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"Dieses Buch handelt auch von der enttäuschten Liebe meiner Eltern und Großeltern zu Europa. Es spürt dem jüdischen Erbe in der europäischen Kultur nach und dem europäischen Erbe in unserer eigenen Kultur. Vor allem aber ist es ein Buch über eine einzelne kleine Familie. Es gibt ein altes Rätsel auf: Wie können zwei gute Menschen eine schreckliche Katastrophe herbeiführen? Wie kann eskommen, daß die Heirat zweier liebenswürdiger Menschen, die einander wollen und einander Gutes wünschen, in einer Tragödie endet?"Amos Oz Eine große Familien-Saga, ein Epos vom Leben und Überleben, ein Archiv…mehr

Produktbeschreibung
"Dieses Buch handelt auch von der enttäuschten Liebe meiner Eltern und Großeltern zu Europa. Es spürt dem jüdischen Erbe in der europäischen Kultur nach und dem europäischen Erbe in unserer eigenen Kultur. Vor allem aber ist es ein Buch über eine einzelne kleine Familie. Es gibt ein altes Rätsel auf: Wie können zwei gute Menschen eine schreckliche Katastrophe herbeiführen? Wie kann eskommen, daß die Heirat zweier liebenswürdiger Menschen, die einander wollen und einander Gutes wünschen, in einer Tragödie endet?"Amos Oz
Eine große Familien-Saga, ein Epos vom Leben und Überleben, ein Archiv persönlicher und politischer Ambitionen, ein Buch der Enttäuschungen und der Hoffnung.
Autorenporträt
Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk Eine Geschichte von Liebe und Finsternis wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.

Ruth Achlama, geboren 1945 in Quedlinburg, studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und Bibliothekswissenschaft in Jerusalem. Heute ist sie hauptberuflich als freie Übersetzerin tätig und lebt in Tel Aviv.

Ruth Achlama, geboren 1945, lebt seit 1974 in Israel und übersetzt seit fast dreißig Jahren aus dem Hebräischen ins Deutsche, darunter Werke von Amoz Oz, Abraham B. Jehoschua und Meir Shalev. 2015 wurde sie mit dem ersten "Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis" ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Der Mann, der ein Buch werden wollte
Der große jüdische Roman, endlich aus Israel: Amos Oz' "Geschichte von Liebe und Finsternis" / Von Felicitas von Lovenberg

Wenn es stimmt, daß Amos Oz' autobiographischer Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis", vor zwei Jahren im hebräischen Original erschienen, eines der meistverkauften Bücher in der Geschichte des Staates Israel ist, so ist das die ermutigendste Nachricht, die wir seit langem von dort vernehmen durften. Die Schriftstellerin Batya Gur hat das Werk aufgrund der historischen, politischen und sozialen Ereignisse, die es schildert, sogar zu einer "nationalen Biographie" ausgerufen.

Realistisch betrachtet, gibt es wenig Anlaß zu der Hoffnung, daß dem Roman bei uns ähnlicher Erfolg beschert sein wird: Zwar ist Amos Oz als einer der bedeutendsten Schriftsteller seines Landes international etabliert, doch durch sein pazifistisches Engagement - unermüdlich spricht sich der Mitbegründer der "Frieden jetzt"-Bewegung in Aufsätzen und Artikeln für einen Kompromiß zwischen Israelis und Palästinensern aus - ist er für viele im politischen Kontext präsenter als im literarischen. Auch deshalb gilt es, radikal unbescheiden zu sein und der "Geschichte von Liebe und Finsternis" eine Leserschaft zu wünschen, welche die von Oz' inzwischen fast zwanzig Romanen, darunter "Mein Michael" (1968) und "Black Box" (1987), noch übersteigt. Denn ein erhellenderes, klügeres, vielschichtigeres Buch über Israel, über Familien und das, was Menschen zusammenhält und was sie trennt, kann man niemandem empfehlen. Es ist ein Buch über die enttäuschte Liebe zwischen Kulturen, zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern - und über den Versuch eines einzelnen, all diese Gräben zu überwinden, für sich und für andere.

Oz zeichnet das Porträt eines Jungen, der die in ihn gesetzten Hoffnungen noch übertreffen möchte, und schildert die Kindheitserinnerung eines Mannes, der den Selbstmord seiner Mutter niemals verwinden kann. Und nicht zuletzt erzählt in diesem Roman die Entwicklungsgeschichte eines geförderten Einzelkinds, das Gesellschaft und Geborgenheit nur in Büchern findet und insgeheim davon träumt, dem Papierlabyrinth zu entfliehen und Feuerwehrmann zu werden, zum Schriftsteller, der zudem Einblick in seine Werkstatt gewährt.

Daß dennoch Vorsicht geboten ist, verrät nur ein einziges Wort: "Roman". Zwar beschreibt Amos Oz scheinbar ganz ohne Filter die Geschichte seiner Familie, doch heißt das nicht, daß sich alles so zugetragen hat, wie es seine Schilderungen ausmalen. Der - ihm offenbar häufig gestellten - Frage, was autobiographisch sei an seinen Büchern, widmet er ein ganzes Kapitel. Der "gute Leser", so Oz, versetze sich in die Lage des Erzählers, um das zu empfinden, was dieser empfindet. Dann stelle er Vergleiche an: nicht zwischen der Romanfigur und dem, was er über den Autor weiß, sondern zwischen der Figur und sich selbst. "Und du, frage bitte nicht: Was, sind das wirklich Tatsachen? Geht es bei diesem Autor so zu? Frage dich selbst. Über dich selbst. Und die Antwort kannst du für dich behalten." Es geht bei diesem Buch nicht darum, ob einzelne Geschichten sich tatsächlich so zugetragen haben. Es geht um das, was diese Geschichten mit dem Leser machen, selbst wenn das niemanden etwas angeht - und wie ihr Autor das anstellt.

Zunächst einmal tut er das, indem er mit lebhafter Ausführlichkeit erzählt, ohne je redselig zu werden. In wenigen Sätzen kann er Bilder, Menschen und Situationen so pointiert skizzieren, daß Gerüche, Geräusche und Szenen geradewegs von den Seiten in die Vorstellung aufzusteigen scheinen; wie sich herausstellt, ist dies ein offenbar von der Mutter ererbtes Talent. Oz erzählt mit dem langen Atem derer, die mit Geschichten aufgewachsen sind; er weiß, daß das, was Augen und Ohren aufnehmen, auch im Innern begriffen werden will, und so läßt er sich Zeit. Mit großer Ruhe und Selbstverständlichkeit breitet er seine Geschichte aus, als säße er mit Freunden beisammen, in einer Runde, wo man sich jederzeit ins Wort fallen oder für eine Zigarettenlänge aus dem Raum verschwinden könnte. Mühelos fällt Oz, der schon als "Wörterkind" ebenso munter drauflosredete wie er der Mutter hingebungsvoll zuhörte, von einem Tonfall in den anderen, bringt die Ausdrucksweisen von Großeltern, Eltern, Nachbarn zu Gehör. Die stimmige Übersetzung von Ruth Achlama läßt dabei völlig vergessen, daß dieses Buch nicht auf deutsch geschrieben wurde.

Der Knabe wird nicht nur in die Familien Mussman und Klausner hineingeboren, sondern auch in das Jerusalemer Viertel Kerem Avraham des Jahres 1939: drei kleine, verschachtelte Welten in einer großen - und alle vier im Umbruch. "Der Rest der Welt hieß bei uns gewöhnlich ,die ganze Welt', aber sie hatte auch andere Namen: die aufgeklärte Welt, die freie Welt, die scheinheilige Welt, die Außenwelt. Ich kannte sie fast nur aus meiner Briefmarkensammlung. Die Ganzewelt war fern, anziehend, wunderbar, aber sehr gefährlich und uns feindlich gesinnt: Sie mochte die Juden nicht." Doch auch der Kosmos unmittelbar jenseits der vertrauten Straßenzüge wirkt beunruhigend: "Nicht nur die Ganzewelt, sondern sogar Erez Israel, das Land Israel, war fern. Irgendwo dort, hinter den Bergen, wuchs ein neuer Stamm von heldenhaften Juden heran: braun gebrannt, kräftig, schweigsam und sachlich, ganz anders als die Diasporajuden, ganz anders als die Menschen in Kerem Avraham."

Das weltoffene, kultivierte Jerusalem der britischen Mandatszeit existierte vor allem in träumerischen Vorstellungen der Eltern. Dort trafen sich Juden, Araber und Briten (in der elterlichen Vorstellung rangierte Deutschland "trotz Hitler" höher als Rußland und Polen, während Frankreich wiederum Deutschland übertraf und England alle beide); dort flanierten Gelehrte "von Weltruf", fanden Konzerte, Bälle, literarische Salons, Tanztees und Kunsterörterungen statt. Wie anders war dagegen das vor allem von Russen bewohnte, ärmliche Kerem Avraham - wenn auch nicht weniger von Literatur durchdrungen: "Unser Viertel gehörte Tschechow." Und Tolstoj: "Die Tolstojaner waren ausnahmslos alle fanatische Vegetarier, Weltverbesserer, Moralapostel, Freunde der Menschheit, Freunde eines jeden Lebewesens, von tiefem Naturempfinden durchdrungen, und sie alle sehnten sich nach dem Landleben." In solchen ironisch-epischen Beschreibungen wird die tiefe Enttäuschung, welche viele Juden nach ihrer Ankunft in der neuen Heimat empfanden, nicht nur behauptet, sondern spürbar, ebenso wie der hilflose, trotzige Zionismus, mit dem manche ihre Ernüchterung zu verbergen suchten.

Weit ist in der Kellerwohnung allein der geistige Horizont: Der Vater Arie Klausner, dessen Familie aus Odessa nach Jerusalem flüchtete, arbeitet als Bibliothekar in der Nationalbibliothek. Der verhinderte Akademiker, der sieben Sprachen beherrscht und Wortspiele liebt, weil er die Stille fürchtet, ein Verstandesmensch durch und durch, "rational sogar noch im Schlaf", steckt seine frustrierten Ambitionen in literaturwissenschaftliche Studien, während Mutter Fania Privatunterricht gibt. Sie ist es, die dem Sohn - zum Mißfallen des ernsthaften Papas - Geschichten voller Mystik und Magie erzählt, bevölkert von Riesen, Hexen und Feen. Aus einem vermögenden, gebildeten Elternhaus stammend, wuchs sie im polnischen Rowno auf, einer Stadt, in der Juden, Ukrainer, Polen, Russen, Tschechen und Deutsche früher friedlich miteinander gelebt hatten. Wenn sie nicht wollen, daß der Sohn sie versteht, sprechen die Eltern russisch miteinander.

So viel in der kleinen Familie geredet und so wenig dabei gesagt wird, teilen doch alle eine Eigenschaft: die Büchersucht. Dichter und Schriftsteller ihrer Bekanntschaft, darunter Scha'ul Tschernikowski und Samuel Agnon, werden fast als Heilige verehrt. So hat Amos sein Lebensziel bald identifiziert: "Als kleiner Junge wollte ich, wenn ich einmal groß wäre, ein Buch werden. Nicht Schriftsteller, sondern ein Buch: Menschen kann man wie Ameisen töten. Auch Schriftsteller umzubringen ist nicht schwer. Aber Bücher - selbst wenn man versuchte, sie systematisch zu vernichten, bestand immer die Chance, daß irgendein Exemplar überlebte und sich weiterhin eines Regallebens in einer Ecke einer abgelegenen Bibliothek erfreute."

Existentiell sind Politik und Privatleben miteinander verwoben. Oz versteht es, dies ohne langwierige erklärende Einschübe, sondern allein am Verhalten der Menschen zu zeigen. So entsteht ein Bild des bedrückenden Jerusalemer Alltags Anfang der vierziger Jahre noch in kleinsten Details: "Bei uns in Jerusalem ging man immer ein wenig wie ein Trauernder bei einer Beerdigung oder wie jemand, der verspätet einen Konzertsaal betritt. Zunächst setzt man tastend die Schuhspitze auf, um vorsichtig das Terrain zu sondieren. Hat man den Fuß jedoch erst einmal aufgesetzt, hebt man ihn nicht so schnell wieder: Nach zweitausend Jahren haben wir in Jerusalem endlich einen Fuß auf den Boden bekommen, das setzt man nicht gleich wieder aufs Spiel." Die ersehnte Gegenwelt heißt Tel Aviv. "Meer. Licht. Azur. Nicht einfach ein Ort, zu dem du dir einen Fahrschein löst und mit dem Egged-Bus fährst, sondern ein anderer Kontinent."

Im Januar 1952 kauft die Mutter ein Busticket nach Tel Aviv, wo sie sich in der Wohnung ihrer Schwester mit einer Überdosis Tabletten das Leben nimmt: weder Medikamente noch Literatur konnten ihre Depressionen mehr lindern. Behutsam forscht der Sohn, der damals gerade zwölf Jahre alt war, nun den Ursprüngen dieser Traurigkeit nach, um zu verstehen, "warum die Heirat zweier Menschen, die einander Gutes wollen, in einer Tragödie endete". Mit seinem Vater hat er nie darüber gesprochen, auch sonst mit niemandem - "bis zum Schreiben dieser Seiten". Das Gefühl der Scham, das den Jungen überfiel, ist gewichen, nicht aber die Verzweiflung über den Verlust. Während die Mussmans Arie den Rücken kehren, in dessen Affären sie den Grund für Fanias Kummer ausmachen, sind es eher dessen rechtsgerichtete zionistische Ansichten, die nach der Mutter auch den Sohn befremden. Mit fünfzehn Jahren kehrt er dem Vater den Rücken und zieht in den Kibbuz. Mit Schweigen, Selbstbeherrschung und Arbeitseifer reagiert man auch hier auf das Grauen der Vergangenheit. Ohne sie konkret zu thematisieren, beschwört Oz jene Stille, mit der man in Israel jahrzehntelang dem Holocaust und dem Leid der Überlebenden begegnete; die Wortlosigkeit der Großeltern setzt sich in geflüsterten russischen Gesprächen der Eltern fort, deren Inhalt das Kind nicht kennt. Instinktiv spürt es das Leid der Eltern, das der Junge durch besondere Bravheit und Rücksicht zu mindern sucht. Tage- und nächtelang sitzt die Mutter manchmal auf einem Stuhl am Fenster, erfüllt von unaussprechlicher, ansteckender Seelenqual.

Das Bedrückende, von dem es in dieser Jugend trotz der Aufmerksamkeit sämtlicher Verwandten viel gegeben haben muß, scheint bei Oz vor allem zwischen den Zeilen auf. Viele der großen und kleinen Tragödien, wie etwa den Tod seiner zahmen Schildkröte Mimi durch einen Granatsplitter während der Belagerung Jerusalems 1948, verpackt er in Beschreibungen von zarter Komik. Viele Charaktere bleiben unvergeßlich, allen voran die Großmutter Schlomit, die einen Kampf von mythischen Ausmaßen gegen die Mikroben führt, die sie überall wittert. Diese Obsession führt nicht nur zum exzessiven Bügeln, Schrubben und Baden, sondern auch dazu, daß ihr Mann täglich in der ganzen Wohnung Insektenspray verteilen muß. "Meine ganze Kindheit lang sah ich Großvater Alexander am frühen Morgen in Pantoffeln und Unterhemd auf der Veranda stehen und mit aller Kraft auf das Bettzeug eindreschen wie Don Quichotte auf die Weinschläuche . . . Großmutter Schlomit stand dabei einige Schritte hinter ihm - größer als er, den geblümten seidenen Morgenrock bis zum letzten Knopf zugeknöpft, streng und aufrecht wie die Direktorin eines Pensionats für höhere Töchter -, so inspizierte sie das Schlachtfeld bis zum täglichen Sieg."

Dieser zugewandte, niemals spöttische Humor, die zärtliche Aufmerksamkeit, mit der auch kleinste Einzelheiten registriert werden, läßt die Atmosphäre jener Zeit unmittelbar lebendig werden. Manches Mal werden dabei auch historische Momente sinnfällig, etwa wenn das Kind in der Nacht vom 30. November 1947 aufwacht, weil gespenstische Ruhe in der Stadt herrscht: Die Abstimmung der Uno-Vollversammlung über die Teilung Palästinas geht dem Ende entgegen. Als die Radiostimme mitteilt, der Vorschlag sei angenommen, ertönt aus der euphorisierten Menschenmenge ein Schrei "der Steine erschütterte und das Blut in den Adern gefrieren ließ, als hätte sich für alle bereits Getöteten und alle, die noch getötet werden würden, in diesem einen Augenblick ein Fenster zum Aufschreien geöffnet, das gleich wieder zuschlug". Aus vielen subjektiven Wahrheiten entsteht ein differenziertes Bild nicht nur des langen Kampfes zwischen Juden und Arabern, sondern auch von der Gründung des Staates Israel, von den zerstörten Hoffnungen, die ihr vorangingen, sie begleiteten und ihr folgten. Eingebettet ist die eigenwillige und doch exemplarische Geschichte der Familien Mussman und Klausner in eine Liebeserklärung an die Literatur.

Philip Roth ist bei seinen Versuchen, den großen amerikanischen Roman seiner Zeit zu schreiben, mehr als einmal "The Great Jewish Novel" geglückt. Jetzt kommt ein Buch, das ein solches Etikett verdient hat, endlich einmal aus Israel. Und es liegt nicht allein an den literarischen Qualitäten, wenn Amos Oz' "Geschichte von Liebe und Finsternis" diesen Titel zu Recht trägt.

Was dieses Buch auszeichnet, ist etwas so ganz und gar Ungewöhnliches, daß man einige hundert Seiten braucht, um zu begreifen, was es ist: Anstand. Es ist durchdrungen von einer Eigenschaft, die mit Güte nur unzureichend beschrieben ist, eher ist es eine wohlwollende Aufmerksamkeit, die hochherzige Annahme, daß der Mensch im Innersten gut ist. Oz erzählt in der Tat eine "Geschichte von Liebe und Finsternis", doch verortet er die Düsternis nicht in den Abgründen der Seele, sondern in dem, was Menschen einander manchmal antun, ohne es zu wollen.

Man müsse, so erklärt Vater Mussman seiner Tochter, "eine Eigenschaft suchen, die ganz und gar nicht aufregend ist, aber seltener als Gold: Anstand. Und vielleicht auch Liebenswürdigkeit. Heute, mußt du wissen, heute ist Anstand in meinen Augen noch wichtiger als Liebenswürdigkeit: Anstand, das ist das Brot. Liebenswürdigkeit, das ist schon die Butter. Oder der Honig."

Amos Oz hat ein Buch geschrieben, das durchdrungen ist von Anstand, Milde und Liebenswürdigkeit, von Klugheit und Herzensbildung. Literatur in ihrer reinsten, strahlendsten, weil menschenfreundlichsten Form. Ganz selten trifft man im Leben Menschen, für die man selbst ein besserer Mensch sein möchte. Ebenso selten ist die Begegnung mit Büchern, vor denen man nicht nur als Leser, sondern auch als Charakter bestehen möchte. Hier haben wir einen solchen Roman. Und so konnte es geschehen, daß Amos Oz sich und uns einen Traum erfüllt hat: Er ist ein Schriftsteller geworden, aber auch ein Buch.

Amos Oz: "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 765 S., geb., 26,80 [Euro].

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"... zweifellos ein Gipfelpunkt seines bisherigen Schaffens"
Tilman Krause, DIE WELT
»... Oz ist ein so virtuoser wie kurzweiliger Erzähler.« Frank Heer NZZ am Sonntag 20241124
"Nicht nur eines der klügsten Bücher, die je über Israel geschrieben wurden, sondern auch der bewegendste Roman des Jahres."