Ein Schriftsteller sitzt an seinem Schreibtisch, vor sich ein leeres Blatt Papier. Die Stunden vergehen, das Blatt bleibt leer. Da beschließt er, nach draußen zu gehen. Vielleicht findet er dort irgendwo die Geschichte, auf die er so sehr wartet? Er trifft einen Jungen hoch oben in den Baumkronen. Und ein Mädchen, leichter als Luft. Und eine Frau, die nicht an Geschichten glaubt ...Eine hintersinnige, poetische und witzige Geschichte über das Abenteuer des Geschichtenerfindens, kongenial ins Bild gesetzt von Øyvind Torseter. Für alle kleinen und großen Geschichtensucher, -erzähler und -erfinder.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Wirbel von Geschichten
Ein Dichter macht sich auf den Weg ins Freie
Die größten Glückspilze in dieser Geschichte sind die, die gerne Geschichten schreiben, Geschichten lesen und – nicht zu vergessen – jene, die gerne mit offenen Augen und Fantasie durch die Welt flanieren und immer wieder darüber staunen, was es alles zu entdecken gibt, selbst hinterm nächsten grauen Häuserblock oder in den Nischen eines Hausflurs.
Die Hauptfigur in Tor Fretheims „Eine Geschichte macht Geschichten“ – übersetzt von Maike Dörries – ist ein Schriftsteller, der an seinem Schreibtisch auf ein leeres Blatt Papier starrt, ohne dass dort ein Buchstabe, geschweige denn eine Idee auftauchen würde. Schreibblockade. Die Geschichte des 2018 verstorbenen norwegischen Schriftstellers erscheint auch deshalb vom ersten Augenblick an pfiffig und hintergründig, weil man mit den Bildern von Øyvind Torseter förmlich durch die Handlung flanieren kann. Der norwegische Illustrator und Autor öffnet für die Leser nicht nur das Mansardenfenster des Poeten, sondern lässt die ganze Stadt zu Füßen des Künstlers lebendig werden. Mit ungeheuer filigranen und witzigen, teils seitenübergreifenden Tintenstrichzeichnungen, schwarz-weißem, mattfarbig oder gemustert koloriertem Hintergrund, leicht schrägen, aber freundlichen Comic-Geschöpfen, detaillierten Blicken auf das Drinnen und Draußen, auf das Haupt- und auf das Nebensächliche. Vor allem wachsen an allen Ecken und Enden Pflanzen und Pflänzchen jeder Art, als wollten sie mit der Zeit jede Gräulichkeit überwuchern. Der Mann, dem Ideen und Worte fehlen, macht sich schließlich auf den Weg ins Freie. Treppab, den Bürgersteig entlang, an großen Häusern vorüber, durch ein Park mit hohen Bäumen, vorbei an einem Spielplatz mit einer Wippe. Als es dunkel wird, zieht es ihn wieder nach Hause. Und siehe da: Er setzt sich an den Schreibtisch und schreibt bis zum letzten Bleistiftstummel eine Geschichte – viele, viele Blätter. Das Resultat wäre wahrscheinlich ziemlich banal, hätte der Schriftsteller auf seinem planlosen Gang nicht Lebewesen getroffen, die sein Interesse weckten. Eine traurige Frau am Fenster. Ein Kater aus dem Abfalleimer, der dem Mann wortlos vorangeht. Ein Junge, der sich hoch im Geäst der Bäume wohlfühlt. Ein Mädchen, oben auf der Wippe, ohne dass am anderen Ende jemand sitzt.
Schön, der Künstler hat sich offenen Auges durch wundersame Ereignisse draußen im wirklichen Leben und drinnen in seinem Kopf inspirieren lassen. Aber die Geschichte geht weiter. Fretheim und Torseter spielen mit einer weiteren Erkenntnis, der nämlich, dass die Geschichte dem Schriftsteller nicht mehr gehört, wenn sie seinen Schreibtisch verlassen hat. Dies geschieht hier dadurch, dass die Manuskripte durchs offene Fenster in die Welt hinausgewirbelt werden. Der arme Mann macht sich ein zweites Mal auf in die Welt, um sie wieder einzufangen. Dass er vor Schreck in Morgenmantel und Hausschlappen auf die Straße läuft, macht nichts, denn die Geschöpfe, die ihn beim ersten Gang beeindruckt haben, begleiten ihn. Und wiederum endet das Ganze mit einer erstaunlichen Wendung und einer lebenswerten Erkenntnis: Geschichten entstehen aus Geschichten aus Geschichten aus Geschichten. Und das gibt Hoffnung, jedenfalls für jene, die gerne schreiben, lesen und mit Fantasie und offenen Augen durch die Welt flanieren.
SIGGI SEUSS
Geschichten entstehen aus
Geschichten aus Geschichten
aus Geschichten
Tor Fretheim, Øyvind Torseter:
Eine Geschichte macht
Geschichten. Aus dem
Norwegischen von Maike Dörries. Gerstenberg 2022.
48 Seiten, 13 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Dichter macht sich auf den Weg ins Freie
Die größten Glückspilze in dieser Geschichte sind die, die gerne Geschichten schreiben, Geschichten lesen und – nicht zu vergessen – jene, die gerne mit offenen Augen und Fantasie durch die Welt flanieren und immer wieder darüber staunen, was es alles zu entdecken gibt, selbst hinterm nächsten grauen Häuserblock oder in den Nischen eines Hausflurs.
Die Hauptfigur in Tor Fretheims „Eine Geschichte macht Geschichten“ – übersetzt von Maike Dörries – ist ein Schriftsteller, der an seinem Schreibtisch auf ein leeres Blatt Papier starrt, ohne dass dort ein Buchstabe, geschweige denn eine Idee auftauchen würde. Schreibblockade. Die Geschichte des 2018 verstorbenen norwegischen Schriftstellers erscheint auch deshalb vom ersten Augenblick an pfiffig und hintergründig, weil man mit den Bildern von Øyvind Torseter förmlich durch die Handlung flanieren kann. Der norwegische Illustrator und Autor öffnet für die Leser nicht nur das Mansardenfenster des Poeten, sondern lässt die ganze Stadt zu Füßen des Künstlers lebendig werden. Mit ungeheuer filigranen und witzigen, teils seitenübergreifenden Tintenstrichzeichnungen, schwarz-weißem, mattfarbig oder gemustert koloriertem Hintergrund, leicht schrägen, aber freundlichen Comic-Geschöpfen, detaillierten Blicken auf das Drinnen und Draußen, auf das Haupt- und auf das Nebensächliche. Vor allem wachsen an allen Ecken und Enden Pflanzen und Pflänzchen jeder Art, als wollten sie mit der Zeit jede Gräulichkeit überwuchern. Der Mann, dem Ideen und Worte fehlen, macht sich schließlich auf den Weg ins Freie. Treppab, den Bürgersteig entlang, an großen Häusern vorüber, durch ein Park mit hohen Bäumen, vorbei an einem Spielplatz mit einer Wippe. Als es dunkel wird, zieht es ihn wieder nach Hause. Und siehe da: Er setzt sich an den Schreibtisch und schreibt bis zum letzten Bleistiftstummel eine Geschichte – viele, viele Blätter. Das Resultat wäre wahrscheinlich ziemlich banal, hätte der Schriftsteller auf seinem planlosen Gang nicht Lebewesen getroffen, die sein Interesse weckten. Eine traurige Frau am Fenster. Ein Kater aus dem Abfalleimer, der dem Mann wortlos vorangeht. Ein Junge, der sich hoch im Geäst der Bäume wohlfühlt. Ein Mädchen, oben auf der Wippe, ohne dass am anderen Ende jemand sitzt.
Schön, der Künstler hat sich offenen Auges durch wundersame Ereignisse draußen im wirklichen Leben und drinnen in seinem Kopf inspirieren lassen. Aber die Geschichte geht weiter. Fretheim und Torseter spielen mit einer weiteren Erkenntnis, der nämlich, dass die Geschichte dem Schriftsteller nicht mehr gehört, wenn sie seinen Schreibtisch verlassen hat. Dies geschieht hier dadurch, dass die Manuskripte durchs offene Fenster in die Welt hinausgewirbelt werden. Der arme Mann macht sich ein zweites Mal auf in die Welt, um sie wieder einzufangen. Dass er vor Schreck in Morgenmantel und Hausschlappen auf die Straße läuft, macht nichts, denn die Geschöpfe, die ihn beim ersten Gang beeindruckt haben, begleiten ihn. Und wiederum endet das Ganze mit einer erstaunlichen Wendung und einer lebenswerten Erkenntnis: Geschichten entstehen aus Geschichten aus Geschichten aus Geschichten. Und das gibt Hoffnung, jedenfalls für jene, die gerne schreiben, lesen und mit Fantasie und offenen Augen durch die Welt flanieren.
SIGGI SEUSS
Geschichten entstehen aus
Geschichten aus Geschichten
aus Geschichten
Tor Fretheim, Øyvind Torseter:
Eine Geschichte macht
Geschichten. Aus dem
Norwegischen von Maike Dörries. Gerstenberg 2022.
48 Seiten, 13 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Kim Kindermann hat ihre Freude mit diesem "klugen und lustigen" Kinderbuch von Tor Fretheim (Text) und Oyvind Torseter (Illustration). Wie der Autor über einen sich plagenden Schriftsteller erzählt und darüber, wie Geschichten entstehen, findet Kindermann spannend. Das Rätsel der Kreativität wird hier zwar nicht gelüftet, meint Kindermann, aber der Geniekult "charmant" infrage gestellt. Die "comicartigen" Zeichnungen von Torseter erweitern den Text und sorgen für Stimmung, lobt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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