»Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, mögen nicht wahr sein, aber sie sind alles, was wir haben.«
Wir alle erzählen Geschichten - Schriftsteller alleine für sich, wir für andere, gemeinsam mit einem Therapeuten, um das Rätsel unserer Biographie zu lösen. Wir sind von Geschichten umstellt und spinnen sie in einem fort. Doch steckt überhaupt eine Wahrheit hinter den Varianten, Versuchen, Projektionen?
J. M. Coetzee geht in seinem Austausch und Briefwechsel mit der Psychotherapeutin Arabella Kurtz diesen Fragen nach. Ausgehend von seiner eigenen Arbeit, mit Exkursen zu Dostojewskij und Cervantes sowie Rückgriffen auf das eigene Leben, diskutieren sie Antworten in dem von Sigmund Freud und Melanie Klein abgesteckten Feld.
»Coetzees Stil ist wie immer eindringlich und konzentriert ... Kurtz erweckt die psychoanalytischen Konzepte und Praxis mit einer seltenen Präzision und Unmittelbarkeit zum Leben.«
Literary Review
Wir alle erzählen Geschichten - Schriftsteller alleine für sich, wir für andere, gemeinsam mit einem Therapeuten, um das Rätsel unserer Biographie zu lösen. Wir sind von Geschichten umstellt und spinnen sie in einem fort. Doch steckt überhaupt eine Wahrheit hinter den Varianten, Versuchen, Projektionen?
J. M. Coetzee geht in seinem Austausch und Briefwechsel mit der Psychotherapeutin Arabella Kurtz diesen Fragen nach. Ausgehend von seiner eigenen Arbeit, mit Exkursen zu Dostojewskij und Cervantes sowie Rückgriffen auf das eigene Leben, diskutieren sie Antworten in dem von Sigmund Freud und Melanie Klein abgesteckten Feld.
»Coetzees Stil ist wie immer eindringlich und konzentriert ... Kurtz erweckt die psychoanalytischen Konzepte und Praxis mit einer seltenen Präzision und Unmittelbarkeit zum Leben.«
Literary Review
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Katharina Granzin kann Leben und Literatur auf neue Weise zusammendenken mit J. M. Coetzees und Arabella Kurtz' Gesprächsbuch. Ausschlaggebend dafür ist für Granzin, wie unterschiedlich die beiden Autoren, er Schriftsteller, sie Psychotherpeutin, Themen wie die Bedeutung des Geschichtenerzählens oder die Frage nach dem Ich angehen. Sie möglichst objektiv, fachlich, er subjektiv, unter Verwendung von eigenen Erlebnissen und Prägungen. Herauskommt dabei kein Sach- oder Fachbuch, das Fragen beantwortet, meint Granzin, sondern ein offener Text, der es den beiden Gesprächspartnern ermöglicht, extensiv ihre Gedanken zu entwickeln und der bei der Leserin idealerweise Fragen aufwirft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2017Ist Erzählen die
bessere Therapie?
Der Schriftsteller J. M. Coetzee und die Psychologin
Arabella Kurtz fragen, was ihre Berufe verbindet
VON NICOLAS FREUND
In seinem Roman „Schande“ (1999) erzählt J. M. Coetzee die Geschichte von David Lurie, einem wegen einer Affäre mit seiner Studentin Melanie in Ungnade gefallenen Literaturprofessor. Die ehemaligen Kollegen von der Universität in Kapstadt halten Abstand zu ihm, das Verhältnis zu seiner Tochter ist zerrüttet. Und Melanies Freund rät ihm drohend, er solle sich besser an seinesgleichen halten. Der Roman deutet es zunächst nur an: In vielen Lebenswelten bricht die auch Jahre nach dem Ende der Apartheid anhaltende Spannung zwischen schwarzen und weißen Südafrikanern als rohe Gewalt hervor.
Seit den späten Neunzigerjahren zieht sich die Frage nach dem richtigen Verhältnis zum anderen und zu uns selbst durch die Texte Coetzees. Viele Begegnungen und Konfrontationen inszeniert er als Planspiele um Schuld, Verlangen und komplexe ethische Probleme. Oft sind sie schonungslose Erkundungen des Selbst, das erst im Spiegel des anderen und dessen Reaktionen erkannt werden kann. In „Sommer des Lebens“ aus dem Jahr 2009 entsteht aus fiktiven Interviews der dritte Teil seiner verfremdeten Autobiografie, im „Tagebuch eines schlimmen Jahres“ (2007) berichten drei verschiedene Erzählstimmen parallel, und 2013 erschien das bisher konsequenteste Werk der Selbsterkundung in Form eines Briefwechsels mit dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster. Dort stellt Coetzee zwei Perspektiven auf die selben Themen und auf den jeweils anderen einander gegenüber. Im selben Zeitraum, von 2008 an, initiierte er einen ähnlichen Dialog mit der britischen Psychoanalytikerin und Hochschuldozentin Arabella Kurtz. Dieser Austausch liegt nun als Buch vor.
In den Geisteswissenschaften gehören mindestens die Grundzüge der Psychoanalyse zum Basiswissen, in der klinischen Psychologie werden die Ideen Freuds dagegen, vor allem in Deutschland und bei Nicht-Psychologen, mit Skepsis behandelt. So wurde die Psychoanalyse in der deutschen Ausgabe auch gleich aus dem Titel verbannt. Dort heißt es etwas kryptisch „Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie“. Dabei ist es gerade die Nähe von Geisteswissenschaft, Literatur und Psychoanalyse, die diesen Text überhaupt möglich gemacht hat. Coetzees Anliegen ist doppelbödig, da er viele der Fragen, die ihn als Romanautor interessieren, auf sich selbst anwendet. So ist es auch meist Coetzee, der zu den in elf Teile gegliederten Diskussionen den Anstoß gibt. Er verfolgt eine Agenda, Arabella Kurtz, die Therapeutin, tritt in der Rolle der Ratgeberin auf.
An die Stelle des Verhältnisses von Therapeutin und Patient tritt, ähnlich wie im Briefwechsel Coetzees mit Paul Auster, die Gegenüberstellung zweier verschiedener Perspektiven auf ähnliche Probleme. Coetzee, als Romanautor ein Experte im Geschichtenerzählen, fragt nach dem Wahrheitsanspruch, den man an seine Lebensgeschichte hat oder haben sollte, wenn man sich in eine Psychoanalyse-Sitzung begibt. Könnte nicht eine teilweise oder vollkommen erfundene Geschichte die bessere sein, wenn sie dem Patienten hilft?
Arabella Kurtz hat auf Coetzees nahezu unbeantwortbare Fragen meist eine pragmatische Antwort parat, etwa die, dass der Begriff der Wahrheit in der Psychoanalyse nicht auf philosophischem Fundament fuße, sondern dem „Wesen nach dynamisch“ sei, da er „aus der Perspektive eines Lebewesens abgeleitet ist, dessen äußere und innere Charakteristika sich im Laufe der Zeit ändern“. Im Vorwort warnen beide Autoren den Leser, er müsse sich auf Wiederholungen und Widersprüche gefasst machen. „Eine gute Geschichte“ sei kein durchkomponiertes, wasserdichtes Theoriekonstrukt, sondern ein Experiment, bei dem an der Schnittstelle von Wahrheit und Fiktion ein Text entsteht.
Gespenstisch aktuell lesen sich die Kapitel über Gruppenverhalten, nicht nur vor dem Hintergrund von Coetzees Wurzeln im Südafrika der Apartheid, sondern auch im Kontext der aktuell erstarkenden nationalistischen und populistischen Bewegungen auf der ganzen Welt. Jede große Gruppe, auch eine Nation, erzählt sich eine eigene Geschichte. So blickt die heute lebende Generation weißer Südafrikaner Coetzee zufolge auf den Rassismus der früheren Generationen wie auf eine Krankheit zurück, für die niemand verantwortlich ist. „Ihr Rassismus war kein aktiver, bewusster Rassismus. Sie fingen ihn sich ein, wie man sich die Grippe einfängt.“ So lässt es sich bequem mit der Vergangenheit leben. Doch glauben genug Menschen an die selbe Sache, kann man ihnen dann noch den Wahrheitsstatus gänzlich absprechen?
„Eine Gruppe ohne Feinde ist unvorstellbar“, schreibt Coetzee. Aus der Gruppendynamik von Kindern heraus könnten beispielsweise Dinge geschehen, die für ein Individuum unvorstellbar seien. Kurtz vertritt die These, „dass wir die Teile von uns, die wir loshaben oder von denen wir nichts wissen wollen, auf andere projizieren“. Und in dieser Angewohnheit stecke ein großes Gewaltpotenzial.
Das sind psychoanalytische Gemeinplätze. Die Art jedoch, in der Coetzee und Kurtz sie hinterfragen, wenden, aus Therapiesitzungen und literarischen Quellen neu herleiten, gibt ihnen eine Tiefe und Lebendigkeit zurück, die sie in ihrer akademisch institutionalisierten Allgemeingültigkeit weitgehend eingebüßt haben. Als Leser kann man sich in der mäandernden Debatte beim Wechsel der Blickwinkel selbst wiederfinden. „Die Geschichten, die wir über unser Leben erzählen, sind vielleicht keine akkurate Widerspiegelung“, schreibt Coetzee. „Aber sie sind schlicht das Einzige, was wir haben.“
J. M. Coetzee und Arabella Kurtz: Eine gute Geschichte. Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 256 Seiten, 24 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Der Dialog der beiden gibt
bekannten Vorstellungen eine
neue Tiefe und Lebendigkeit
Dialog als Selbsterforschung: der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee.
Foto: Tiziana FABI / AFP PHOTO
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bessere Therapie?
Der Schriftsteller J. M. Coetzee und die Psychologin
Arabella Kurtz fragen, was ihre Berufe verbindet
VON NICOLAS FREUND
In seinem Roman „Schande“ (1999) erzählt J. M. Coetzee die Geschichte von David Lurie, einem wegen einer Affäre mit seiner Studentin Melanie in Ungnade gefallenen Literaturprofessor. Die ehemaligen Kollegen von der Universität in Kapstadt halten Abstand zu ihm, das Verhältnis zu seiner Tochter ist zerrüttet. Und Melanies Freund rät ihm drohend, er solle sich besser an seinesgleichen halten. Der Roman deutet es zunächst nur an: In vielen Lebenswelten bricht die auch Jahre nach dem Ende der Apartheid anhaltende Spannung zwischen schwarzen und weißen Südafrikanern als rohe Gewalt hervor.
Seit den späten Neunzigerjahren zieht sich die Frage nach dem richtigen Verhältnis zum anderen und zu uns selbst durch die Texte Coetzees. Viele Begegnungen und Konfrontationen inszeniert er als Planspiele um Schuld, Verlangen und komplexe ethische Probleme. Oft sind sie schonungslose Erkundungen des Selbst, das erst im Spiegel des anderen und dessen Reaktionen erkannt werden kann. In „Sommer des Lebens“ aus dem Jahr 2009 entsteht aus fiktiven Interviews der dritte Teil seiner verfremdeten Autobiografie, im „Tagebuch eines schlimmen Jahres“ (2007) berichten drei verschiedene Erzählstimmen parallel, und 2013 erschien das bisher konsequenteste Werk der Selbsterkundung in Form eines Briefwechsels mit dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster. Dort stellt Coetzee zwei Perspektiven auf die selben Themen und auf den jeweils anderen einander gegenüber. Im selben Zeitraum, von 2008 an, initiierte er einen ähnlichen Dialog mit der britischen Psychoanalytikerin und Hochschuldozentin Arabella Kurtz. Dieser Austausch liegt nun als Buch vor.
In den Geisteswissenschaften gehören mindestens die Grundzüge der Psychoanalyse zum Basiswissen, in der klinischen Psychologie werden die Ideen Freuds dagegen, vor allem in Deutschland und bei Nicht-Psychologen, mit Skepsis behandelt. So wurde die Psychoanalyse in der deutschen Ausgabe auch gleich aus dem Titel verbannt. Dort heißt es etwas kryptisch „Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie“. Dabei ist es gerade die Nähe von Geisteswissenschaft, Literatur und Psychoanalyse, die diesen Text überhaupt möglich gemacht hat. Coetzees Anliegen ist doppelbödig, da er viele der Fragen, die ihn als Romanautor interessieren, auf sich selbst anwendet. So ist es auch meist Coetzee, der zu den in elf Teile gegliederten Diskussionen den Anstoß gibt. Er verfolgt eine Agenda, Arabella Kurtz, die Therapeutin, tritt in der Rolle der Ratgeberin auf.
An die Stelle des Verhältnisses von Therapeutin und Patient tritt, ähnlich wie im Briefwechsel Coetzees mit Paul Auster, die Gegenüberstellung zweier verschiedener Perspektiven auf ähnliche Probleme. Coetzee, als Romanautor ein Experte im Geschichtenerzählen, fragt nach dem Wahrheitsanspruch, den man an seine Lebensgeschichte hat oder haben sollte, wenn man sich in eine Psychoanalyse-Sitzung begibt. Könnte nicht eine teilweise oder vollkommen erfundene Geschichte die bessere sein, wenn sie dem Patienten hilft?
Arabella Kurtz hat auf Coetzees nahezu unbeantwortbare Fragen meist eine pragmatische Antwort parat, etwa die, dass der Begriff der Wahrheit in der Psychoanalyse nicht auf philosophischem Fundament fuße, sondern dem „Wesen nach dynamisch“ sei, da er „aus der Perspektive eines Lebewesens abgeleitet ist, dessen äußere und innere Charakteristika sich im Laufe der Zeit ändern“. Im Vorwort warnen beide Autoren den Leser, er müsse sich auf Wiederholungen und Widersprüche gefasst machen. „Eine gute Geschichte“ sei kein durchkomponiertes, wasserdichtes Theoriekonstrukt, sondern ein Experiment, bei dem an der Schnittstelle von Wahrheit und Fiktion ein Text entsteht.
Gespenstisch aktuell lesen sich die Kapitel über Gruppenverhalten, nicht nur vor dem Hintergrund von Coetzees Wurzeln im Südafrika der Apartheid, sondern auch im Kontext der aktuell erstarkenden nationalistischen und populistischen Bewegungen auf der ganzen Welt. Jede große Gruppe, auch eine Nation, erzählt sich eine eigene Geschichte. So blickt die heute lebende Generation weißer Südafrikaner Coetzee zufolge auf den Rassismus der früheren Generationen wie auf eine Krankheit zurück, für die niemand verantwortlich ist. „Ihr Rassismus war kein aktiver, bewusster Rassismus. Sie fingen ihn sich ein, wie man sich die Grippe einfängt.“ So lässt es sich bequem mit der Vergangenheit leben. Doch glauben genug Menschen an die selbe Sache, kann man ihnen dann noch den Wahrheitsstatus gänzlich absprechen?
„Eine Gruppe ohne Feinde ist unvorstellbar“, schreibt Coetzee. Aus der Gruppendynamik von Kindern heraus könnten beispielsweise Dinge geschehen, die für ein Individuum unvorstellbar seien. Kurtz vertritt die These, „dass wir die Teile von uns, die wir loshaben oder von denen wir nichts wissen wollen, auf andere projizieren“. Und in dieser Angewohnheit stecke ein großes Gewaltpotenzial.
Das sind psychoanalytische Gemeinplätze. Die Art jedoch, in der Coetzee und Kurtz sie hinterfragen, wenden, aus Therapiesitzungen und literarischen Quellen neu herleiten, gibt ihnen eine Tiefe und Lebendigkeit zurück, die sie in ihrer akademisch institutionalisierten Allgemeingültigkeit weitgehend eingebüßt haben. Als Leser kann man sich in der mäandernden Debatte beim Wechsel der Blickwinkel selbst wiederfinden. „Die Geschichten, die wir über unser Leben erzählen, sind vielleicht keine akkurate Widerspiegelung“, schreibt Coetzee. „Aber sie sind schlicht das Einzige, was wir haben.“
J. M. Coetzee und Arabella Kurtz: Eine gute Geschichte. Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 256 Seiten, 24 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Der Dialog der beiden gibt
bekannten Vorstellungen eine
neue Tiefe und Lebendigkeit
Dialog als Selbsterforschung: der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee.
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Die Art, in der sie psychoanalytische Gemeinplätze hinterfragen, wenden, aus Therapiesitzungen und Quellen neu herleiten, gibt ihnen Tiefe und Lebendigkeit zurück Nicolas Freund Süddeutsche Zeitung 20170103