»Wer das heutige Russland verstehen will, muss dieses Buch lesen.« NZZ Geschichte
Mitreißend, prägnant und menschlich berührend erzählt Orlando Figes die Geschichte Russlands. Dabei entfaltet er das große Panorama der russischen Seele: von unsterblichen Mythen über die großartigen kulturellen Leistungen bis zur Weltmachtpolitik des 20. Jahrhunderts und unserer Gegenwart.
In einer packenden Reise durch die Zeit erzählt Orlando Figes, wie die Russen sich selbst erlebten und wie sie sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neu erfanden: Er ergründet ihre Anfänge als Jäger und Sammler und schildert das Leben der Bauern Russlands im ersten nachchristlichen Jahrtausend. Souverän lässt er die Jahrhunderte der Monarchie und deren Ende Revue passieren - das Zarenreich, den Totalitarismus nach der Oktoberrevolution 1917 und die Perestroika Gorbatschows bis hin zu Wladimir Putins Krieg.
Feinsinnig deutet der Autor die Mythen, Ereignisse und Ideologien der langen russischen Geschichte, die das Denken und Handeln des größten Landes der Erde geleitet und der Stützung von Regimen bis heute gedient haben: die Notwendigkeit einer Autokratie, um den riesigen russischen Raum zu beherrschen; die Verehrung des »Heiligen Zaren«; der Glaube an einen russischen kollektivistischen Geist; und das Schwanken zwischen Russlands europäischem und eurasischem Charakter. Eine brillant geschriebene Gesamtdarstellung: Meisterhaft versteht es Figes, die zentralen Aspekte und Facetten der russischen Geschichte so herauszuarbeiten, dass sich ihre ganze innere und äußere Dramatik offenbart - von den Anfängen bis zum Krieg in die Ukraine.
Mitreißend, prägnant und menschlich berührend erzählt Orlando Figes die Geschichte Russlands. Dabei entfaltet er das große Panorama der russischen Seele: von unsterblichen Mythen über die großartigen kulturellen Leistungen bis zur Weltmachtpolitik des 20. Jahrhunderts und unserer Gegenwart.
In einer packenden Reise durch die Zeit erzählt Orlando Figes, wie die Russen sich selbst erlebten und wie sie sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neu erfanden: Er ergründet ihre Anfänge als Jäger und Sammler und schildert das Leben der Bauern Russlands im ersten nachchristlichen Jahrtausend. Souverän lässt er die Jahrhunderte der Monarchie und deren Ende Revue passieren - das Zarenreich, den Totalitarismus nach der Oktoberrevolution 1917 und die Perestroika Gorbatschows bis hin zu Wladimir Putins Krieg.
Feinsinnig deutet der Autor die Mythen, Ereignisse und Ideologien der langen russischen Geschichte, die das Denken und Handeln des größten Landes der Erde geleitet und der Stützung von Regimen bis heute gedient haben: die Notwendigkeit einer Autokratie, um den riesigen russischen Raum zu beherrschen; die Verehrung des »Heiligen Zaren«; der Glaube an einen russischen kollektivistischen Geist; und das Schwanken zwischen Russlands europäischem und eurasischem Charakter. Eine brillant geschriebene Gesamtdarstellung: Meisterhaft versteht es Figes, die zentralen Aspekte und Facetten der russischen Geschichte so herauszuarbeiten, dass sich ihre ganze innere und äußere Dramatik offenbart - von den Anfängen bis zum Krieg in die Ukraine.
»Es ist ein Buch, aus dem man unentwegt zitieren möchte, dessen Seiten sich wie von selbst mit Anstreichungen und Ausrufezeichen füllen. [...] Ein anregendes Buch mit vielen Seitenblicken auf heutige Konstellationen, das zu schier endlosem Weiterfragen ermuntert. Besseres kann man auf so knappem Raum nicht leisten.« Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 3./4. Dezember 2022 Gustav Seibt Süddeutsche Zeitung 20221203
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2022Krachende
Niederlagen
Despoten, Massen, Rohstoffe: Der
britische Historiker Orlando Figes erklärt
Konstanten der russischen Geschichte
VON GUSTAV SEIBT
Die Zustände bei der Armee waren überraschend schlecht. Man hatte auf eine „russische Dampfwalze“ gehofft, doch es zeigte sich, dass die Massen der Soldaten kaum ausgebildet waren. Sie konnten, wie ein General ernüchtert feststellte, „meist nur marschieren, und auch das miserabel“. „Oft genug kam es vor, dass sie nicht einmal Gewehre laden konnten, von ihren Schießkünsten ganz zu schweigen.“ „Als sich der Krieg über den Winter hinzog, machte sich allmählich Materialknappheit bemerkbar. Das Transportsystem war mit dem Nachschub an Munition, Proviant und Medikamenten an die Fronten hoffnungslos überfordert.“
Von welchem Krieg ist die Rede? Nein, es ist nicht die aktuelle Invasion Russlands in die Ukraine, sondern der Erste Weltkrieg, in dem die ost-westliche Koalition gegen Deutschland und Österreich auf einen raschen Vorstoß Russlands an den östlichen Fronten hoffte – vergebens, wie sich zeigte. Die Armeen mochten groß sein, ihr Kampfwert war gering. Die Zitate stammen aus der Geschichte Russlands, die der britische Historiker Orlando Figes soeben vorgelegt hat. Auch vom Krimkrieg der Jahre 1853 bis 1855 weiß er nichts Besseres zu berichten. Russland verlor ihn krachend gegen eine europäische-osmanische Koalition, die sogar die Auflösung der Schwarzmeerflotte erzwang – ein bis dahin beispielloser Vorgang, der sich tief ins russische Gedächtnis einprägte. „Nie zuvor hatte man eine besiegte Großmacht zur Abrüstung gezwungen“, weiß Figes.
Putins Gerede von „westlichen, ,doppelten Maßstäben‘ und ,Heuchelei‘, von einer westlichen ,Russophobie‘ und ,Missachtung‘ Russlands geht auf dieses historische Ereignis zurück“. Dabei habe der Krieg, der eine Viertelmillion Russen das Leben kostete, auf brutale Weise die unzähligen Schwächen des Landes aufgedeckt, „die Korruption und Inkompetenz der Militärführung, die technische Rückständigkeit von Armee und Marine, die durch schlechte Straßen und fehlende Bahnlinien entstandenen Nachschubprobleme, die Armut der leibeigenen Rekruten der Armee, die Unfähigkeit der Wirtschaft, einen Kriegszustand gegen die Industriemächte durchzuhalten“: 1855, nicht 2022!
Wer das Buch liest, fragt sich, welchen Krieg Russland seit 1812, als es Napoleon durch die Aufgabe Moskaus durch die Falle des Winters, aber nicht im direkten Kampf besiegte, überhaupt gewonnen hat? Keinen außer dem Großen Vaterländischen Krieg gegen Deutschland seit 1941, aber für diesen lieferten die USA unentbehrliches, hochwertiges Rüstungsmaterial. Das russische Erbübel inkompetenter und korrupter Militärlogistik trat einmal in den Hintergrund. Vielleicht ist also das Steckenbleiben der jüngsten Invasion, die eigentlich zu einem raschen Sieg führen sollte, weniger überraschend, als viele Experten vermuteten: Sie wiederholt ein Muster russischer Kriegsführung, die seit je mehr auf Überwältigung durch Masse als auf raffiniertes Kriegshandwerk setzte.
Man möchte aus dem Buch unentwegt zitieren, dabei schreibt hier ein gerechter, von Sympathie getragener Historiker, kein Pamphletist. Bekannt geworden ist Figes durch beeindruckende Werke vor allem zur russisch-sowjetischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter auch kulturgeschichtlichen Darstellungen, die von großer Liebe zur russischen Literatur zeugen. Erschütternd ist vor allem sein Buch zum Alltag der Denunziationen in der stalinistischen Terrorzeit („Die Flüsterer“, 2007) – ein Lehrstück zu den moralischen Folgen totalitärer Herrschaft. Jetzt hat Figes eine vergleichsweise knappe, zudem gut geschriebene und anschauliche Synthese gewagt, die von der Kiewer Rus im 10. Jahrhundert bis zum heutigen Krieg reicht. Sie kommt zum rechten Zeitpunkt, denn sie ist zwar nicht auf diesen Krieg hin geschrieben, enthält jedoch viele Hinweise, die den Moment erhellen. Nicht nur, weil Figes Muster und Kontinuitäten aufzeigt, die sich durch die Jahrhunderte ziehen, sondern weil er auch immer wieder erklärt, wie die fernen Vergangenheiten heute thematisiert werden, wovon die Russen reden, wenn sie die Gegenwart mit historischen Argumenten erklären wollen.
Dazu gehören Demütigungserzählungen, die den Westeuropäern seit dem 19. Jahrhundert Doppelmoral und Russlandhass vorwerfen. Oder die große, nicht zuletzt von russischen Dissidenten vorgetragene Saga vom verheerenden Einfluss der Mongolenherrschaft seit dem 13. Jahrhundert auf die russische Mentalität. Mit der Mongolenzeit verband sich die Erfahrung des Ausgeliefertseins, der für Invasionen offenen Grenzen des Steppenlands, und sie wiederholte sich seit 1812 auch im Westen. Ein anderes dieser historischen Muster ist das Motiv des „guten Zaren“, des alles überstrahlenden obersten Herrschers, der mit Willkür und Korruption an der Basis nichts zu tun habe, sondern als heiliger Retter über allem schwebt – ein politisches Gefühlsschema, das Stalin in seinem berüchtigten Personenkult wiederbelebte.
Natürlich zeigt Figes, dass die historische Wirklichkeit hinter solchen Großerzählungen weit komplexer ist. Aber es gibt reale Konstanten. Autokratische Willkür ist die andere Seite einer schwachen, von enormen Räumen überforderten, ständisch wenig gegliederten Herrschaft, die potenziell schrankenlose Gewalt von Fall zu Fall an untere Instanzen in vollem Umfang delegieren muss. Zwei weitere, miteinander verflochtene Konstanten sind das Verhältnis zum europäischen Westen und der oft brutalen Modernisierung von oben nach westlichen Mustern. Wie westlich, wie modern oder wie national und eigenwüchsig will Russland sein? Diese später unter „Westlern“ und „Slawophilen“ umstrittene Frage zieht sich durch die Regierungen gerade der machtvollsten und größten Herrscher, Peters und Katharinas im 18. Jahrhundert, Stalins im 20. Jahrhundert. Dabei wirken immer noch die frühen Prägungen durch Byzanz auf die Kiewer Rus, das erste vormongolische Russland, nach, dessen Erbe das Moskauer Großfürsten- und Zarentum erst mit jahrhundertelanger Verzögerung im 15. Jahrhundert aufzunehmen begann. Die erste russische Staatlichkeit sei von Wikingern der Ostsee begründet worden, hieß es oft. Figes glaubt eher an multinationale Warlords, die Handelswege sicherten, auf denen – eine weitere Konstante – Rohstoffe wie Holz, Felle und Bernstein exportiert wurden. Der Einfluss fremder Herrscher und die Reaktion dagegen blieb eine russische Konstante – vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg waren große Teile der russischen Regierungseliten deutschsprachig, es gab kaum eine Zarin, die nicht aus einem deutschen Fürstenhaus kam.
Das russische Dorf, die russische Leibeigenschaft: Gebildete Leser kennen sie aus Romanen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts, zumal denen von Figes’ Liebling Turgenjew. Bei Figes werden Genese, Ende und Nachwirken dieser Lebensformen plastisch, und dabei zeigt sich, dass nicht einmal der massenmörderische sowjetische Versuch, sie von der Tafel der Geschichte zu wischen, vollkommen gelang.
Ein anregendes Buch mit vielen Seitenblicken auf heutige Konstellationen, das zu schier endlosem Weiterfragen ermuntert. Besseres kann man auf so knappem Raum nicht leisten.
Orlando Figes: Eine Geschichte Russlands. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2022.
447 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Niederlagen
Despoten, Massen, Rohstoffe: Der
britische Historiker Orlando Figes erklärt
Konstanten der russischen Geschichte
VON GUSTAV SEIBT
Die Zustände bei der Armee waren überraschend schlecht. Man hatte auf eine „russische Dampfwalze“ gehofft, doch es zeigte sich, dass die Massen der Soldaten kaum ausgebildet waren. Sie konnten, wie ein General ernüchtert feststellte, „meist nur marschieren, und auch das miserabel“. „Oft genug kam es vor, dass sie nicht einmal Gewehre laden konnten, von ihren Schießkünsten ganz zu schweigen.“ „Als sich der Krieg über den Winter hinzog, machte sich allmählich Materialknappheit bemerkbar. Das Transportsystem war mit dem Nachschub an Munition, Proviant und Medikamenten an die Fronten hoffnungslos überfordert.“
Von welchem Krieg ist die Rede? Nein, es ist nicht die aktuelle Invasion Russlands in die Ukraine, sondern der Erste Weltkrieg, in dem die ost-westliche Koalition gegen Deutschland und Österreich auf einen raschen Vorstoß Russlands an den östlichen Fronten hoffte – vergebens, wie sich zeigte. Die Armeen mochten groß sein, ihr Kampfwert war gering. Die Zitate stammen aus der Geschichte Russlands, die der britische Historiker Orlando Figes soeben vorgelegt hat. Auch vom Krimkrieg der Jahre 1853 bis 1855 weiß er nichts Besseres zu berichten. Russland verlor ihn krachend gegen eine europäische-osmanische Koalition, die sogar die Auflösung der Schwarzmeerflotte erzwang – ein bis dahin beispielloser Vorgang, der sich tief ins russische Gedächtnis einprägte. „Nie zuvor hatte man eine besiegte Großmacht zur Abrüstung gezwungen“, weiß Figes.
Putins Gerede von „westlichen, ,doppelten Maßstäben‘ und ,Heuchelei‘, von einer westlichen ,Russophobie‘ und ,Missachtung‘ Russlands geht auf dieses historische Ereignis zurück“. Dabei habe der Krieg, der eine Viertelmillion Russen das Leben kostete, auf brutale Weise die unzähligen Schwächen des Landes aufgedeckt, „die Korruption und Inkompetenz der Militärführung, die technische Rückständigkeit von Armee und Marine, die durch schlechte Straßen und fehlende Bahnlinien entstandenen Nachschubprobleme, die Armut der leibeigenen Rekruten der Armee, die Unfähigkeit der Wirtschaft, einen Kriegszustand gegen die Industriemächte durchzuhalten“: 1855, nicht 2022!
Wer das Buch liest, fragt sich, welchen Krieg Russland seit 1812, als es Napoleon durch die Aufgabe Moskaus durch die Falle des Winters, aber nicht im direkten Kampf besiegte, überhaupt gewonnen hat? Keinen außer dem Großen Vaterländischen Krieg gegen Deutschland seit 1941, aber für diesen lieferten die USA unentbehrliches, hochwertiges Rüstungsmaterial. Das russische Erbübel inkompetenter und korrupter Militärlogistik trat einmal in den Hintergrund. Vielleicht ist also das Steckenbleiben der jüngsten Invasion, die eigentlich zu einem raschen Sieg führen sollte, weniger überraschend, als viele Experten vermuteten: Sie wiederholt ein Muster russischer Kriegsführung, die seit je mehr auf Überwältigung durch Masse als auf raffiniertes Kriegshandwerk setzte.
Man möchte aus dem Buch unentwegt zitieren, dabei schreibt hier ein gerechter, von Sympathie getragener Historiker, kein Pamphletist. Bekannt geworden ist Figes durch beeindruckende Werke vor allem zur russisch-sowjetischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter auch kulturgeschichtlichen Darstellungen, die von großer Liebe zur russischen Literatur zeugen. Erschütternd ist vor allem sein Buch zum Alltag der Denunziationen in der stalinistischen Terrorzeit („Die Flüsterer“, 2007) – ein Lehrstück zu den moralischen Folgen totalitärer Herrschaft. Jetzt hat Figes eine vergleichsweise knappe, zudem gut geschriebene und anschauliche Synthese gewagt, die von der Kiewer Rus im 10. Jahrhundert bis zum heutigen Krieg reicht. Sie kommt zum rechten Zeitpunkt, denn sie ist zwar nicht auf diesen Krieg hin geschrieben, enthält jedoch viele Hinweise, die den Moment erhellen. Nicht nur, weil Figes Muster und Kontinuitäten aufzeigt, die sich durch die Jahrhunderte ziehen, sondern weil er auch immer wieder erklärt, wie die fernen Vergangenheiten heute thematisiert werden, wovon die Russen reden, wenn sie die Gegenwart mit historischen Argumenten erklären wollen.
Dazu gehören Demütigungserzählungen, die den Westeuropäern seit dem 19. Jahrhundert Doppelmoral und Russlandhass vorwerfen. Oder die große, nicht zuletzt von russischen Dissidenten vorgetragene Saga vom verheerenden Einfluss der Mongolenherrschaft seit dem 13. Jahrhundert auf die russische Mentalität. Mit der Mongolenzeit verband sich die Erfahrung des Ausgeliefertseins, der für Invasionen offenen Grenzen des Steppenlands, und sie wiederholte sich seit 1812 auch im Westen. Ein anderes dieser historischen Muster ist das Motiv des „guten Zaren“, des alles überstrahlenden obersten Herrschers, der mit Willkür und Korruption an der Basis nichts zu tun habe, sondern als heiliger Retter über allem schwebt – ein politisches Gefühlsschema, das Stalin in seinem berüchtigten Personenkult wiederbelebte.
Natürlich zeigt Figes, dass die historische Wirklichkeit hinter solchen Großerzählungen weit komplexer ist. Aber es gibt reale Konstanten. Autokratische Willkür ist die andere Seite einer schwachen, von enormen Räumen überforderten, ständisch wenig gegliederten Herrschaft, die potenziell schrankenlose Gewalt von Fall zu Fall an untere Instanzen in vollem Umfang delegieren muss. Zwei weitere, miteinander verflochtene Konstanten sind das Verhältnis zum europäischen Westen und der oft brutalen Modernisierung von oben nach westlichen Mustern. Wie westlich, wie modern oder wie national und eigenwüchsig will Russland sein? Diese später unter „Westlern“ und „Slawophilen“ umstrittene Frage zieht sich durch die Regierungen gerade der machtvollsten und größten Herrscher, Peters und Katharinas im 18. Jahrhundert, Stalins im 20. Jahrhundert. Dabei wirken immer noch die frühen Prägungen durch Byzanz auf die Kiewer Rus, das erste vormongolische Russland, nach, dessen Erbe das Moskauer Großfürsten- und Zarentum erst mit jahrhundertelanger Verzögerung im 15. Jahrhundert aufzunehmen begann. Die erste russische Staatlichkeit sei von Wikingern der Ostsee begründet worden, hieß es oft. Figes glaubt eher an multinationale Warlords, die Handelswege sicherten, auf denen – eine weitere Konstante – Rohstoffe wie Holz, Felle und Bernstein exportiert wurden. Der Einfluss fremder Herrscher und die Reaktion dagegen blieb eine russische Konstante – vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg waren große Teile der russischen Regierungseliten deutschsprachig, es gab kaum eine Zarin, die nicht aus einem deutschen Fürstenhaus kam.
Das russische Dorf, die russische Leibeigenschaft: Gebildete Leser kennen sie aus Romanen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts, zumal denen von Figes’ Liebling Turgenjew. Bei Figes werden Genese, Ende und Nachwirken dieser Lebensformen plastisch, und dabei zeigt sich, dass nicht einmal der massenmörderische sowjetische Versuch, sie von der Tafel der Geschichte zu wischen, vollkommen gelang.
Ein anregendes Buch mit vielen Seitenblicken auf heutige Konstellationen, das zu schier endlosem Weiterfragen ermuntert. Besseres kann man auf so knappem Raum nicht leisten.
Orlando Figes: Eine Geschichte Russlands. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2022.
447 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Viel ist in den letzten Jahren zur Geschichte Russlands geschrieben worden, weiß Rezensent Micha Brumlik, dennoch hat die Darstellung des Historikers Orlando Figes für ihn Neues zu bieten. Das liegt für den Rezensenten vor allem daran, dass der Autor sich den Einflüssen von Byzanz und der Mongolei bei der Herausbildung einer besonderen Form des autokratischen Regimes, der "orientalischen Despotie", widmet, was dem Rezensenten erklärt, wieso Russland bis heute keine Demokratie im westlichen Sinne ausbilden konnte. Gut verständlich und trotz des ernsten Themas unterhaltsam wird Brumlik so auch Einiges zu Putin und zum Ukrainekrieg klar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.2022Putin als politisches Kind der alten Mongolen
Autokratische Kontinuitäten: Orlando Figes verhebt sich am Versuch, aus tausend Jahren russischer Geschichte die heutigen Verhältnisse zu erhellen
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 eröffnete unendlich viele Chancen für einen Neubeginn in Russland. Ein demokratischer Aufbruch, die Verabschiedung vom Imperium, friedliche nachbarschaftliche Beziehungen, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft schienen möglich. Nichts davon existiert heute. Unter Putin ist Russland in die dunkelsten Kapitel seiner Geschichte vorangeschritten zu Repression, Rechtlosigkeit und Gewalt nach innen und außen.
Das Land scheint in der Wiederholungsschleife des autokratischen Staats zu stecken, meint der britische Historiker Orlando Figes. Die heutige russische Politik werde viel zu häufig ohne ausreichende Kenntnis der Geschichte Russlands analysiert, beklagt er zu Recht. Sogar Historiker übersehen, wie sehr das handlungsleitende Geschichtsnarrativ des Putin-Regimes sich nicht nur an der Sowjetunion orientiert, sondern auch am fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, als der Moskauer Zentralstaat entstand. Zur historischen Begründung des Krieges in der Ukraine wird sogar der mittelalterliche Staat der Kiewer Rus zur Vorgeschichte Russlands umdeklariert und auf diese Weise die heutige Unabhängigkeit der Ukraine historisch negiert.
Russlands Geschichte sei voll von solchen Mythen, so Figes, die grundlegend für das russische Verständnis der eigenen Geschichte und des nationalen Charakters seien. Daraus leitet sich der aufklärerisch-pädagogische Anspruch des Buches ab, ihre Entstehung und Wirkungen zu erklären. Um die autokratische Kontinuität Russlands vorzuführen, holt Figes weit aus. Über tausend Jahre Geschichte nimmt er in den Blick, vom Kiewer Großfürsten Wladimir, dem die Russen in Moskau jüngst und die Ukrainer in Kiew vor ein paar Jahren ein Denkmal setzten, bis Wladimir Putin. Dessen Regime gehe auf den "monarchischen Archetyp der Herrschaft" zurück, der sich vor Jahrhunderten ausgebildet, den Alleinherrscher überhöht und die Gesellschaft unterworfen habe. Angetrieben werde es von Vorstellungen patriotischer Geschichte, imperialer Größe und globaler Bedeutung. Ein Geschichtsregime, folgt man Figes, kein Karbonregime, das von Öl- und Gasexporten lebt. Erklärungsversuche außerhalb der historisch-politischen Kultur hält er für unzureichend.
Auf der Suche nach der ununterbrochenen Spur des autokratischen Staates findet Figes "den Kult des heiligen Herrschers" im elften Jahrhundert. Nirgendwo sei Macht so stark sakralisiert worden wie in Russland, behauptet er. Der japanische Tenno, der Sapa Inka, Byzantinisten und andere Mediävisten geraten ins Grübeln, kommen aber nicht vor. Die Mongolen, die 1240 Kiew eroberten, hätten den autokratischen Einfluss verstärkt. Kaum hebt Figes zu einer differenzierten Diskussion des mongolischen Erbes in der Geschichte Russlands an, konfrontiert er die Leser mit einer waghalsigen Schlussfolgerung. Das "System der Abhängigkeit vom Herrscher hat sich bis heute gehalten. Putins Oligarchen sind völlig von seinem Willen abhängig." Putin, ein politisches Kind der Mongolen. Interessant!
Die Figur des "heiligen" Zaren ist für Figes zentral. An ihr hängen unumschränkte Herrschaft, die Identität von Herrscher und Staat und die Unterwerfung der Gesellschaft. Allein, sie ist eine These der älteren Forschung. In Jahrzehnten erarbeitete Forschungsergebnisse haben sie mit guten Gründen dekonstruiert. In den Quellen findet man außerdem keinen "heiligen" Zaren, wohl aber den "gerechten", was nicht dasselbe ist. Einmal auf diese Figur festgelegt, kehrt sie in allen Epochen der Geschichte Russlands einschließlich Lenin und Stalin wieder. Auf diese Weise schließen sich die Jahrhunderte zusammen, deren vorläufigen Schlusspunkt Putin bildet.
Lässt sich aber die Geschichte Russlands auf die Weise erzählen, dass die historischen Formen autoritärer und autokratischer Herrschaft ununterscheidbar werden? Zweifel sind angebracht. Figes bürstet die Geschichte Russlands in Richtung Autokratie. Das zieht Ausblendungen und Engführungen nach sich. Er muss dann nicht mehr nach dem Anteil von Religion und Kirche an der Geschichte der russischen Autokratie fragen, obwohl der unübersehbar ist. Oder etwas kleinförmiger: Zwischen der Breschnew-Zeit und dem Stalinismus liegen zwar keine Welten, aber wenn das Morden aufhört und die Sowjetbürger erstmals in einer relativen Sicherheit vor dem Staat lebten, braucht es andere Begriffe als "autokratischer Staat".
Figes weiß das, und er verschweigt die sperrigen Fragen auch nicht, aber seine Erzählung hebt nicht darauf ab. Wie kommt es, dass die Ukrainer sich gegen den postsowjetischen Autoritarismus erfolgreich zur Wehr setzten und die Russen nicht, wenn doch beide seit Jahrhunderten zur selben Autokratiekultur gehörten? Warum eigentlich möchte Figes den Lesern die Widersprüche und Komplikationen der Geschichte nicht zumuten? Das ist doch der Stoff, aus dem sie besteht.
Jede groß angelegte Geschichte ist anfechtbar. Figes scheitert nicht an verzeihlichen kleinen Fehlern, sondern an dem Größeren, das er wagt. Die Tatsache, dass er die Anfänge der Autokratie verzerrt darstellt, zu den Sinndimensionen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, sofern rezipiert, kaum Zugang findet und die autokratischen Kontinuitäten strapaziert, hätte sich in späteren Kapiteln durch mehr Klärung noch ausgleichen lassen. Die Fixierung auf eine politische Kultur der Macht, ohne theoretische Vorabklärungen und als Kontinuum postuliert, welche die heterogene Geschichte Russlands zwar aufscheinen lässt, sie aber nicht verstehend vermitteln kann, ist ein ernsteres Problem. Die Entscheidung schließlich, das Genre der chronologischen Geschichtserzählung zu wählen anstelle der Verwendung strukturierender Begriffe, Konzepte und analytischer Kategorien, die den Stoff gliedern, könnte falsch gewesen sein.
Geschichtserzählung kommt hier an ihre Grenzen. Die Trias von Mythendekonstruktion, Geschichte und Geschichtswissenschaft bleibt unaufgelöst, weil es in dem Buch sehr viel historischen Stoff gibt, der für politisierte Geschichtsnarrative keine Bedeutung hat. Welchen er dann hat, bleibt unklar. Schließlich behauptet Figes, kein anderes Land habe seine Geschichte so häufig neu erfunden wie Russland. Das klingt nach Generalwiderspruch zur Kontinuitätsthese. Beim nächsten Versuch, da muss man ihm zustimmen, sind die bisherigen Narrative gründlich zu zertrümmern. STEFAN PLAGGENBORG
Orlando Figes: "Eine Geschichte Russlands".
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2022. 448 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Autokratische Kontinuitäten: Orlando Figes verhebt sich am Versuch, aus tausend Jahren russischer Geschichte die heutigen Verhältnisse zu erhellen
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 eröffnete unendlich viele Chancen für einen Neubeginn in Russland. Ein demokratischer Aufbruch, die Verabschiedung vom Imperium, friedliche nachbarschaftliche Beziehungen, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft schienen möglich. Nichts davon existiert heute. Unter Putin ist Russland in die dunkelsten Kapitel seiner Geschichte vorangeschritten zu Repression, Rechtlosigkeit und Gewalt nach innen und außen.
Das Land scheint in der Wiederholungsschleife des autokratischen Staats zu stecken, meint der britische Historiker Orlando Figes. Die heutige russische Politik werde viel zu häufig ohne ausreichende Kenntnis der Geschichte Russlands analysiert, beklagt er zu Recht. Sogar Historiker übersehen, wie sehr das handlungsleitende Geschichtsnarrativ des Putin-Regimes sich nicht nur an der Sowjetunion orientiert, sondern auch am fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, als der Moskauer Zentralstaat entstand. Zur historischen Begründung des Krieges in der Ukraine wird sogar der mittelalterliche Staat der Kiewer Rus zur Vorgeschichte Russlands umdeklariert und auf diese Weise die heutige Unabhängigkeit der Ukraine historisch negiert.
Russlands Geschichte sei voll von solchen Mythen, so Figes, die grundlegend für das russische Verständnis der eigenen Geschichte und des nationalen Charakters seien. Daraus leitet sich der aufklärerisch-pädagogische Anspruch des Buches ab, ihre Entstehung und Wirkungen zu erklären. Um die autokratische Kontinuität Russlands vorzuführen, holt Figes weit aus. Über tausend Jahre Geschichte nimmt er in den Blick, vom Kiewer Großfürsten Wladimir, dem die Russen in Moskau jüngst und die Ukrainer in Kiew vor ein paar Jahren ein Denkmal setzten, bis Wladimir Putin. Dessen Regime gehe auf den "monarchischen Archetyp der Herrschaft" zurück, der sich vor Jahrhunderten ausgebildet, den Alleinherrscher überhöht und die Gesellschaft unterworfen habe. Angetrieben werde es von Vorstellungen patriotischer Geschichte, imperialer Größe und globaler Bedeutung. Ein Geschichtsregime, folgt man Figes, kein Karbonregime, das von Öl- und Gasexporten lebt. Erklärungsversuche außerhalb der historisch-politischen Kultur hält er für unzureichend.
Auf der Suche nach der ununterbrochenen Spur des autokratischen Staates findet Figes "den Kult des heiligen Herrschers" im elften Jahrhundert. Nirgendwo sei Macht so stark sakralisiert worden wie in Russland, behauptet er. Der japanische Tenno, der Sapa Inka, Byzantinisten und andere Mediävisten geraten ins Grübeln, kommen aber nicht vor. Die Mongolen, die 1240 Kiew eroberten, hätten den autokratischen Einfluss verstärkt. Kaum hebt Figes zu einer differenzierten Diskussion des mongolischen Erbes in der Geschichte Russlands an, konfrontiert er die Leser mit einer waghalsigen Schlussfolgerung. Das "System der Abhängigkeit vom Herrscher hat sich bis heute gehalten. Putins Oligarchen sind völlig von seinem Willen abhängig." Putin, ein politisches Kind der Mongolen. Interessant!
Die Figur des "heiligen" Zaren ist für Figes zentral. An ihr hängen unumschränkte Herrschaft, die Identität von Herrscher und Staat und die Unterwerfung der Gesellschaft. Allein, sie ist eine These der älteren Forschung. In Jahrzehnten erarbeitete Forschungsergebnisse haben sie mit guten Gründen dekonstruiert. In den Quellen findet man außerdem keinen "heiligen" Zaren, wohl aber den "gerechten", was nicht dasselbe ist. Einmal auf diese Figur festgelegt, kehrt sie in allen Epochen der Geschichte Russlands einschließlich Lenin und Stalin wieder. Auf diese Weise schließen sich die Jahrhunderte zusammen, deren vorläufigen Schlusspunkt Putin bildet.
Lässt sich aber die Geschichte Russlands auf die Weise erzählen, dass die historischen Formen autoritärer und autokratischer Herrschaft ununterscheidbar werden? Zweifel sind angebracht. Figes bürstet die Geschichte Russlands in Richtung Autokratie. Das zieht Ausblendungen und Engführungen nach sich. Er muss dann nicht mehr nach dem Anteil von Religion und Kirche an der Geschichte der russischen Autokratie fragen, obwohl der unübersehbar ist. Oder etwas kleinförmiger: Zwischen der Breschnew-Zeit und dem Stalinismus liegen zwar keine Welten, aber wenn das Morden aufhört und die Sowjetbürger erstmals in einer relativen Sicherheit vor dem Staat lebten, braucht es andere Begriffe als "autokratischer Staat".
Figes weiß das, und er verschweigt die sperrigen Fragen auch nicht, aber seine Erzählung hebt nicht darauf ab. Wie kommt es, dass die Ukrainer sich gegen den postsowjetischen Autoritarismus erfolgreich zur Wehr setzten und die Russen nicht, wenn doch beide seit Jahrhunderten zur selben Autokratiekultur gehörten? Warum eigentlich möchte Figes den Lesern die Widersprüche und Komplikationen der Geschichte nicht zumuten? Das ist doch der Stoff, aus dem sie besteht.
Jede groß angelegte Geschichte ist anfechtbar. Figes scheitert nicht an verzeihlichen kleinen Fehlern, sondern an dem Größeren, das er wagt. Die Tatsache, dass er die Anfänge der Autokratie verzerrt darstellt, zu den Sinndimensionen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, sofern rezipiert, kaum Zugang findet und die autokratischen Kontinuitäten strapaziert, hätte sich in späteren Kapiteln durch mehr Klärung noch ausgleichen lassen. Die Fixierung auf eine politische Kultur der Macht, ohne theoretische Vorabklärungen und als Kontinuum postuliert, welche die heterogene Geschichte Russlands zwar aufscheinen lässt, sie aber nicht verstehend vermitteln kann, ist ein ernsteres Problem. Die Entscheidung schließlich, das Genre der chronologischen Geschichtserzählung zu wählen anstelle der Verwendung strukturierender Begriffe, Konzepte und analytischer Kategorien, die den Stoff gliedern, könnte falsch gewesen sein.
Geschichtserzählung kommt hier an ihre Grenzen. Die Trias von Mythendekonstruktion, Geschichte und Geschichtswissenschaft bleibt unaufgelöst, weil es in dem Buch sehr viel historischen Stoff gibt, der für politisierte Geschichtsnarrative keine Bedeutung hat. Welchen er dann hat, bleibt unklar. Schließlich behauptet Figes, kein anderes Land habe seine Geschichte so häufig neu erfunden wie Russland. Das klingt nach Generalwiderspruch zur Kontinuitätsthese. Beim nächsten Versuch, da muss man ihm zustimmen, sind die bisherigen Narrative gründlich zu zertrümmern. STEFAN PLAGGENBORG
Orlando Figes: "Eine Geschichte Russlands".
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2022. 448 S., geb., 28,- Euro.
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