Wie baut man sich eine Zukunft mit Mut und Witz?
Er ist gewitzt, liebenswert und unausstehlich: der 16-jährige Tiger, den seine Eltern mit einem Mädchen verheiraten, das er noch nie gesehen hat. Wie er ist ganz Trinidad Anfang der Vierzigerjahre im Aufbruch - plötzlich schlagen die Amerikaner auf und ziehen einen Highway quer über die Insel. Also Schluss mit den Gelegenheitsarbeiten. Raus aus den Bretterbuden. Auf in die Arme der Amerikaner. Und dann? Ein karibischer Roman, in dessen strahlendem Licht Selvon eine große Frage stellt: Wie baut man sich ein Leben auf, wenn man gar nichts hat - nichts außer Mut und Witz.
Er ist gewitzt, liebenswert und unausstehlich: der 16-jährige Tiger, den seine Eltern mit einem Mädchen verheiraten, das er noch nie gesehen hat. Wie er ist ganz Trinidad Anfang der Vierzigerjahre im Aufbruch - plötzlich schlagen die Amerikaner auf und ziehen einen Highway quer über die Insel. Also Schluss mit den Gelegenheitsarbeiten. Raus aus den Bretterbuden. Auf in die Arme der Amerikaner. Und dann? Ein karibischer Roman, in dessen strahlendem Licht Selvon eine große Frage stellt: Wie baut man sich ein Leben auf, wenn man gar nichts hat - nichts außer Mut und Witz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2020Nie wieder unmündig
Samuel Selvons Roman "Eine hellere Sonne"
Viele namhafte Schriftsteller hatten Doppelgänger, die ihre Karrieren ein Stück weit begleiteten: Goethe und Lenz, Kafka und Robert Walser sind Beispiele dafür. Das gilt auch für V. S. Naipaul, den Inder aus der Karibik, der Trinidad vom weißen Fleck auf der Landkarte zu einem literarischen Ort machte und als Reiseautor und Romancier Weltliteratur schuf. Weniger berühmt als der Nobelpreisträger Naipaul ist sein Trinidader Landsmann Samuel Selvon, der ebenfalls indischer Herkunft war. Selvon, ein Nachfahre südindischer Kulis, hat die plebejische Gegenposition zu dem aus einer Brahmanenfamilie stammenden Naipaul vertreten. Das lässt sich leicht überprüfen am Beispiel seines Debütromans "Eine hellere Sonne", der 1952 in London erstmals erschien und, von Miriam Mandelkow pointensicher und punktgenau übersetzt, ein Menschenalter später nun endlich auf Deutsch vorliegt.
"Boysie und einige junge Männer saßen auf einer Betondole in der Sixth Street und erzählten sich schmutzige Witze; darauf hatte Tiger heute Abend keine Lust. Das bewies nicht, dass man ein Mann war. Weder Rum trinken noch fluchen noch eine Frau vögeln. Wenn man Joe so reden hörte, könnte man meinen, so was zählt. Aber guck dir Joe doch an, Mann!" In Selvons Roman ist "Mann" eines der häufigsten Wörter; es charakterisiert Trinidads kreolischen Slang ebenso wie das Bestreben Tigers, vom indischen Boy zum richtigen Mann zu werden, wobei er sich seinen schwarzen Nachbarn zum Vorbild nimmt. Schon der kurze Textauszug zeigt, was Selvon von Naipaul unterschied: Volkstümlichkeit statt Belesenheit oder Gelehrsamkeit, derber Humor statt facettenreicher Ironie sowie innerer Monolog, sprich: subjektive Befindlichkeit, statt abgehobener Reflexion. Selvon ist der menschenfreundlichere Autor von beiden, der ohne paternalistische Herablassung dem Leser Einblick gewährt ins Innenleben seiner Figuren, die alles andere als einfach gestrickt sind, obwohl sie zum Bodensatz der postkolonialen Gesellschaft gehören - in Trinidads sozialer Hierarchie standen indische Kulis noch unter den als Kreolen bezeichneten Nachfahren afrikanischer Sklaven.
Das neokoloniale Regime wird in einer Zeit des Umbruchs porträtiert, als die starre Hierarchie der Rassen und Klassen während des Zweiten Weltkriegs in Bewegung gerät durch die Stationierung amerikanischer GIs und den Bau eines Highways, der die von Kulis beackerten Felder durchquert. Zusammen mit Lastwagen und Jeeps, die Pferdekutschen und Eselskarren verdrängen, kommt der Dollar ins Land, die Schulpflicht wird eingeführt, das Streikrecht erkämpft, und Trinidad avanciert vom colonial backwater zum Traumziel für Touristen, die Calypso und Karneval suchen.
"Eine hellere Sonne" ist ein Entwicklungsroman im elementaren Sinn des Worts, dessen Protagonist Tiger, um sich selbst zu finden, eine neue Sprache erfinden muss. Samuel Selvon hat das in Trinidad gesprochene Kreolisch, vermengt mit französischen Einsprengseln, Anglizismen und Amerikanismen, literaturfähig gemacht. Tiger, gegen seinen Willen verheiratet mit einem Mädchen, dessen Namen er erst in der Hochzeitsnacht erfährt, arbeitet sich mühsam ab an der Sprache, deren Register er nur unvollkommen beherrscht. Er bringt sich selbst Lesen und Schreiben bei, liest einem chinesischen Krämer aus der Zeitung vor, bekommt dafür Rum spendiert und fordert seine Freunde auf, sich politisches Wissen anzueignen, um ihre Interessen vertreten zu können. Das im Zweiten Weltkrieg erfolgte Erwachen der Kolonialvölker wurde von Indiens Unabhängigkeitskampf, der Sowjetunion und China stimuliert, und der daraus erwachsende, krude Emanzipationsdiskurs hört sich so an:
"Ich meine, für mich sieht es so aus, als wenn alle gleich sind. In Trinidad sind so viele verschiedene Menschen, Junge! Meinst du, ich soll jetzt anfangen und Dhoti tragen?" - "Keine Ahnung, Mann. Du bist doch Trinidader? Was grübelst du rum?" - "Na ja, irgendwer muss ja grübeln, Joe. Wenn wir dösig bleiben und dauernd alles machen lassen mit uns, bleiben wir arm und dumm."
Anders als der konservative V. S. Naipaul war Samuel Selvon ein politisch engagierter Autor, und auch das macht "Eine hellere Sonne" nach wie vor, nein: heute erst recht lesenswert.
HANS CHRISTOPH BUCH
Samuel Selvon: "Eine hellere Sonne". Roman.
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. dtv, München 2019. 252 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Samuel Selvons Roman "Eine hellere Sonne"
Viele namhafte Schriftsteller hatten Doppelgänger, die ihre Karrieren ein Stück weit begleiteten: Goethe und Lenz, Kafka und Robert Walser sind Beispiele dafür. Das gilt auch für V. S. Naipaul, den Inder aus der Karibik, der Trinidad vom weißen Fleck auf der Landkarte zu einem literarischen Ort machte und als Reiseautor und Romancier Weltliteratur schuf. Weniger berühmt als der Nobelpreisträger Naipaul ist sein Trinidader Landsmann Samuel Selvon, der ebenfalls indischer Herkunft war. Selvon, ein Nachfahre südindischer Kulis, hat die plebejische Gegenposition zu dem aus einer Brahmanenfamilie stammenden Naipaul vertreten. Das lässt sich leicht überprüfen am Beispiel seines Debütromans "Eine hellere Sonne", der 1952 in London erstmals erschien und, von Miriam Mandelkow pointensicher und punktgenau übersetzt, ein Menschenalter später nun endlich auf Deutsch vorliegt.
"Boysie und einige junge Männer saßen auf einer Betondole in der Sixth Street und erzählten sich schmutzige Witze; darauf hatte Tiger heute Abend keine Lust. Das bewies nicht, dass man ein Mann war. Weder Rum trinken noch fluchen noch eine Frau vögeln. Wenn man Joe so reden hörte, könnte man meinen, so was zählt. Aber guck dir Joe doch an, Mann!" In Selvons Roman ist "Mann" eines der häufigsten Wörter; es charakterisiert Trinidads kreolischen Slang ebenso wie das Bestreben Tigers, vom indischen Boy zum richtigen Mann zu werden, wobei er sich seinen schwarzen Nachbarn zum Vorbild nimmt. Schon der kurze Textauszug zeigt, was Selvon von Naipaul unterschied: Volkstümlichkeit statt Belesenheit oder Gelehrsamkeit, derber Humor statt facettenreicher Ironie sowie innerer Monolog, sprich: subjektive Befindlichkeit, statt abgehobener Reflexion. Selvon ist der menschenfreundlichere Autor von beiden, der ohne paternalistische Herablassung dem Leser Einblick gewährt ins Innenleben seiner Figuren, die alles andere als einfach gestrickt sind, obwohl sie zum Bodensatz der postkolonialen Gesellschaft gehören - in Trinidads sozialer Hierarchie standen indische Kulis noch unter den als Kreolen bezeichneten Nachfahren afrikanischer Sklaven.
Das neokoloniale Regime wird in einer Zeit des Umbruchs porträtiert, als die starre Hierarchie der Rassen und Klassen während des Zweiten Weltkriegs in Bewegung gerät durch die Stationierung amerikanischer GIs und den Bau eines Highways, der die von Kulis beackerten Felder durchquert. Zusammen mit Lastwagen und Jeeps, die Pferdekutschen und Eselskarren verdrängen, kommt der Dollar ins Land, die Schulpflicht wird eingeführt, das Streikrecht erkämpft, und Trinidad avanciert vom colonial backwater zum Traumziel für Touristen, die Calypso und Karneval suchen.
"Eine hellere Sonne" ist ein Entwicklungsroman im elementaren Sinn des Worts, dessen Protagonist Tiger, um sich selbst zu finden, eine neue Sprache erfinden muss. Samuel Selvon hat das in Trinidad gesprochene Kreolisch, vermengt mit französischen Einsprengseln, Anglizismen und Amerikanismen, literaturfähig gemacht. Tiger, gegen seinen Willen verheiratet mit einem Mädchen, dessen Namen er erst in der Hochzeitsnacht erfährt, arbeitet sich mühsam ab an der Sprache, deren Register er nur unvollkommen beherrscht. Er bringt sich selbst Lesen und Schreiben bei, liest einem chinesischen Krämer aus der Zeitung vor, bekommt dafür Rum spendiert und fordert seine Freunde auf, sich politisches Wissen anzueignen, um ihre Interessen vertreten zu können. Das im Zweiten Weltkrieg erfolgte Erwachen der Kolonialvölker wurde von Indiens Unabhängigkeitskampf, der Sowjetunion und China stimuliert, und der daraus erwachsende, krude Emanzipationsdiskurs hört sich so an:
"Ich meine, für mich sieht es so aus, als wenn alle gleich sind. In Trinidad sind so viele verschiedene Menschen, Junge! Meinst du, ich soll jetzt anfangen und Dhoti tragen?" - "Keine Ahnung, Mann. Du bist doch Trinidader? Was grübelst du rum?" - "Na ja, irgendwer muss ja grübeln, Joe. Wenn wir dösig bleiben und dauernd alles machen lassen mit uns, bleiben wir arm und dumm."
Anders als der konservative V. S. Naipaul war Samuel Selvon ein politisch engagierter Autor, und auch das macht "Eine hellere Sonne" nach wie vor, nein: heute erst recht lesenswert.
HANS CHRISTOPH BUCH
Samuel Selvon: "Eine hellere Sonne". Roman.
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. dtv, München 2019. 252 S., geb., 22,- [Euro].
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Ein Schelmenroman aus dem karibischen Spätkolonialismus. Britta Heidemann Westdeutsche Allgemeine Zeitung 20200620