In England wurde Seths monumentales Indien-Epos "Eine gute Partie" als literarische Sensation gefeiert. Es beginnt in den Jahren nach der indischen Unabhängigkeit, als sich das Land auf die ersten allgemeinen Wahlen vorbereitet. Das Leben vierer Großfamilien wird erzählt - vor dem Hintergrund sozialer, politischer und religiöser indischer Wirklichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2006Der Wortangler
Der indische Erfolgsautor Vikram Seth hat ein großartiges Buch über einen einarmigen Zahnarzt geschrieben
VON SASCHA LEHNARTZ
Im Frühjahr 1993 veröffentlichte Vikram Seth den dicksten englischsprachigen Roman, seit Samuel Richardson 1747 die lesende Welt mit "Clarissa" beglückt hatte. Richardsons Roman bestand aus 537 Briefen. Seths Roman hieß "A Suitable Boy" - auf deutsch "Eine gute Partie" - und enthielt etwas mehr als 800000 Wörter. Das machte 1366 Seiten. Nach dieser sportlichen Leistung war Vikram Seth verständlicherweise leicht erschöpft. Nicht nur vom Schreiben des Epos, in dem er die Lebenswege der Mitglieder von vier Familien im Indien der fünfziger Jahre nachzeichnet. Auch der Presserummel war gewaltig. Seth, ein studierter Ökonom, hatte von seinen indischen, britischen und amerikanischen Verlegern 1,1 Millionen Dollar Vorschuß für sein Buch erhalten, die höchste Summe, die ein indischer Autor bis dato für ein belletristisches Werk bekommen hatte. Entsprechend groß war das Interesse. Als golden boy fand sich der Autor auf den Titelseiten zahlreicher Zeitschriften wieder. "Eine gute Partie" erfüllte die Erwartungen und wurde ein internationaler Bestseller. Seth war nun neben Salman Rushdie der zweite große Name der zeitgenössischen indischen Literatur - und ein Schriftsteller auf der Suche nach einem neuen Thema.
In Indien, soviel wußte Seth, sollte sein nächstes Buch nicht spielen. Doch ansonsten tat er sich mit der Stoffwahl schwer. Da mischte sich seine Mutter ein, als sie ihren mittlerweile in London lebenden Sohn besuchte: Er könne doch über seinen Großonkel Shanti schreiben, der habe schließlich ein interessantes Leben gehabt. Shanti lebte damals in London, wo er lange Jahre als Zahnarzt praktiziert hatte, obwohl er im Krieg einen Arm verloren hatte. Er war mit einer deutschen Jüdin, Henny Caro, verheiratet gewesen, die einige Jahre zuvor gestorben war. Vikram Seth hatte als Siebzehnjähriger eine Weile bei den Verwandten gewohnt. Tante Henny hatte ihm Deutsch beigebracht.
Andere Autoren hätten einen derartigen mütterlichen Themenvorschlag vermutlich als gut gemeint, aber laienhaft abgetan. Doch bei den Seths ist manches anders. Vikrams Mutter Leila ist die erste indische Frau, die es zur Richterin am obersten Gericht eines Bundesstaates gebracht hat, und selbst eine renommierte Autorin. Ihre Autobiographie "On Balance" war in Indien ein Bestseller. Außerdem hatte Vikram Seth mit der Verarbeitung und Verfremdung von Mitgliedern seiner Familie bereits in "Eine gute Partie" gute Erfahrungen gemacht. Für das Buch, das er sechs Jahre lang im Hause seiner Eltern schrieb, habe er die weitverzweigte Familie in mehrfacher Hinsicht "ausgepreßt wie eine Zitrone", gibt er lächelnd zu.
Dennoch zögerte er, dem Rat seiner Mutter zu folgen, da er sich nicht sicher war, ob sein damals 85 Jahre alter Großonkel die Idee schätzen würde, in eine literarische Figur verwandelt zu werden. Seths Mutter räumte diese Bedenken aus, indem sie Onkel Shanti prompt fragte - und der war begeistert. So begann Vikram Seth 1994 seinen Großonkel über dessen Leben auszufragen, in stundenlangen Sitzungen, bis der Onkel 1999 kurz vor seinem 90. Geburtstag starb.
Sieben Jahre später liegt, was aus diesen Gesprächen erwuchs, als Buch vor (S. Fischer, 22,90 Euro). Es heißt "Zwei Leben", aber das ist eine Untertreibung. Denn Vikram Seth zeichnet nicht nur die Lebenswege seines Onkels und seiner Tante nach, er schreibt zugleich einen Teil seiner Autobiographie und liefert darüber hinaus ein Sittengemälde des 20. Jahrhunderts aus doppelter Perspektive, aus indischer und europäischer Sicht. Das hätte des Guten zuviel werden können, aber es ist ein erstaunliches, ein zauberhaftes, ein umwerfendes Buch geworden. Die ursprünglichen Zweifel seines Autors - "Wer will schon ein Buch über einen einarmigen Zahnarzt lesen?" - werden auf jeder Seite widerlegt.
Shanti Behari Seth und seine Frau Henny haben zwei getrennte und ein gemeinsames Leben geführt, wie sie ein Romanautor kaum hätte erfinden können. Bei der Rekonstruktion half dem Autor ein ausgesprochen romanhafter Zufall: Nach dem Tod seines Onkels fand Vikram Seths Vater bei der Auflösung des Haushalts auf dem Dachboden eine Truhe mit Briefen und persönlichen Dokumenten von Tante Henny. Erst durch diese Zeugnisse gewann das zweite Leben ebenso an Konturen wie die Charaktere des Freundeskreises, in dem sich Shanti und Henny im Berlin der dreißiger Jahre bewegt hatten. Im Alter von 22 Jahren, 1931, war Shanti Behari Seth nach Berlin gekommen, um Zahnmedizin zu studieren. Bei Hennys Mutter in Charlottenburg bezog er ein Zimmer zur Untermiete, obwohl Henny ihrer Mutter zunächst noch geraten hatte: "Nimm den Schwarzen nicht." Bald darauf jedoch war "der Schwarze" in den Freundeskreis der beiden Töchter der Vermieterin aufgenommen. Fünf Jahre blieb Shanti in Berlin und erlebte mit, wie sich die Herrschaft der Nationalsozialisten auf den Alltag des Freundeskreises auswirkte, der aus jüdischen und nichtjüdischen Deutschen bestand. 1936 ging er nach England. Als der Krieg ausbrach, meldete er sich als Arzt zur britischen Armee. Bei der Schlacht von Monte Cassino verlor er seinen rechten Arm. Henny gelang es 1939 zu emigrieren, ihre Mutter und ihre Schwester wurden in Auschwitz ermordet. Ihr Verlobter, der selbst Halbjude war, trennte sich mit Verweis auf die politischen Umstände brieflich von ihr. Lange nach dem Krieg, 1951, heiratete sie Shanti, weil er der einzige war, "der verstand, was ich durchgemacht habe", wie sie in einem ihrer Briefe schrieb.
Es sind diese Briefe, Briefe zwischen Henny und Shanti während des Krieges, vor allem aber die Korrespondenz zwischen Henny und ihren in Deutschland gebliebenen Freunden nach dem Krieg, die das Herz des Buches ausmachen. Vikram Seth hat sie kunstvoll arrangiert und sich selbst als Erzähler zurückgenommen, weil er um die Kraft seines Materials wußte. "Jede Person kommt so klar gezeichnet durch diese Briefe hervor", erzählt er beim Gespräch in seinem Haus im Südwesten von London und zeigt einige der Briefe. "Gelebte Geschichte" scheint das Material zu hauchen. "Diese Leute schreiben so gut über ihre Zeit, so interessant, humorvoll und bewegend", schwärmt Seth. "Wenn etwas besser ist als das, was man selbst erfinden könnte, dann ist es das, was man dem Leser präsentieren sollte."
Dabei hatte ihm während der Arbeit an dem Material ein Experte für die Nazi-Zeit noch geraten, er solle das besser als Fiktion schreiben, es gebe eh zu viele Sachbücher über die Zeit. Nur durch Fiktion werde die Periode wieder lebendig - fand ausgerechnet Daniel Goldhagen, den Seth bei einem Abendessen kennengelernt hatte. "Das war sicher gut gemeint, aber für mich ging das nicht", sagt Seth. "Ich wollte einfach nicht, daß ein Leser an der Wahrheit irgendeines dieser Briefe zweifeln könnte."
Vikram Seth ist ein charmanter Plauderer, aber ein Gespräch mit ihm kann einschüchternd sein, denn es führt dem Gesprächspartner binnen kurzer Zeit all jene Felder vor Augen, in denen er sich - im Gegensatz zu Seth - nicht auskennt. Im Laufe eines Nachmittages kommt da einiges zusammen. Seths Sprache ist schwungvoll und gewählt. Sie verrät die noble akademische Ausbildung, die er genoß. In Indien besuchte er Doon, eine Schule, die als indisches Eton gilt. Später studierte er in Oxford und an der Stanford-Universität, wo er elf Jahre darauf verwandte, seinen "Doktor in Ökonomie nicht zu machen", wie er sagt. Statt dessen ließ er sich durch die Lektüre Puschkins in Kalifornien dazu inspirieren, einen Versroman mit dem Titel "The Golden Gate" zu schreiben. Damit gelang ihm der Durchbruch als Schriftsteller - nachdem Dutzende Verlage das Manuskript zunächst abgelehnt hatten.
Seth zitiert hier mal eben Heines Gedicht "Sie erlischt" auf deutsch, führt dann seine Fertigkeiten im Lesen deutscher Schrift vor, die er erlernte, um die Briefe zu entziffern, erklärt kurz darauf den visuellen Aspekt chinesischer Lyrik, bevor er sich einigen musiktheoretischen Überlegungen überläßt. Er kann eine prima Tiefkühlpizza zubereiten und beherrscht Hindi, Urdu, Englisch, Deutsch, Französisch sowie Chinesisch. Arabisch lernt er gerade.
Das Haus, das er bewohnt, ist ein altes Pfarrhaus aus dem 16. Jahrhundert, in dem einst ein britischer Dichter lebte, den man leider ebensowenig nennen darf wie den Ort, da Seth um seine ländliche Ruhe fürchtet. Er hat noch ein Apartment in London und ein Haus in Noida, einem Vorort von Delhi, wenige Schritte vom Haus seiner Eltern. Seth lebt alleine. "Ich bin Single, werde aber besucht", sagt er verschmitzt bei einem Spaziergang in Gummistiefeln über sein großzügiges Grundstück. Seth hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er sich für beide Geschlechter interessiert, es aber auch nie an die große Glocke gehängt. Ein Steg führt über einen kleinen Bach in wilde Wiesen. Seth schätzt dieses Idyll, allerdings ist er weder Angler noch Jäger, was sich hier eigentlich anböte. Statt nach Tieren angelt er lieber nach Worten. Jeden Strauch und jedes Pflänzchen kann er benennen. Den Besucher bringt er durch Fragen nach den deutschen Namen gelegentlich in Verlegenheit. Aha, Gänseblümchen hießen die daisies also auf deutsch, das sei ja interessant. "Warum denn ausgerechnet Gänseblümchen?" Gute Frage eigentlich.
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Der indische Erfolgsautor Vikram Seth hat ein großartiges Buch über einen einarmigen Zahnarzt geschrieben
VON SASCHA LEHNARTZ
Im Frühjahr 1993 veröffentlichte Vikram Seth den dicksten englischsprachigen Roman, seit Samuel Richardson 1747 die lesende Welt mit "Clarissa" beglückt hatte. Richardsons Roman bestand aus 537 Briefen. Seths Roman hieß "A Suitable Boy" - auf deutsch "Eine gute Partie" - und enthielt etwas mehr als 800000 Wörter. Das machte 1366 Seiten. Nach dieser sportlichen Leistung war Vikram Seth verständlicherweise leicht erschöpft. Nicht nur vom Schreiben des Epos, in dem er die Lebenswege der Mitglieder von vier Familien im Indien der fünfziger Jahre nachzeichnet. Auch der Presserummel war gewaltig. Seth, ein studierter Ökonom, hatte von seinen indischen, britischen und amerikanischen Verlegern 1,1 Millionen Dollar Vorschuß für sein Buch erhalten, die höchste Summe, die ein indischer Autor bis dato für ein belletristisches Werk bekommen hatte. Entsprechend groß war das Interesse. Als golden boy fand sich der Autor auf den Titelseiten zahlreicher Zeitschriften wieder. "Eine gute Partie" erfüllte die Erwartungen und wurde ein internationaler Bestseller. Seth war nun neben Salman Rushdie der zweite große Name der zeitgenössischen indischen Literatur - und ein Schriftsteller auf der Suche nach einem neuen Thema.
In Indien, soviel wußte Seth, sollte sein nächstes Buch nicht spielen. Doch ansonsten tat er sich mit der Stoffwahl schwer. Da mischte sich seine Mutter ein, als sie ihren mittlerweile in London lebenden Sohn besuchte: Er könne doch über seinen Großonkel Shanti schreiben, der habe schließlich ein interessantes Leben gehabt. Shanti lebte damals in London, wo er lange Jahre als Zahnarzt praktiziert hatte, obwohl er im Krieg einen Arm verloren hatte. Er war mit einer deutschen Jüdin, Henny Caro, verheiratet gewesen, die einige Jahre zuvor gestorben war. Vikram Seth hatte als Siebzehnjähriger eine Weile bei den Verwandten gewohnt. Tante Henny hatte ihm Deutsch beigebracht.
Andere Autoren hätten einen derartigen mütterlichen Themenvorschlag vermutlich als gut gemeint, aber laienhaft abgetan. Doch bei den Seths ist manches anders. Vikrams Mutter Leila ist die erste indische Frau, die es zur Richterin am obersten Gericht eines Bundesstaates gebracht hat, und selbst eine renommierte Autorin. Ihre Autobiographie "On Balance" war in Indien ein Bestseller. Außerdem hatte Vikram Seth mit der Verarbeitung und Verfremdung von Mitgliedern seiner Familie bereits in "Eine gute Partie" gute Erfahrungen gemacht. Für das Buch, das er sechs Jahre lang im Hause seiner Eltern schrieb, habe er die weitverzweigte Familie in mehrfacher Hinsicht "ausgepreßt wie eine Zitrone", gibt er lächelnd zu.
Dennoch zögerte er, dem Rat seiner Mutter zu folgen, da er sich nicht sicher war, ob sein damals 85 Jahre alter Großonkel die Idee schätzen würde, in eine literarische Figur verwandelt zu werden. Seths Mutter räumte diese Bedenken aus, indem sie Onkel Shanti prompt fragte - und der war begeistert. So begann Vikram Seth 1994 seinen Großonkel über dessen Leben auszufragen, in stundenlangen Sitzungen, bis der Onkel 1999 kurz vor seinem 90. Geburtstag starb.
Sieben Jahre später liegt, was aus diesen Gesprächen erwuchs, als Buch vor (S. Fischer, 22,90 Euro). Es heißt "Zwei Leben", aber das ist eine Untertreibung. Denn Vikram Seth zeichnet nicht nur die Lebenswege seines Onkels und seiner Tante nach, er schreibt zugleich einen Teil seiner Autobiographie und liefert darüber hinaus ein Sittengemälde des 20. Jahrhunderts aus doppelter Perspektive, aus indischer und europäischer Sicht. Das hätte des Guten zuviel werden können, aber es ist ein erstaunliches, ein zauberhaftes, ein umwerfendes Buch geworden. Die ursprünglichen Zweifel seines Autors - "Wer will schon ein Buch über einen einarmigen Zahnarzt lesen?" - werden auf jeder Seite widerlegt.
Shanti Behari Seth und seine Frau Henny haben zwei getrennte und ein gemeinsames Leben geführt, wie sie ein Romanautor kaum hätte erfinden können. Bei der Rekonstruktion half dem Autor ein ausgesprochen romanhafter Zufall: Nach dem Tod seines Onkels fand Vikram Seths Vater bei der Auflösung des Haushalts auf dem Dachboden eine Truhe mit Briefen und persönlichen Dokumenten von Tante Henny. Erst durch diese Zeugnisse gewann das zweite Leben ebenso an Konturen wie die Charaktere des Freundeskreises, in dem sich Shanti und Henny im Berlin der dreißiger Jahre bewegt hatten. Im Alter von 22 Jahren, 1931, war Shanti Behari Seth nach Berlin gekommen, um Zahnmedizin zu studieren. Bei Hennys Mutter in Charlottenburg bezog er ein Zimmer zur Untermiete, obwohl Henny ihrer Mutter zunächst noch geraten hatte: "Nimm den Schwarzen nicht." Bald darauf jedoch war "der Schwarze" in den Freundeskreis der beiden Töchter der Vermieterin aufgenommen. Fünf Jahre blieb Shanti in Berlin und erlebte mit, wie sich die Herrschaft der Nationalsozialisten auf den Alltag des Freundeskreises auswirkte, der aus jüdischen und nichtjüdischen Deutschen bestand. 1936 ging er nach England. Als der Krieg ausbrach, meldete er sich als Arzt zur britischen Armee. Bei der Schlacht von Monte Cassino verlor er seinen rechten Arm. Henny gelang es 1939 zu emigrieren, ihre Mutter und ihre Schwester wurden in Auschwitz ermordet. Ihr Verlobter, der selbst Halbjude war, trennte sich mit Verweis auf die politischen Umstände brieflich von ihr. Lange nach dem Krieg, 1951, heiratete sie Shanti, weil er der einzige war, "der verstand, was ich durchgemacht habe", wie sie in einem ihrer Briefe schrieb.
Es sind diese Briefe, Briefe zwischen Henny und Shanti während des Krieges, vor allem aber die Korrespondenz zwischen Henny und ihren in Deutschland gebliebenen Freunden nach dem Krieg, die das Herz des Buches ausmachen. Vikram Seth hat sie kunstvoll arrangiert und sich selbst als Erzähler zurückgenommen, weil er um die Kraft seines Materials wußte. "Jede Person kommt so klar gezeichnet durch diese Briefe hervor", erzählt er beim Gespräch in seinem Haus im Südwesten von London und zeigt einige der Briefe. "Gelebte Geschichte" scheint das Material zu hauchen. "Diese Leute schreiben so gut über ihre Zeit, so interessant, humorvoll und bewegend", schwärmt Seth. "Wenn etwas besser ist als das, was man selbst erfinden könnte, dann ist es das, was man dem Leser präsentieren sollte."
Dabei hatte ihm während der Arbeit an dem Material ein Experte für die Nazi-Zeit noch geraten, er solle das besser als Fiktion schreiben, es gebe eh zu viele Sachbücher über die Zeit. Nur durch Fiktion werde die Periode wieder lebendig - fand ausgerechnet Daniel Goldhagen, den Seth bei einem Abendessen kennengelernt hatte. "Das war sicher gut gemeint, aber für mich ging das nicht", sagt Seth. "Ich wollte einfach nicht, daß ein Leser an der Wahrheit irgendeines dieser Briefe zweifeln könnte."
Vikram Seth ist ein charmanter Plauderer, aber ein Gespräch mit ihm kann einschüchternd sein, denn es führt dem Gesprächspartner binnen kurzer Zeit all jene Felder vor Augen, in denen er sich - im Gegensatz zu Seth - nicht auskennt. Im Laufe eines Nachmittages kommt da einiges zusammen. Seths Sprache ist schwungvoll und gewählt. Sie verrät die noble akademische Ausbildung, die er genoß. In Indien besuchte er Doon, eine Schule, die als indisches Eton gilt. Später studierte er in Oxford und an der Stanford-Universität, wo er elf Jahre darauf verwandte, seinen "Doktor in Ökonomie nicht zu machen", wie er sagt. Statt dessen ließ er sich durch die Lektüre Puschkins in Kalifornien dazu inspirieren, einen Versroman mit dem Titel "The Golden Gate" zu schreiben. Damit gelang ihm der Durchbruch als Schriftsteller - nachdem Dutzende Verlage das Manuskript zunächst abgelehnt hatten.
Seth zitiert hier mal eben Heines Gedicht "Sie erlischt" auf deutsch, führt dann seine Fertigkeiten im Lesen deutscher Schrift vor, die er erlernte, um die Briefe zu entziffern, erklärt kurz darauf den visuellen Aspekt chinesischer Lyrik, bevor er sich einigen musiktheoretischen Überlegungen überläßt. Er kann eine prima Tiefkühlpizza zubereiten und beherrscht Hindi, Urdu, Englisch, Deutsch, Französisch sowie Chinesisch. Arabisch lernt er gerade.
Das Haus, das er bewohnt, ist ein altes Pfarrhaus aus dem 16. Jahrhundert, in dem einst ein britischer Dichter lebte, den man leider ebensowenig nennen darf wie den Ort, da Seth um seine ländliche Ruhe fürchtet. Er hat noch ein Apartment in London und ein Haus in Noida, einem Vorort von Delhi, wenige Schritte vom Haus seiner Eltern. Seth lebt alleine. "Ich bin Single, werde aber besucht", sagt er verschmitzt bei einem Spaziergang in Gummistiefeln über sein großzügiges Grundstück. Seth hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er sich für beide Geschlechter interessiert, es aber auch nie an die große Glocke gehängt. Ein Steg führt über einen kleinen Bach in wilde Wiesen. Seth schätzt dieses Idyll, allerdings ist er weder Angler noch Jäger, was sich hier eigentlich anböte. Statt nach Tieren angelt er lieber nach Worten. Jeden Strauch und jedes Pflänzchen kann er benennen. Den Besucher bringt er durch Fragen nach den deutschen Namen gelegentlich in Verlegenheit. Aha, Gänseblümchen hießen die daisies also auf deutsch, das sei ja interessant. "Warum denn ausgerechnet Gänseblümchen?" Gute Frage eigentlich.
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