden, den er auf seiner Reise trifft, zur Burg zu schicken, zum König, um ihm zu erzählen.
So klopft und kratzt und scharrt es am Burgtor, und wer dort alles Einlass begehrt, ist für ein Hasenherz schon Grund genug zum Stehenbleiben. Die Herzen sieben, acht Jahre alter Kinder indes lässt es höher schlagen: Ein furchterregender Wolf mit grünen Augen kommt als erster Gast, gefolgt von einem Eichhörnchen, einem Schaf, dessen Pelz dem Bart des Königs zum Verwechseln ähnlich sieht, von einem Drachen mit drei Köpfen, einem Löwen, einem Käfer und schließlich einem Zwerg. Sie alle erzählen eine Geschichte. Sie alle bleiben in der Burg mit ihren seltsamen Sälen und werden zu Zuhörern der späteren Gäste. Und sie alle bangen gemeinsam um das Leben König Mansolins.
Auf wie viele Arten mag das Herz eines Kindes schlagen, wenn es diese Geschichten hört? Es ist nicht jede einzelne von ihnen spannend, wie der Wunderdoktor es nahelegt, nicht spannend zumindest im heutigen Sinn, aber sie sind herzergreifend. Es sind rührende darunter, erstaunliche, regelrecht erhabene, die ihre nahezu klassisch märchenhafte Anmutung mit einer unbeschwerten, zeitlosen Sprache mischen, der man die bald fünfzig Jahre nicht anmerkt, vor denen sie geschrieben wurde, nicht einmal in der Übersetzung Lotte Schaukals, die auch schon in der deutschsprachigen Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1967 genannt wird. Damals hieß das Buch "Das Schlüsselkraut".
"Früher musste ich ... ich hatte früher ... ich sollte eigentlich ... ich meine: Ich hatte früher einen Hut", so hebt der Esel zu seiner Geschichte an und erzählt von seinem Strohhut, der auch der Eselin auf der Wiese nebenan so gut gefällt, dass sie ihn heiraten will. Doch beim Sprung über die steinerne Mauer kommen dem Ärmsten der Hut und damit die Gunst der Geliebten abhanden. Ein Käfer schafft es erst nicht über den Bach zu jenem Blütenbaum, in dem er sich zu wohnen wünscht, und dann nicht wieder zurück. Zwei Kaninchen machen sich auf die Suche nach dem Großen Rauschen, das sie über die Dünen hinweg hören, sehen schließlich das Meer und verlieren einander aus den Augen. Der Drache muss seine Flügel auf des Vaters Geheiß einer Hexe leihen, der sich dafür sieben Brunnen voller Bier hat zaubern lassen, für jeden Kopf einen, und der Junge schafft es erst nach Jahrhunderten und erst mit Menschenlist, sich der Gewalt der Hexe zu entziehen. Und der Zwerg bringt schließlich ganze vier Bücher zurück, die ein Zwergenherrscher einst von Mansolin geliehen hatte, vier Bücher, die er dem inzwischen wachsweißen König und seinem Gefolge vorliest, Bücher, in denen das Schicksal des Zwergenvolkes erzählt wird, ein junger Hirte auftaucht, der, in Zwergenweisheit erzogen, zu einem mächtigen Herrscher wird, und in denen außerdem eine Reihe von Weissagungen über das drohende Ende jenes Königs zu finden sind, in dem wir Leser längst den lebensmüden Mansolin erkennen.
Können die Geschichten das Herz des Königs heilen, das nur mehr tickt wie eine schiefstehende Uhr? Der Hase hält sein Ohr immer wieder unter den langen Bart des Herrschers und lauscht. Mal ist es besser geworden, mal nur nicht schlechter. Doch der König wird schwächer von Tag zu Tag, während der Wunderdoktor auf seiner Reise zum Schlüsselkraut und zurück sein eigenes Märchen erlebt, hilfreichen Tieren begegnet, in die Irre läuft, wertvolle Zeit verliert, gegen die Verzweiflung kämpft: Paul Biegel erzählt davon in wenigen kurzen, klaren Sätzen am Ende jedes Kapitels, in dessen Zentrum jeweils die Erzählung eines Gastes steht. Schließlich steht der Wunderdoktor wieder vor dem Burgtor. Und niemand hört sein Pochen.
Auch ein erschütternder Moment der Ausweglosigkeit fehlt nicht in Biegels Buch, jener Moment des Stillstands, in dem die Geschichte, unsere Hoffnung auf ein gutes Ende der Geschichte auf der Kippe steht. Bis der Autor sie mit verblüffender Leichtigkeit auffängt, als hätte er nie etwas anderes gemacht, als mit Geschichten zu jonglieren. Dabei hatte sich Paul Biegel, 1925 geboren, gerade erst mit Kinderbüchern zu befassen begonnen. Nach abgebrochenem Jurastudium und einem Aufenthalt in Amerika hatte er zunächst Comics geschrieben. "Het Sleutelkruid", 1964 erschienen, war sein zweites Kinderbuch. Die berühmte Trilogie "Der kleine Kapitän" folgte Anfang der siebziger Jahre.
"Es war wie ein Traum, die alten Geschichten wieder zu hören", sagt Mansolin dem Zwerg, als er schließlich gerettet wird. Und es ist wie ein Traum, den Geschichten zu folgen: wie sie sich die großen märchenhaften Themen - die Reise, die Prüfung, die Entscheidung, den Abschied - zuspielen, ohne sich zu wiederholen. Mit welcher Schwerelosigkeit der Autor sie in ihren Tonlagen erzählt. Wie sie bis in Vorausdeutungen und Figuren hinein aufeinander Bezug nehmen. Und dabei die Phantasie ihrer Leser nicht kanalisieren, sondern bezaubern.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Paul Biegel: "Eine Geschichte für den König".
Aus dem Niederländischen von Lotte Schaukal. Mit Bildern von Linde Faas. Verlag Urachhaus, Stuttgart 2012. 158 S., geb., 14,90. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Meisterlich: Paul Biegels Zunge entwaffnet den Tod
Vielleicht, sagt der Wunderdoktor dem Hasen und nimmt seine Gelehrtenbrille ab, vielleicht gibt es ja ein Mittel, das den alten König am Leben hält, ein Mittel für die Zwischenzeit, bis der Arzt hoch in den Norden geeilt ist, um das Schlüsselkraut zu finden, das des greisen Herrschers Herz aufziehen könne wie eine Uhr. Aber es ist kein Mittel, das man schlucken kann: "Das Herz des Königs muss einmal am Tag schnell schlagen, dann schafft er es vielleicht. Erzähl ihm jeden Tag eine spannende Geschichte, bevor er ins Bett geht."
Gut tausend Jahre schon regiert Mansolin in seiner kupfernen Burg, und aus "Tausendundeiner Nacht" kennen wir das Motiv des Erzählens um des Lebens willen, das der 2006 gestorbene niederländische Autor Paul Biegel in seinem zauberhaften Buch "Eine Geschichte für den König" aufgegriffen hat. Anders als Scheherazade jedoch geht es den Erzählern in dieser Geschichte nicht um das eigene Leben, und anders als die junge Frau aus der alten orientalischen Geschichtensammlung, die dem König an jedem Morgen eine weitere Nacht Aufschub ihres eigenen Todesurteils abgerungen hat, damit er ihrer Erzählung weiter zuhören könne, bleibt der Hase, letzter, treuster Diener Mansolins, auch nicht allein mit dieser Aufgabe: Der Wunderdoktor verspricht, jeden, den er auf seiner Reise trifft, zur Burg zu schicken, zum König, um ihm zu erzählen.
So klopft und kratzt und scharrt es am Burgtor, und wer dort alles Einlass begehrt, ist für ein Hasenherz schon Grund genug zum Stehenbleiben. Die Herzen sieben, acht Jahre alter Kinder indes lässt es höher schlagen: Ein furchterregender Wolf mit grünen Augen kommt als erster Gast, gefolgt von einem Eichhörnchen, einem Schaf, dessen Pelz dem Bart des Königs zum Verwechseln ähnlich sieht, von einem Drachen mit drei Köpfen, einem Löwen, einem Käfer und schließlich einem Zwerg. Sie alle erzählen eine Geschichte. Sie alle bleiben in der Burg mit ihren seltsamen Sälen und werden zu Zuhörern der späteren Gäste. Und sie alle bangen gemeinsam um das Leben König Mansolins.
Auf wie viele Arten mag das Herz eines Kindes schlagen, wenn es diese Geschichten hört? Es ist nicht jede einzelne von ihnen spannend, wie der Wunderdoktor es nahelegt, nicht spannend zumindest im heutigen Sinn, aber sie sind herzergreifend. Es sind rührende darunter, erstaunliche, regelrecht erhabene, die ihre nahezu klassisch märchenhafte Anmutung mit einer unbeschwerten, zeitlosen Sprache mischen, der man die bald fünfzig Jahre nicht anmerkt, vor denen sie geschrieben wurde, nicht einmal in der Übersetzung Lotte Schaukals, die auch schon in der deutschsprachigen Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1967 genannt wird. Damals hieß das Buch "Das Schlüsselkraut".
"Früher musste ich ... ich hatte früher ... ich sollte eigentlich ... ich meine: Ich hatte früher einen Hut", so hebt der Esel zu seiner Geschichte an und erzählt von seinem Strohhut, der auch der Eselin auf der Wiese nebenan so gut gefällt, dass sie ihn heiraten will. Doch beim Sprung über die steinerne Mauer kommen dem Ärmsten der Hut und damit die Gunst der Geliebten abhanden. Ein Käfer schafft es erst nicht über den Bach zu jenem Blütenbaum, in dem er sich zu wohnen wünscht, und dann nicht wieder zurück. Zwei Kaninchen machen sich auf die Suche nach dem Großen Rauschen, das sie über die Dünen hinweg hören, sehen schließlich das Meer und verlieren einander aus den Augen. Der Drache muss seine Flügel auf des Vaters Geheiß einer Hexe leihen, der sich dafür sieben Brunnen voller Bier hat zaubern lassen, für jeden Kopf einen, und der Junge schafft es erst nach Jahrhunderten und erst mit Menschenlist, sich der Gewalt der Hexe zu entziehen. Und der Zwerg bringt schließlich ganze vier Bücher zurück, die ein Zwergenherrscher einst von Mansolin geliehen hatte, vier Bücher, die er dem inzwischen wachsweißen König und seinem Gefolge vorliest, Bücher, in denen das Schicksal des Zwergenvolkes erzählt wird, ein junger Hirte auftaucht, der, in Zwergenweisheit erzogen, zu einem mächtigen Herrscher wird, und in denen außerdem eine Reihe von Weissagungen über das drohende Ende jenes Königs zu finden sind, in dem wir Leser längst den lebensmüden Mansolin erkennen.
Können die Geschichten das Herz des Königs heilen, das nur mehr tickt wie eine schiefstehende Uhr? Der Hase hält sein Ohr immer wieder unter den langen Bart des Herrschers und lauscht. Mal ist es besser geworden, mal nur nicht schlechter. Doch der König wird schwächer von Tag zu Tag, während der Wunderdoktor auf seiner Reise zum Schlüsselkraut und zurück sein eigenes Märchen erlebt, hilfreichen Tieren begegnet, in die Irre läuft, wertvolle Zeit verliert, gegen die Verzweiflung kämpft: Paul Biegel erzählt davon in wenigen kurzen, klaren Sätzen am Ende jedes Kapitels, in dessen Zentrum jeweils die Erzählung eines Gastes steht. Schließlich steht der Wunderdoktor wieder vor dem Burgtor. Und niemand hört sein Pochen.
Auch ein erschütternder Moment der Ausweglosigkeit fehlt nicht in Biegels Buch, jener Moment des Stillstands, in dem die Geschichte, unsere Hoffnung auf ein gutes Ende der Geschichte auf der Kippe steht. Bis der Autor sie mit verblüffender Leichtigkeit auffängt, als hätte er nie etwas anderes gemacht, als mit Geschichten zu jonglieren. Dabei hatte sich Paul Biegel, 1925 geboren, gerade erst mit Kinderbüchern zu befassen begonnen. Nach abgebrochenem Jurastudium und einem Aufenthalt in Amerika hatte er zunächst Comics geschrieben. "Het Sleutelkruid", 1964 erschienen, war sein zweites Kinderbuch. Die berühmte Trilogie "Der kleine Kapitän" folgte Anfang der siebziger Jahre.
"Es war wie ein Traum, die alten Geschichten wieder zu hören", sagt Mansolin dem Zwerg, als er schließlich gerettet wird. Und es ist wie ein Traum, den Geschichten zu folgen: wie sie sich die großen märchenhaften Themen - die Reise, die Prüfung, die Entscheidung, den Abschied - zuspielen, ohne sich zu wiederholen. Mit welcher Schwerelosigkeit der Autor sie in ihren Tonlagen erzählt. Wie sie bis in Vorausdeutungen und Figuren hinein aufeinander Bezug nehmen. Und dabei die Phantasie ihrer Leser nicht kanalisieren, sondern bezaubern.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Paul Biegel: "Eine Geschichte für den König".
Aus dem Niederländischen von Lotte Schaukal. Mit Bildern von Linde Faas. Verlag Urachhaus, Stuttgart 2012. 158 S., geb., 14,90. Ab 6 J.
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