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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2011

Der Utopist an den Fronten der Wirklichkeit

Ernst Tollers Autobiographie zeigt den Schriftsteller im Spannungsfeld von Revolution und Pazifismus. Jetzt liegt "Eine Jugend in Deutschland" in einer exzellent kommentierten Neuausgabe vor.

Unter den vielen Schriftstellern, die mit der mächtigen Aufbruchsbewegung des deutschen Expressionismus hervortraten und ihren eigenen Weg suchten, ist Ernst Toller einer der eigenwilligsten. 1893 als jüngstes Kind einer jüdisch-deutschen Kaufmannsfamilie in Samotschin bei Bromberg geboren, wurde er als Student in Grenoble 1914 vom Krieg überrascht, gelangte auf abenteuerliche Weise zurück nach Deutschland und stürmte wie so viele Schriftsteller im August 1914 zur Meldestelle für Kriegsfreiwillige. Aus dem Geschützfeuer der Westfront ging er allerdings nicht als stahlharter Landser, sondern als Pazifist hervor.

1918 zählte er trotz seiner Skrupel gegen Gewaltanwendung zu den führenden Köpfen der kurzlebigen Bayrischen Räterepublik und wurde 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Mit seinen Dramen "Die Wandlung", "Masse Mensch", "Die Maschinenstürmer", "Hinkelmann" und "Hoppla, wir leben!" war er einer der meistgespielten Bühnenautoren der zwanziger Jahre. 1933 gehörte er zu den ersten Ausgebürgerten und floh über die Schweiz, Frankreich und England nach Amerika. Am Ende sah er auch im Exil keine Zuflucht mehr. Schon lange von Depressionen heimgesucht, nahm er sich im Mai 1939 in einem New Yorker Hotel das Leben.

Von allen literarischen Werken Tollers hat seine Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" die größte Aussicht zu überdauern. Keines seiner Werke ist, wovon wir uns jetzt überzeugen können, ehrlicher und dichterisch kraftvoller als dieses 1933 in erster und noch im selben Jahr in einer zweiten Fassung im Amsterdamer Emigrantenverlag Querido erschienene Buch; es erreichte seinerzeit die beachtliche Auflage von sechstausend verkauften Exemplaren. Im Reclam Verlag liegt nun eine sorgfältig erarbeitete, im Wesentlichen auch die eigentümliche Orthographie Tollers erhaltende Neuausgabe vor.

Einen Glücksfall muss man die Wahl des Herausgebers nennen. Wolfgang Frühwald ist seit Jahrzehnten einer der besten Kenner der Exilliteratur aus den Jahren 1933 bis 1945. Er hat über leitende Themen der Exilliteratur geschrieben, hat über ein Jahrzehnt als Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bevor er deren Präsident wurde, dem "Schwerpunkt Exilforschung" wichtige Impulse gegeben.

Der Anhang zu der vorliegenden Ausgabe erschließt mit einem hundertvierzigseitigen Kommentar und einem umfassend erläuterten Personenverzeichnis das gesamte zeitgeschichtliche Umfeld, in dem Toller agierte. Und immer gewahrt bleibt die sachliche Objektivität gegenüber der mehrfach psychiatrischer Behandlung bedürftigen Persönlichkeit Tollers.

Aufzeichnen wollte Toller, wie es in seinem Vorwort heißt, nicht nur seine Jugend, sondern die Jugend einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu. Drei Erfahrungen will er schon als Kind gemacht haben. Obwohl er in einem wohlhabenden Elternhaus heranwächst, bewegt ihn doch die Not der Armen. Ihm entgeht auch nicht die Polenfeindlichkeit in der preußischen Provinz Posen. Und er hört von einer angeblichen rituellen Schlachtung eines Christenjungen durch Juden und erlebt, wie Kinder dem jüdischen Lehrer auf der Straße den Schmähspruch "Hep, hep!, Hep, hep!" nachrufen. So lässt Toller aus den Beobachtungen der Kinderzeit die wesentlichen Antriebe seiner späteren politischen Haltung hervorgehen: die Parteinahme für die Klasse der Armen, die pazifistische Antwort auf die wechselseitige Verhetzung der Völker und die Gegenwehr des verfolgten Juden. Doch verfälscht der Kindheitsbericht noch nicht den naiven Blick des Heranwachsenden.

Dass die Rhetorik in den späteren Kapiteln nicht ideologisch verödet, verdankt sie ihrer Nähe zu jener bündigen Dialogsprache der kurzen Sätze, die Tollers Dramen so bühnentauglich machte. Etwas von der Poesie der Kinderwelt hat sich der Autor auch später noch bewahrt, in seinem Bericht zum "Schwalbendrama", der aus den Beobachtungen während seiner Festungszeit in der Haftanstalt Niederschönenfeld entstand: Durch keine behördliche Verfügung ließen sich nistende und brütende Schwalben, die einzigen Geschöpfe, die das Leben in der Zelle mit den Gefangenen teilten, aus den Zellen und dem Waschraum der Haftanstalt vertreiben, bis der Wächter auch das letzte versteckte Pärchen erspähte.

Die Kapitel zur Geschichte der im November 1918 von Kurt Eisner ausgerufenen bayerischen Republik und der im April 1919 proklamierten Räterepublik, das Eingreifen der Kommunisten durch den aus Berlin entsandten Eugen Leviné und der Kampf ums Überleben der Räterepublik erscheinen in der Darstellung wie ein einziges Chaos. Zwar gewinnt dieses Chaos in Tollers Ereignisberichten dramatische Lebendigkeit, macht aber auch klar, warum die Revolution scheitern musste.

In den Jahren der Festungshaft denkt Toller über die Rolle der revolutionären Intellektuellen nach. "Am unduldsamsten sind gewisse byzantinische Intellektuelle, sie vergöttern den Proletarier, sie treiben einen förmlichen Kult mit ihm und lehren ihn die Verachtung der anderen Intellektuellen." Vor der Vergötzung des Proletariers ist Toller gefeit. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er selbst sich in die revolutionären Kämpfe mit der Haltung des Intellektuellen begeben hat. Immer wieder gesteht er Fehler ein, mangelnde revolutionäre Konsequenz, um dann, wenn es ernst wird, doch davor wieder zurückzuschrecken. Der Revolutionär will handeln, aber der konsequente Pazifist will sich nicht beflecken. Tollers "Jugend in Deutschland" zeigt die Tragödie des Dichters einer Friedens-, Gerechtigkeits- und Gesellschaftsutopie, die zwischen den Fronten der Realpolitik zerrieben wird.

Im Herbst 1917 hat Toller an einer Tagung auf Burg Lauenstein teilgenommen, auf der auch der Soziologe Max Weber sprach. Später hat Weber, wie Frühwalds Kommentar belegt, seine Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik praktisch auf Ernst Toller angewandt und ihn zum "Musterexemplar des reinen Gesinnungsethikers" erklärt, ihn also jenem Typus zugeordnet, der aus "rein ethischen Motiven heraus" die Welt zu bessern sucht, ohne Rücksicht darauf, was bei der Verwirklichung der "auf keiner Weltkenntnis gestützten Forderungen" herauskommt. Webers Unterscheidung traf 1919 genau die Situation. Aber der 1920 verstorbene Soziologe hätte gewiss, wäre er noch Zeuge dessen geworden, was die Machtpolitik des auf "Verantwortung" sich berufenden Hitlerregimes "Gesinnungsethikern" wie Toller antat, eine Differenzierung seiner Typologie nachgetragen.

Auf Tollers früh einsetzendes Schuldgefühl, das am Ende wohl zur fixen Idee wurde, geht Frühwalds resümierendes Schlusswort ein. Ein Übermaß an "Verantwortung" nahm er nun auf sich, sah sich "gegenüber den Toten des Krieges, der Revolution, der Verfolgung und schließlich des Exils" in der Schuld. So ist Frühwalds Neuausgabe von Tollers Jugendautobiographie mehr als ein bloßer Nachdruck, sie wird zu einer exemplarischen Fallstudie für das Verlöschen eines Meteors der deutschen Bühne nach 1920, für die tragische Zerstörung eines zerbrechlichen Geistes in der Ausweglosigkeit des Exils.

WALTER HINCK

Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland".

Hrsg. von Wolfgang Frühwald. Reclam Verlag, Stuttgart 2011. 468 S., Abb., geb., 28,95 [Euro].

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