Als begeisterter Freiwilliger zog er in den ersten Weltkrieg, und als humanitärer Pazifist kehrte er heim. Er schlug sich auf die Seite der Aufständischen, war in der Festung Niederschönenfeld inhaftiert, und er erkannte die tragische Grenze der Revolution. In seiner aufrichtigen und meisterhaft-schlichten Autobiographie beschreibt er seine frühen Jahre - eine Jugend in Deutschland, die voll großer Hoffnungen und voll großer Enttäuschung war.
Das wahrscheinlich bedeutendste und wieder bestürzend aktuell gewordene Werk des expressionistischen Autors Ernst Toller, der in Dichtung und Politik keinen unversöhnlichen Gegensatz sah.
Das wahrscheinlich bedeutendste und wieder bestürzend aktuell gewordene Werk des expressionistischen Autors Ernst Toller, der in Dichtung und Politik keinen unversöhnlichen Gegensatz sah.
Der Utopist an den Fronten der Wirklichkeit
Ernst Tollers Autobiographie zeigt den Schriftsteller im Spannungsfeld von Revolution und Pazifismus. Jetzt liegt "Eine Jugend in Deutschland" in einer exzellent kommentierten Neuausgabe vor.
Unter den vielen Schriftstellern, die mit der mächtigen Aufbruchsbewegung des deutschen Expressionismus hervortraten und ihren eigenen Weg suchten, ist Ernst Toller einer der eigenwilligsten. 1893 als jüngstes Kind einer jüdisch-deutschen Kaufmannsfamilie in Samotschin bei Bromberg geboren, wurde er als Student in Grenoble 1914 vom Krieg überrascht, gelangte auf abenteuerliche Weise zurück nach Deutschland und stürmte wie so viele Schriftsteller im August 1914 zur Meldestelle für Kriegsfreiwillige. Aus dem Geschützfeuer der Westfront ging er allerdings nicht als stahlharter Landser, sondern als Pazifist hervor.
1918 zählte er trotz seiner Skrupel gegen Gewaltanwendung zu den führenden Köpfen der kurzlebigen Bayrischen Räterepublik und wurde 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Mit seinen Dramen "Die Wandlung", "Masse Mensch", "Die Maschinenstürmer", "Hinkelmann" und "Hoppla, wir leben!" war er einer der meistgespielten Bühnenautoren der zwanziger Jahre. 1933 gehörte er zu den ersten Ausgebürgerten und floh über die Schweiz, Frankreich und England nach Amerika. Am Ende sah er auch im Exil keine Zuflucht mehr. Schon lange von Depressionen heimgesucht, nahm er sich im Mai 1939 in einem New Yorker Hotel das Leben.
Von allen literarischen Werken Tollers hat seine Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" die größte Aussicht zu überdauern. Keines seiner Werke ist, wovon wir uns jetzt überzeugen können, ehrlicher und dichterisch kraftvoller als dieses 1933 in erster und noch im selben Jahr in einer zweiten Fassung im Amsterdamer Emigrantenverlag Querido erschienene Buch; es erreichte seinerzeit die beachtliche Auflage von sechstausend verkauften Exemplaren. Im Reclam Verlag liegt nun eine sorgfältig erarbeitete, im Wesentlichen auch die eigentümliche Orthographie Tollers erhaltende Neuausgabe vor.
Einen Glücksfall muss man die Wahl des Herausgebers nennen. Wolfgang Frühwald ist seit Jahrzehnten einer der besten Kenner der Exilliteratur aus den Jahren 1933 bis 1945. Er hat über leitende Themen der Exilliteratur geschrieben, hat über ein Jahrzehnt als Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bevor er deren Präsident wurde, dem "Schwerpunkt Exilforschung" wichtige Impulse gegeben.
Der Anhang zu der vorliegenden Ausgabe erschließt mit einem hundertvierzigseitigen Kommentar und einem umfassend erläuterten Personenverzeichnis das gesamte zeitgeschichtliche Umfeld, in dem Toller agierte. Und immer gewahrt bleibt die sachliche Objektivität gegenüber der mehrfach psychiatrischer Behandlung bedürftigen Persönlichkeit Tollers.
Aufzeichnen wollte Toller, wie es in seinem Vorwort heißt, nicht nur seine Jugend, sondern die Jugend einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu. Drei Erfahrungen will er schon als Kind gemacht haben. Obwohl er in einem wohlhabenden Elternhaus heranwächst, bewegt ihn doch die Not der Armen. Ihm entgeht auch nicht die Polenfeindlichkeit in der preußischen Provinz Posen. Und er hört von einer angeblichen rituellen Schlachtung eines Christenjungen durch Juden und erlebt, wie Kinder dem jüdischen Lehrer auf der Straße den Schmähspruch "Hep, hep!, Hep, hep!" nachrufen. So lässt Toller aus den Beobachtungen der Kinderzeit die wesentlichen Antriebe seiner späteren politischen Haltung hervorgehen: die Parteinahme für die Klasse der Armen, die pazifistische Antwort auf die wechselseitige Verhetzung der Völker und die Gegenwehr des verfolgten Juden. Doch verfälscht der Kindheitsbericht noch nicht den naiven Blick des Heranwachsenden.
Dass die Rhetorik in den späteren Kapiteln nicht ideologisch verödet, verdankt sie ihrer Nähe zu jener bündigen Dialogsprache der kurzen Sätze, die Tollers Dramen so bühnentauglich machte. Etwas von der Poesie der Kinderwelt hat sich der Autor auch später noch bewahrt, in seinem Bericht zum "Schwalbendrama", der aus den Beobachtungen während seiner Festungszeit in der Haftanstalt Niederschönenfeld entstand: Durch keine behördliche Verfügung ließen sich nistende und brütende Schwalben, die einzigen Geschöpfe, die das Leben in der Zelle mit den Gefangenen teilten, aus den Zellen und dem Waschraum der Haftanstalt vertreiben, bis der Wächter auch das letzte versteckte Pärchen erspähte.
Die Kapitel zur Geschichte der im November 1918 von Kurt Eisner ausgerufenen bayerischen Republik und der im April 1919 proklamierten Räterepublik, das Eingreifen der Kommunisten durch den aus Berlin entsandten Eugen Leviné und der Kampf ums Überleben der Räterepublik erscheinen in der Darstellung wie ein einziges Chaos. Zwar gewinnt dieses Chaos in Tollers Ereignisberichten dramatische Lebendigkeit, macht aber auch klar, warum die Revolution scheitern musste.
In den Jahren der Festungshaft denkt Toller über die Rolle der revolutionären Intellektuellen nach. "Am unduldsamsten sind gewisse byzantinische Intellektuelle, sie vergöttern den Proletarier, sie treiben einen förmlichen Kult mit ihm und lehren ihn die Verachtung der anderen Intellektuellen." Vor der Vergötzung des Proletariers ist Toller gefeit. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er selbst sich in die revolutionären Kämpfe mit der Haltung des Intellektuellen begeben hat. Immer wieder gesteht er Fehler ein, mangelnde revolutionäre Konsequenz, um dann, wenn es ernst wird, doch davor wieder zurückzuschrecken. Der Revolutionär will handeln, aber der konsequente Pazifist will sich nicht beflecken. Tollers "Jugend in Deutschland" zeigt die Tragödie des Dichters einer Friedens-, Gerechtigkeits- und Gesellschaftsutopie, die zwischen den Fronten der Realpolitik zerrieben wird.
Im Herbst 1917 hat Toller an einer Tagung auf Burg Lauenstein teilgenommen, auf der auch der Soziologe Max Weber sprach. Später hat Weber, wie Frühwalds Kommentar belegt, seine Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik praktisch auf Ernst Toller angewandt und ihn zum "Musterexemplar des reinen Gesinnungsethikers" erklärt, ihn also jenem Typus zugeordnet, der aus "rein ethischen Motiven heraus" die Welt zu bessern sucht, ohne Rücksicht darauf, was bei der Verwirklichung der "auf keiner Weltkenntnis gestützten Forderungen" herauskommt. Webers Unterscheidung traf 1919 genau die Situation. Aber der 1920 verstorbene Soziologe hätte gewiss, wäre er noch Zeuge dessen geworden, was die Machtpolitik des auf "Verantwortung" sich berufenden Hitlerregimes "Gesinnungsethikern" wie Toller antat, eine Differenzierung seiner Typologie nachgetragen.
Auf Tollers früh einsetzendes Schuldgefühl, das am Ende wohl zur fixen Idee wurde, geht Frühwalds resümierendes Schlusswort ein. Ein Übermaß an "Verantwortung" nahm er nun auf sich, sah sich "gegenüber den Toten des Krieges, der Revolution, der Verfolgung und schließlich des Exils" in der Schuld. So ist Frühwalds Neuausgabe von Tollers Jugendautobiographie mehr als ein bloßer Nachdruck, sie wird zu einer exemplarischen Fallstudie für das Verlöschen eines Meteors der deutschen Bühne nach 1920, für die tragische Zerstörung eines zerbrechlichen Geistes in der Ausweglosigkeit des Exils.
WALTER HINCK
Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland".
Hrsg. von Wolfgang Frühwald. Reclam Verlag, Stuttgart 2011. 468 S., Abb., geb., 28,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ernst Tollers Autobiographie zeigt den Schriftsteller im Spannungsfeld von Revolution und Pazifismus. Jetzt liegt "Eine Jugend in Deutschland" in einer exzellent kommentierten Neuausgabe vor.
Unter den vielen Schriftstellern, die mit der mächtigen Aufbruchsbewegung des deutschen Expressionismus hervortraten und ihren eigenen Weg suchten, ist Ernst Toller einer der eigenwilligsten. 1893 als jüngstes Kind einer jüdisch-deutschen Kaufmannsfamilie in Samotschin bei Bromberg geboren, wurde er als Student in Grenoble 1914 vom Krieg überrascht, gelangte auf abenteuerliche Weise zurück nach Deutschland und stürmte wie so viele Schriftsteller im August 1914 zur Meldestelle für Kriegsfreiwillige. Aus dem Geschützfeuer der Westfront ging er allerdings nicht als stahlharter Landser, sondern als Pazifist hervor.
1918 zählte er trotz seiner Skrupel gegen Gewaltanwendung zu den führenden Köpfen der kurzlebigen Bayrischen Räterepublik und wurde 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Mit seinen Dramen "Die Wandlung", "Masse Mensch", "Die Maschinenstürmer", "Hinkelmann" und "Hoppla, wir leben!" war er einer der meistgespielten Bühnenautoren der zwanziger Jahre. 1933 gehörte er zu den ersten Ausgebürgerten und floh über die Schweiz, Frankreich und England nach Amerika. Am Ende sah er auch im Exil keine Zuflucht mehr. Schon lange von Depressionen heimgesucht, nahm er sich im Mai 1939 in einem New Yorker Hotel das Leben.
Von allen literarischen Werken Tollers hat seine Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" die größte Aussicht zu überdauern. Keines seiner Werke ist, wovon wir uns jetzt überzeugen können, ehrlicher und dichterisch kraftvoller als dieses 1933 in erster und noch im selben Jahr in einer zweiten Fassung im Amsterdamer Emigrantenverlag Querido erschienene Buch; es erreichte seinerzeit die beachtliche Auflage von sechstausend verkauften Exemplaren. Im Reclam Verlag liegt nun eine sorgfältig erarbeitete, im Wesentlichen auch die eigentümliche Orthographie Tollers erhaltende Neuausgabe vor.
Einen Glücksfall muss man die Wahl des Herausgebers nennen. Wolfgang Frühwald ist seit Jahrzehnten einer der besten Kenner der Exilliteratur aus den Jahren 1933 bis 1945. Er hat über leitende Themen der Exilliteratur geschrieben, hat über ein Jahrzehnt als Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bevor er deren Präsident wurde, dem "Schwerpunkt Exilforschung" wichtige Impulse gegeben.
Der Anhang zu der vorliegenden Ausgabe erschließt mit einem hundertvierzigseitigen Kommentar und einem umfassend erläuterten Personenverzeichnis das gesamte zeitgeschichtliche Umfeld, in dem Toller agierte. Und immer gewahrt bleibt die sachliche Objektivität gegenüber der mehrfach psychiatrischer Behandlung bedürftigen Persönlichkeit Tollers.
Aufzeichnen wollte Toller, wie es in seinem Vorwort heißt, nicht nur seine Jugend, sondern die Jugend einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu. Drei Erfahrungen will er schon als Kind gemacht haben. Obwohl er in einem wohlhabenden Elternhaus heranwächst, bewegt ihn doch die Not der Armen. Ihm entgeht auch nicht die Polenfeindlichkeit in der preußischen Provinz Posen. Und er hört von einer angeblichen rituellen Schlachtung eines Christenjungen durch Juden und erlebt, wie Kinder dem jüdischen Lehrer auf der Straße den Schmähspruch "Hep, hep!, Hep, hep!" nachrufen. So lässt Toller aus den Beobachtungen der Kinderzeit die wesentlichen Antriebe seiner späteren politischen Haltung hervorgehen: die Parteinahme für die Klasse der Armen, die pazifistische Antwort auf die wechselseitige Verhetzung der Völker und die Gegenwehr des verfolgten Juden. Doch verfälscht der Kindheitsbericht noch nicht den naiven Blick des Heranwachsenden.
Dass die Rhetorik in den späteren Kapiteln nicht ideologisch verödet, verdankt sie ihrer Nähe zu jener bündigen Dialogsprache der kurzen Sätze, die Tollers Dramen so bühnentauglich machte. Etwas von der Poesie der Kinderwelt hat sich der Autor auch später noch bewahrt, in seinem Bericht zum "Schwalbendrama", der aus den Beobachtungen während seiner Festungszeit in der Haftanstalt Niederschönenfeld entstand: Durch keine behördliche Verfügung ließen sich nistende und brütende Schwalben, die einzigen Geschöpfe, die das Leben in der Zelle mit den Gefangenen teilten, aus den Zellen und dem Waschraum der Haftanstalt vertreiben, bis der Wächter auch das letzte versteckte Pärchen erspähte.
Die Kapitel zur Geschichte der im November 1918 von Kurt Eisner ausgerufenen bayerischen Republik und der im April 1919 proklamierten Räterepublik, das Eingreifen der Kommunisten durch den aus Berlin entsandten Eugen Leviné und der Kampf ums Überleben der Räterepublik erscheinen in der Darstellung wie ein einziges Chaos. Zwar gewinnt dieses Chaos in Tollers Ereignisberichten dramatische Lebendigkeit, macht aber auch klar, warum die Revolution scheitern musste.
In den Jahren der Festungshaft denkt Toller über die Rolle der revolutionären Intellektuellen nach. "Am unduldsamsten sind gewisse byzantinische Intellektuelle, sie vergöttern den Proletarier, sie treiben einen förmlichen Kult mit ihm und lehren ihn die Verachtung der anderen Intellektuellen." Vor der Vergötzung des Proletariers ist Toller gefeit. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er selbst sich in die revolutionären Kämpfe mit der Haltung des Intellektuellen begeben hat. Immer wieder gesteht er Fehler ein, mangelnde revolutionäre Konsequenz, um dann, wenn es ernst wird, doch davor wieder zurückzuschrecken. Der Revolutionär will handeln, aber der konsequente Pazifist will sich nicht beflecken. Tollers "Jugend in Deutschland" zeigt die Tragödie des Dichters einer Friedens-, Gerechtigkeits- und Gesellschaftsutopie, die zwischen den Fronten der Realpolitik zerrieben wird.
Im Herbst 1917 hat Toller an einer Tagung auf Burg Lauenstein teilgenommen, auf der auch der Soziologe Max Weber sprach. Später hat Weber, wie Frühwalds Kommentar belegt, seine Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik praktisch auf Ernst Toller angewandt und ihn zum "Musterexemplar des reinen Gesinnungsethikers" erklärt, ihn also jenem Typus zugeordnet, der aus "rein ethischen Motiven heraus" die Welt zu bessern sucht, ohne Rücksicht darauf, was bei der Verwirklichung der "auf keiner Weltkenntnis gestützten Forderungen" herauskommt. Webers Unterscheidung traf 1919 genau die Situation. Aber der 1920 verstorbene Soziologe hätte gewiss, wäre er noch Zeuge dessen geworden, was die Machtpolitik des auf "Verantwortung" sich berufenden Hitlerregimes "Gesinnungsethikern" wie Toller antat, eine Differenzierung seiner Typologie nachgetragen.
Auf Tollers früh einsetzendes Schuldgefühl, das am Ende wohl zur fixen Idee wurde, geht Frühwalds resümierendes Schlusswort ein. Ein Übermaß an "Verantwortung" nahm er nun auf sich, sah sich "gegenüber den Toten des Krieges, der Revolution, der Verfolgung und schließlich des Exils" in der Schuld. So ist Frühwalds Neuausgabe von Tollers Jugendautobiographie mehr als ein bloßer Nachdruck, sie wird zu einer exemplarischen Fallstudie für das Verlöschen eines Meteors der deutschen Bühne nach 1920, für die tragische Zerstörung eines zerbrechlichen Geistes in der Ausweglosigkeit des Exils.
WALTER HINCK
Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland".
Hrsg. von Wolfgang Frühwald. Reclam Verlag, Stuttgart 2011. 468 S., Abb., geb., 28,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.01.2024Aus dem Leben eines Utopisten
Wem die Protestbewegungen heute zu kleinlich sind, der sollte Ernst Toller lesen.
Jetzt erscheint die Neuauflage von „Eine Jugend in Deutschland“.
VON WILLI WINKLER
Was ist’s denn mit eurer Revolution?“ fragte mich Selma zwischendurch.
Oskar Maria Graf, „Wir sind Gefangene.“
Weil die Eltern sich doch sorgten, versichert ihnen der Sohn, dass er sich an den gefährlichen Umtrieben nicht beteiligt habe. Nicht Angst halte ihn davon ab, sondern „weil ich im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachte und nicht die Verblendung derer teile, welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen“. Und damit sie auch wissen, woran sie sind mit ihm, wird er noch mal deutlich: „Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.“ Vier Jahre später war Georg Büchner tot, mit 23.
Ernst Toller war ein anderer Frühvollendeter. Mit 25 Anführer einer Roten Armee, ein paar Wochen lang der Spätwinterkönig von Südbayern, der „Sieger von Dachau“. Eine Zeit lang war er weltberühmt, reiste von Premieren zu Kongressen, schrieb für Hollywood und verfasste Manifeste. Thomas Mann hatte sich aufmerksam bereits über die Gedichte des Studenten gebeugt, Max Weber rühmte an ihm die „absolute Lauterkeit der Absichten“, Rilke schaute ihn an aus traurigen Augen, „dass er ein Dichter war, machte ihn der Polizei verdächtig“.
Toller war gleich ein noch viel schlimmerer Fall, Dichter nicht bloß und traurig, sondern Jude und zu allem Überfluss ein Preuße, einer von diesen Literaten, die von Ludwig Thoma bis Franz Josef Strauß mit Ingrimm verfolgt wurden, weil sie am Ende des Ersten Weltkriegs in München einfielen und unbedingt Revolution machen wollten.
Heute sind seine Gedichte nur schwer erträglich, seine Stücke werden kaum mehr aufgeführt, aber da ist dieses Buch, „Eine Jugend in Deutschland“, revolutionäres Fanal, Menschheitsbeglückung, blühendes Jugendirresein, eine Verzweiflungstat und bei aller Resignation der rare Fall, dass Politik, Geschichte und Poesie zusammengehen.
„Eine Jugend in Deutschland“, 1933 in Amsterdam erschienen, entstand bereits auf der Flucht, die Einleitung schrieb Toller am „Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland“. Joseph Goebbels rundete diesen 10. Mai 1933 mit seiner Ansprache gegen die „jüdischen Asphaltliteraten“ ab und feierte den „Durchbruch der deutschen Revolution“. Opfer dieser ganz besonders deutschen Revolution wurde schließlich auch Toller, der sich 1939 in einem New Yorker Hotel erhängte.
Seine Erinnerungen sind längst gemeinfrei, wer sich das antun will, kann sie umsonst im Netz lesen. Im Internet-Antiquariat kostet die Erstausgabe von 120 Euro an aufwärts, „etw. berieben, etw. schiefgelesen, innen tadellos“. In der „Anderen Bibliothek“ hat Ernst Piper jetzt eine neue Ausgabe herausgebracht, angereichert mit einer hilfreichen Dokumentation. Es kann gar nicht genug Toller geben.
1893 wurde er im heute polnischen Samotschin geboren. Als der Klempnermeister Grun sein Grundstück einem Polen verkauft, geißelt der Schüler Toller den Verfall der Moral: „Die Deutschen sind nicht mehr auf der Wacht, was soll aus dem Vaterland werden.“ Das Vaterland, das liebe, drängt zum Krieg. Die Sozialdemokraten schließen Burgfrieden mit dem Kaiser, die Professoren feiern den Krieg, die Studenten marschieren blumenbekränzt zum Bahnhof. Toller studiert in Frankreich, dann in München. Eben noch trauerten die Zeitungen um den ermordeten Kriegsgegner Jean Jaurès, die Stimmung schlägt um, „man riecht den Krieg“. Im Englischen Garten setzen die Mitbürger Toller nach, weil sein Hut in Lyon hergestellt wurde und er deshalb als Franzos gilt. Er will aber kein Franzos sein und kein Jude, deshalb wird er ganz deutsch. „Französische Flieger, sagt der Reichskanzler, haben Bomben auf bayerisches Land geworfen, Deutschland wurde überfallen, ich glaube es.“ Toller wird Soldat.
Bei dem, was er erlebt, hülfe auch das Stahlgewitter-Pathos von Stoßtruppführer Ernst Jünger nichts mehr. Im Drahtverhau an der Front ist einer hängen geblieben, ein Franzos oder ein Deutscher, keiner weiß es, aber jeder hört es, wie er schreit. „Der Schrei lebt für sich, er klagt die Erde an und den Himmel. Wir pressen die Fäuste an die Ohren, um das Gewimmer nicht zu hören, es hilft nichts, der Schrei dreht sich wie ein Kreisel in unsern Köpfen, er zerdehnt die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Jahren. Wir vertrocknen und vergreisen zwischen Ton und Ton.“ Die Kameraden versuchen ihn zu retten, werden erschossen, er schreit und schreit. „Der Tod stopft ihm den Mund am dritten Tag.“
Der Expressionismus ist nicht nur Vatermord und Frühlings Erwachen, sondern hat den Krieg zum Hintergrund. Der Krieg sorgt fleißig für Tote, so viele, dass keine regelrechte Bestattung mehr möglich ist. „Die Grabdecke ist dünn, zu dünn, von einem toten Soldaten hat der Regen die Erde weggespült, die seine Füße bedeckte, in schauriger Blöße wachsen zwei derbe rindslederne Stiefel aus dem Boden.“ Der Tote, meldet Toller, hatte Schuhgröße 48.
Toller wird krank und gerät in die wenig heilenden Hände des berühmtesten deutschen Psychiaters. Ernst Kraepelin behandelt nicht, sondern agitiert: „Wie können Sie es wagen, die berechtigten Machtansprüche Deutschlands zu leugnen, dieser Krieg wird gewonnen, Deutschland braucht neuen Lebensraum“, herrscht er den kriegszerstörten Patienten an. „Ich lerne, dass es zwei Arten Kranke gibt, die harmlosen liegen in vergitterten klinkenlosen Stuben und heißen Irre, die gefährlichen weisen nach, dass Hunger ein Volk erzieht, und gründen Bünde zur Niederwerfung Englands, sie dürfen die harmlosen einsperren.“
Tatsächlich war Kraepelin Mitgründer bei einem „Volksausschuss für rasche Niederkämpfung Englands“. Der „brillante Wissenschaftler“, als den ihn die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität nach wie vor feiert, nahm seinen Kriegseinsatz ernst, zeterte also über den „ungünstigen Einfluss“ der Homosexualität „auf die Volksvermehrung“ und empfahl Maßnahmen zur „Weckung und Stärkung der Kinderfreudigkeit“. Schließlich wurde an der Front massenhaft gestorben, der Kaiser brauchte neue Soldaten. Kraepelins Tochter, die neben dem Vater Dienst am Kranken tat, verweigerte Toller das Medikament: „Erst das Vaterland verraten und dann so schlapp sein und Schlafmittel verlangen!“
Kraepelins Stellvertreter Ernst Rüdin, das nur nebenbei, erkannte als Gutachter im Prozess gegen den Mörder Kurt Eisners auf „Tyrannenmord“, schließlich sei Eisner ein „Fremdling“ gewesen. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, sechs Wochen nach der Bücherverbrennung erlassen, geht auf Rüdins Arbeit zurück. Auf der Website der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, die unter Kraepelins Leitung entstanden war, wird dieser Krankendienst lieber verschwiegen, dafür bleibt die „Kraepelin’sche Systematik der psychiatrischen Krankheitsbilder unverändert gültig“.
Bei Toller wurde eine „abnorme Neigung, sich hervorzutun“ festgestellt, für ihn selber war es ein Kampf gegen die „Trägheit des Herzens“: „Ich will das Lebendige durchdringen, in welcher Gestalt es sich auch immer zeigt, ich will es mit Liebe umpflügen, aber ich will auch das Erstarrte, wenn es sein muss, umstürzen, um des Geistes willen.“
Geist oder nicht, die Revolution ist überfällig, der Krieg bringt sie nicht, aber die Niederlage. Toller schließt sich Kurt Eisner an. Aus dem Freistaat wird eine nicht kommunistische, dann eine kommunistische Räterepublik. „Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden“, hat Toller eben noch geschrieben, plötzlich ist er „Heerführer“. Der Schauspielerin Tilla Durieux, die ihn mit einer Uniform herumlaufen sieht, kündigt er an, dass sie nicht schießen würden: „Wir werden die feindlichen Soldaten fangen, ihnen die Waffen wegnehmen, sie mit unsern Ideen bekannt machen und daraufhin wieder zurücksenden.“
In einem Keller werden zehn Menschen erschossen, Toller verhindert weitere Morde – „wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein“. Die Reaktion marschiert, an die tausend Menschen sterben bei der Rückeroberung Münchens, werden füsiliert, massakriert, beiläufig totgeschlagen. Auf Tollers Kopf sind zehntausend Reichsmark ausgesetzt. Im Steckbrief heißt es über ihn, er „schließt beim Nachdenken die Augen“. Ein weiterer Makel muss angezeigt werden, er „spricht Schriftdeutsch“. Toller kann sich drei Wochen lang verstecken, flieht von Wohnung zu Unterschlupf, wird doch entdeckt und vor Gericht gestellt. Rudolf Egelhofer und Gustav Landauer werden umgebracht, Eugen Leviné wird hingerichtet. Thomas Mann kann dem Tagebuch seine klammheimliche Freude nicht verhehlen: „Ich habe logisch-menschlich nichts gegen dies Ende eines politischen Fanatikers und Abenteurers der Realität.“ Toller kommt davon, weil er berühmt ist.
Das „Deutschland von Morgen“, dem sein Buch gewidmet ist, wäre das heutige, doch die revolutionäre Begeisterung des nach-Toller’schen Deutschland beschränkt sich auf ein bisschen Reichsbürgertum und „Tagesschau“-taugliche Traktorenaufmärsche. Aber jeder, Mann, Frau, Kind, Greis, kann dessen Buch der verlorenen Illusionen lesen und wieder lesen. „Wer einen Schriftsteller“, das ist jetzt Goethe und nicht Büchner, „der sich und die Sache fühlt, nicht lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen.“ Toller also.
An der Front wird
gestorben, der Kaiser
braucht neue Soldaten
Im Steckbrief heißt es
über ihn, er „schließt beim
Nachdenken die Augen“
Als Exilant: Ernst Toller am 14. September 1933 in London.
Foto: AP
Für die Räterepublik warf sich Ernst Toller in den Kampf: Hier Rotarmisten im April 1919 in der Nähe des Münchner Stachus mit einem Minenwerfer, auf den sie Handgranaten und einen Munitionskasten geladen haben.
Foto: Scherl / SZ PHoto
Ernst Toller:
Eine Jugend in Deutschland. Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Ernst Piper.
Die Andere Bibliothek.
348 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wem die Protestbewegungen heute zu kleinlich sind, der sollte Ernst Toller lesen.
Jetzt erscheint die Neuauflage von „Eine Jugend in Deutschland“.
VON WILLI WINKLER
Was ist’s denn mit eurer Revolution?“ fragte mich Selma zwischendurch.
Oskar Maria Graf, „Wir sind Gefangene.“
Weil die Eltern sich doch sorgten, versichert ihnen der Sohn, dass er sich an den gefährlichen Umtrieben nicht beteiligt habe. Nicht Angst halte ihn davon ab, sondern „weil ich im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachte und nicht die Verblendung derer teile, welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen“. Und damit sie auch wissen, woran sie sind mit ihm, wird er noch mal deutlich: „Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.“ Vier Jahre später war Georg Büchner tot, mit 23.
Ernst Toller war ein anderer Frühvollendeter. Mit 25 Anführer einer Roten Armee, ein paar Wochen lang der Spätwinterkönig von Südbayern, der „Sieger von Dachau“. Eine Zeit lang war er weltberühmt, reiste von Premieren zu Kongressen, schrieb für Hollywood und verfasste Manifeste. Thomas Mann hatte sich aufmerksam bereits über die Gedichte des Studenten gebeugt, Max Weber rühmte an ihm die „absolute Lauterkeit der Absichten“, Rilke schaute ihn an aus traurigen Augen, „dass er ein Dichter war, machte ihn der Polizei verdächtig“.
Toller war gleich ein noch viel schlimmerer Fall, Dichter nicht bloß und traurig, sondern Jude und zu allem Überfluss ein Preuße, einer von diesen Literaten, die von Ludwig Thoma bis Franz Josef Strauß mit Ingrimm verfolgt wurden, weil sie am Ende des Ersten Weltkriegs in München einfielen und unbedingt Revolution machen wollten.
Heute sind seine Gedichte nur schwer erträglich, seine Stücke werden kaum mehr aufgeführt, aber da ist dieses Buch, „Eine Jugend in Deutschland“, revolutionäres Fanal, Menschheitsbeglückung, blühendes Jugendirresein, eine Verzweiflungstat und bei aller Resignation der rare Fall, dass Politik, Geschichte und Poesie zusammengehen.
„Eine Jugend in Deutschland“, 1933 in Amsterdam erschienen, entstand bereits auf der Flucht, die Einleitung schrieb Toller am „Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland“. Joseph Goebbels rundete diesen 10. Mai 1933 mit seiner Ansprache gegen die „jüdischen Asphaltliteraten“ ab und feierte den „Durchbruch der deutschen Revolution“. Opfer dieser ganz besonders deutschen Revolution wurde schließlich auch Toller, der sich 1939 in einem New Yorker Hotel erhängte.
Seine Erinnerungen sind längst gemeinfrei, wer sich das antun will, kann sie umsonst im Netz lesen. Im Internet-Antiquariat kostet die Erstausgabe von 120 Euro an aufwärts, „etw. berieben, etw. schiefgelesen, innen tadellos“. In der „Anderen Bibliothek“ hat Ernst Piper jetzt eine neue Ausgabe herausgebracht, angereichert mit einer hilfreichen Dokumentation. Es kann gar nicht genug Toller geben.
1893 wurde er im heute polnischen Samotschin geboren. Als der Klempnermeister Grun sein Grundstück einem Polen verkauft, geißelt der Schüler Toller den Verfall der Moral: „Die Deutschen sind nicht mehr auf der Wacht, was soll aus dem Vaterland werden.“ Das Vaterland, das liebe, drängt zum Krieg. Die Sozialdemokraten schließen Burgfrieden mit dem Kaiser, die Professoren feiern den Krieg, die Studenten marschieren blumenbekränzt zum Bahnhof. Toller studiert in Frankreich, dann in München. Eben noch trauerten die Zeitungen um den ermordeten Kriegsgegner Jean Jaurès, die Stimmung schlägt um, „man riecht den Krieg“. Im Englischen Garten setzen die Mitbürger Toller nach, weil sein Hut in Lyon hergestellt wurde und er deshalb als Franzos gilt. Er will aber kein Franzos sein und kein Jude, deshalb wird er ganz deutsch. „Französische Flieger, sagt der Reichskanzler, haben Bomben auf bayerisches Land geworfen, Deutschland wurde überfallen, ich glaube es.“ Toller wird Soldat.
Bei dem, was er erlebt, hülfe auch das Stahlgewitter-Pathos von Stoßtruppführer Ernst Jünger nichts mehr. Im Drahtverhau an der Front ist einer hängen geblieben, ein Franzos oder ein Deutscher, keiner weiß es, aber jeder hört es, wie er schreit. „Der Schrei lebt für sich, er klagt die Erde an und den Himmel. Wir pressen die Fäuste an die Ohren, um das Gewimmer nicht zu hören, es hilft nichts, der Schrei dreht sich wie ein Kreisel in unsern Köpfen, er zerdehnt die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Jahren. Wir vertrocknen und vergreisen zwischen Ton und Ton.“ Die Kameraden versuchen ihn zu retten, werden erschossen, er schreit und schreit. „Der Tod stopft ihm den Mund am dritten Tag.“
Der Expressionismus ist nicht nur Vatermord und Frühlings Erwachen, sondern hat den Krieg zum Hintergrund. Der Krieg sorgt fleißig für Tote, so viele, dass keine regelrechte Bestattung mehr möglich ist. „Die Grabdecke ist dünn, zu dünn, von einem toten Soldaten hat der Regen die Erde weggespült, die seine Füße bedeckte, in schauriger Blöße wachsen zwei derbe rindslederne Stiefel aus dem Boden.“ Der Tote, meldet Toller, hatte Schuhgröße 48.
Toller wird krank und gerät in die wenig heilenden Hände des berühmtesten deutschen Psychiaters. Ernst Kraepelin behandelt nicht, sondern agitiert: „Wie können Sie es wagen, die berechtigten Machtansprüche Deutschlands zu leugnen, dieser Krieg wird gewonnen, Deutschland braucht neuen Lebensraum“, herrscht er den kriegszerstörten Patienten an. „Ich lerne, dass es zwei Arten Kranke gibt, die harmlosen liegen in vergitterten klinkenlosen Stuben und heißen Irre, die gefährlichen weisen nach, dass Hunger ein Volk erzieht, und gründen Bünde zur Niederwerfung Englands, sie dürfen die harmlosen einsperren.“
Tatsächlich war Kraepelin Mitgründer bei einem „Volksausschuss für rasche Niederkämpfung Englands“. Der „brillante Wissenschaftler“, als den ihn die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität nach wie vor feiert, nahm seinen Kriegseinsatz ernst, zeterte also über den „ungünstigen Einfluss“ der Homosexualität „auf die Volksvermehrung“ und empfahl Maßnahmen zur „Weckung und Stärkung der Kinderfreudigkeit“. Schließlich wurde an der Front massenhaft gestorben, der Kaiser brauchte neue Soldaten. Kraepelins Tochter, die neben dem Vater Dienst am Kranken tat, verweigerte Toller das Medikament: „Erst das Vaterland verraten und dann so schlapp sein und Schlafmittel verlangen!“
Kraepelins Stellvertreter Ernst Rüdin, das nur nebenbei, erkannte als Gutachter im Prozess gegen den Mörder Kurt Eisners auf „Tyrannenmord“, schließlich sei Eisner ein „Fremdling“ gewesen. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, sechs Wochen nach der Bücherverbrennung erlassen, geht auf Rüdins Arbeit zurück. Auf der Website der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, die unter Kraepelins Leitung entstanden war, wird dieser Krankendienst lieber verschwiegen, dafür bleibt die „Kraepelin’sche Systematik der psychiatrischen Krankheitsbilder unverändert gültig“.
Bei Toller wurde eine „abnorme Neigung, sich hervorzutun“ festgestellt, für ihn selber war es ein Kampf gegen die „Trägheit des Herzens“: „Ich will das Lebendige durchdringen, in welcher Gestalt es sich auch immer zeigt, ich will es mit Liebe umpflügen, aber ich will auch das Erstarrte, wenn es sein muss, umstürzen, um des Geistes willen.“
Geist oder nicht, die Revolution ist überfällig, der Krieg bringt sie nicht, aber die Niederlage. Toller schließt sich Kurt Eisner an. Aus dem Freistaat wird eine nicht kommunistische, dann eine kommunistische Räterepublik. „Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden“, hat Toller eben noch geschrieben, plötzlich ist er „Heerführer“. Der Schauspielerin Tilla Durieux, die ihn mit einer Uniform herumlaufen sieht, kündigt er an, dass sie nicht schießen würden: „Wir werden die feindlichen Soldaten fangen, ihnen die Waffen wegnehmen, sie mit unsern Ideen bekannt machen und daraufhin wieder zurücksenden.“
In einem Keller werden zehn Menschen erschossen, Toller verhindert weitere Morde – „wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein“. Die Reaktion marschiert, an die tausend Menschen sterben bei der Rückeroberung Münchens, werden füsiliert, massakriert, beiläufig totgeschlagen. Auf Tollers Kopf sind zehntausend Reichsmark ausgesetzt. Im Steckbrief heißt es über ihn, er „schließt beim Nachdenken die Augen“. Ein weiterer Makel muss angezeigt werden, er „spricht Schriftdeutsch“. Toller kann sich drei Wochen lang verstecken, flieht von Wohnung zu Unterschlupf, wird doch entdeckt und vor Gericht gestellt. Rudolf Egelhofer und Gustav Landauer werden umgebracht, Eugen Leviné wird hingerichtet. Thomas Mann kann dem Tagebuch seine klammheimliche Freude nicht verhehlen: „Ich habe logisch-menschlich nichts gegen dies Ende eines politischen Fanatikers und Abenteurers der Realität.“ Toller kommt davon, weil er berühmt ist.
Das „Deutschland von Morgen“, dem sein Buch gewidmet ist, wäre das heutige, doch die revolutionäre Begeisterung des nach-Toller’schen Deutschland beschränkt sich auf ein bisschen Reichsbürgertum und „Tagesschau“-taugliche Traktorenaufmärsche. Aber jeder, Mann, Frau, Kind, Greis, kann dessen Buch der verlorenen Illusionen lesen und wieder lesen. „Wer einen Schriftsteller“, das ist jetzt Goethe und nicht Büchner, „der sich und die Sache fühlt, nicht lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen.“ Toller also.
An der Front wird
gestorben, der Kaiser
braucht neue Soldaten
Im Steckbrief heißt es
über ihn, er „schließt beim
Nachdenken die Augen“
Als Exilant: Ernst Toller am 14. September 1933 in London.
Foto: AP
Für die Räterepublik warf sich Ernst Toller in den Kampf: Hier Rotarmisten im April 1919 in der Nähe des Münchner Stachus mit einem Minenwerfer, auf den sie Handgranaten und einen Munitionskasten geladen haben.
Foto: Scherl / SZ PHoto
Ernst Toller:
Eine Jugend in Deutschland. Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Ernst Piper.
Die Andere Bibliothek.
348 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2024Der Revolutionär, der kein Blut vergießen wollte
Der politische Aktivist Ernst Toller könnte nicht aktueller sein: Jetzt erscheint seine Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" als Neuausgabe
Ernst Toller war der Popstar unter den politischen Schriftstellern der Weimarer Republik. Seine Biographie, sein Temperament und nicht zuletzt sein attraktives Aussehen prädestinierten ihn zur romantisch verehrten Heldenfigur. Als Befehlshaber aufständischer Arbeitertruppen hatte er 1919 für die Münchner Räterepublik gekämpft - aber nachweislich versucht, Blutvergießen zu vermeiden. Sobald er auf ein Podium stieg, flogen ihm als feurigem Volksredner die Herzen seiner Zuhörer zu. Als Mann mit spürbarem Charisma hatte er großen Erfolg bei Frauen. Und seine Theaterstücke, die zu Beginn der Zwanzigerjahre in halb Europa und den USA wie Offenbarungen gefeiert wurden, schrieb er in der winzigen Gefängniszelle, in der er fünf Jahre Haft wegen seiner Beteiligung an der Münchner Revolution absitzen musste.
Toller, geboren 1893, war zu beeindruckenden Gesten fähig. Als ihm die bayerischen Behörden angesichts seiner wachsenden Bühnenerfolge die vorzeitige Begnadigung anboten, lehnte er ab. Er wollte nicht besser behandelt werden als seine Kampfgenossen, die mit ihm verurteilt worden waren. Als ein Schwalbenpaar in seiner Zelle nistete, schrieb er ein Gedichtzyklus über diese Gefährten seiner Gefängniseinsamkeit. Und als die Direktion der Haftanstalt das Nest zerstören ließ, verstand er es, den Zyklus zur wirkungsvollen lyrischen Anklage gegen inhumanen Strafvollzug zu machen.
Nach seiner Freilassung 1924 war Tollers Ruhm buchstäblich grenzenlos. Sein Autorenfreund Hermann Kesten, der häufig mit ihm auf Reisen war, berichtete von einem arabischen Chauffeur, der ihn in Tripolis erkannte: "Sie sind Toller!" Von einem Kellner in einem Londoner Pub, der ihm freudig die Hand reichte: "Genosse Toller!" Von einem Flic in einem Pariser Café, der ihn ergriffen begrüßte: "Vous êtes Toller!" Von Studenten, die ihn auf Schultern durch Zagreb trugen. Von Geheimpolizisten Mussolinis, die ihn bei einem Italienbesuch überwachen sollten, ihm aber stattdessen Verse aus seinem Schwalbenzyklus vortrugen.
In den folgenden Weimarer Jahren, die viele Autoren an die extremen Ränder des politischen Spektrums trieb, bekannte er sich konsequent zu Gewaltlosigkeit, Demokratie und einem gemäßigten Sozialismus. Während Brecht oder Anna Seghers, Benn oder Ernst Jünger mit diktatorischen Herrschaftsformen liebäugelten, blieb Toller unbeirrbar Republikaner. Er warnte frühzeitig vor den Nazis und vor den moskautreuen Kommunisten, die er während der Münchner Revolutionskämpfe als brutale Zyniker der Macht kennengelernt hatte. Er begriff sich als ganz und gar unabhängiger Schriftsteller und verließ sowohl die USPD als auch die jüdische Gemeinde, um nur noch seinem persönlichen politischen Kompass verpflichtet zu sein.
Mit seinem hochfliegenden Idealismus und seinen eher tief empfundenen als genau durchdachten Vorstellungen von einer brüderlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung lieferte Toller exakt die deklamatorischen Stücke, nach denen das expressionistische Theater verlangte. Doch sobald die literarische Mode umschlug und betont nüchterne, neusachliche Töne Konjunktur hatten, begann Tollers Stern als Dramatiker zu sinken. Um weiterhin erfolgreich zu sein, war er nun angewiesen auf die Zusammenarbeit mit genialen Regisseuren wie Erwin Piscator oder mit Ko-Autoren wie Walter Mehring, Walter Hasenclever oder Hermann Kesten, die ihre literarischen Mittel bewusster einsetzten als der Instinkt-Schriftsteller Toller.
Seine politischen Ambitionen konnte das nicht bremsen. Im Gegenteil, je seltener seine literarischen Triumphe wurden, desto entschiedener stellte er seine Popularität in den Dienst zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ständig war er unterwegs zu Kongressen, Demonstrationen, Kundgebungen, schrieb Protestnoten, unterzeichnete Resolutionen, gab Interviews, hielt Reden und Vorträge.
In dieser Rolle des unermüdlichen Aktivisten ist Toller eine sehr gegenwartsnahe Figur. Seine weitgespannte politische Agenda und seine rhetorischen Fähigkeiten würden ihn heute zu einem Lieblingsgast aller Talkshows machen: Er engagierte sich für die Rechte der Armen, der Frauen, der Strafgefangenen. Er protestierte gegen die Lynchmorde an Schwarzen in den USA, als sei er ein früher Vertreter der Black-Lives-Matter-Bewegung, und gegen die koloniale Ausbeutung der Länder des globalen Südens, als dieses Thema noch wenig Interesse weckte.
Mit seiner Geliebten Christiane Grautoff dürfte er sich heute allerdings nicht erwischen lassen. Grautoff galt als das Theaterwunderkind von Berlin. Seit sie zwölf war, spielte sie unter Regisseuren wie Max Reinhardt an den besten Bühnen der Stadt oder in Filmen mit Henny Porten und Gustaf Gründgens. Als sie den 23 Jahre älteren Toller kennenlernte, war sie erst 14. Dennoch beschrieb sie ihre Verbindung zu Toller später in ihrer Autobiographie nicht als Missbrauch, sondern als schicksalhafte Liebe. Kurz nach Grautoffs 18. Geburtstag heirateten die beiden in London.
Im Zentrum von Tollers politischem Engagement stand der Kampf gegen die NSDAP. Manche Warnungen, die er damals notierte, sind heute mit Blick auf die AfD wieder aktuell: "Nicht nur Demokraten, auch Sozialisten und Kommunisten neigen zu der Ansicht, man solle Hitler regieren lassen, dann werde er am ehesten 'abwirtschaften'. Dabei vergessen sie, daß die Nationalsozialistische Partei gekennzeichnet ist durch ihren Willen zur Macht und zur Machtbehauptung. Sie wird es sich wohl gefallen lassen, auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie sie wieder abgeben."
Als Hitler dann tatsächlich die Macht übernahm, befand sich Toller auf einer Vortragsreise durch die Schweiz. Nur wenige Tage später brach ein SA-Trupp in seine leere Wohnung ein, wohl um ihn in ein Gefängnis oder einen ihrer Folterkeller zu verschleppen. Ob er diese Begegnung überlebt hätte, ist fraglich.
In diesen Wochen Anfang 1933 beendete er gerade die Arbeit an seiner Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland". Im Gegensatz zu seinen Theaterstücken, die mit ihrem Weltrettungs- und Menschheitspathos heute überlebt wirken, ist dieses Buch literarisch erstaunlich frisch geblieben. Der Historiker Ernst Piper hat es jetzt zusammen mit einigen umsichtig ausgewählten Dokumenten und einem ausführlichen Nachwort neu vorgelegt.
Tollers Lebensbericht reicht von seiner Geburt in einem kleinen Ort bei Posen, wo er als Sohn einer gutsituierten deutsch-jüdischen Familie aufwuchs, bis zu seiner Entlassung aus der Gefängnishaft. In einem knappen, nüchternen Ton beschreibt er die penetrant nationalistische und offen antisemitische Atmosphäre seiner Kindheit. Um den angeblichen Makel seiner jüdischen Herkunft abzustreifen, meldet er sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zum Dienst an einen der mörderischsten Frontabschnitte östlich von Verdun. Was er aus diesem Inferno schildert, erinnern an Szenen aus Erich Maria Remarques Klassiker "Im Westen nichts Neues", der vielen Veteranen überhaupt erst die Sprache lieferte, in der sie von ihren albtraumhaften Erlebnissen in den Schützengräben berichten konnten.
Die größten Qualitäten des Buches liegen in der Beschreibung des revolutionären halben Jahres in Bayern zwischen November 1918 und Mai 1919. Toller schont sich dabei nicht, selbstkritisch schildert er die Illusionen und die Unfähigkeit der aufständischen Arbeiter- und Soldatenräte und ihrer Anführer. Die Lehre aus seinen revolutionären Erfahrungen fällt ebenso skeptisch wie überzeugend aus: "Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschlicher Interessen, kämpfen will, muß klar wissen, daß Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten."
Obwohl die Nazis Tollers Bücher verboten und verbrannt hatten, wurde "Eine Jugend in Deutschland" nach seinem Erscheinen im Amsterdamer Querido Verlag ein großer Erfolg, der erste der Exilliteratur. Toller ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Sein politischer Aktivismus nahm mehr und mehr manische Züge an, unterbrochen durch depressive Phasen. Christiane Grautoff verließ ihn, weil sie seinen hektischen Lebensstil nicht mehr ertrug und auch mit ihrer Arbeit als Schauspielerin nicht vereinbaren konnte. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs brachte sich Ernst Toller in New York um. UWE WITTSTOCK
Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland."
Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Ernst Piper. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024. 345 S., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der politische Aktivist Ernst Toller könnte nicht aktueller sein: Jetzt erscheint seine Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" als Neuausgabe
Ernst Toller war der Popstar unter den politischen Schriftstellern der Weimarer Republik. Seine Biographie, sein Temperament und nicht zuletzt sein attraktives Aussehen prädestinierten ihn zur romantisch verehrten Heldenfigur. Als Befehlshaber aufständischer Arbeitertruppen hatte er 1919 für die Münchner Räterepublik gekämpft - aber nachweislich versucht, Blutvergießen zu vermeiden. Sobald er auf ein Podium stieg, flogen ihm als feurigem Volksredner die Herzen seiner Zuhörer zu. Als Mann mit spürbarem Charisma hatte er großen Erfolg bei Frauen. Und seine Theaterstücke, die zu Beginn der Zwanzigerjahre in halb Europa und den USA wie Offenbarungen gefeiert wurden, schrieb er in der winzigen Gefängniszelle, in der er fünf Jahre Haft wegen seiner Beteiligung an der Münchner Revolution absitzen musste.
Toller, geboren 1893, war zu beeindruckenden Gesten fähig. Als ihm die bayerischen Behörden angesichts seiner wachsenden Bühnenerfolge die vorzeitige Begnadigung anboten, lehnte er ab. Er wollte nicht besser behandelt werden als seine Kampfgenossen, die mit ihm verurteilt worden waren. Als ein Schwalbenpaar in seiner Zelle nistete, schrieb er ein Gedichtzyklus über diese Gefährten seiner Gefängniseinsamkeit. Und als die Direktion der Haftanstalt das Nest zerstören ließ, verstand er es, den Zyklus zur wirkungsvollen lyrischen Anklage gegen inhumanen Strafvollzug zu machen.
Nach seiner Freilassung 1924 war Tollers Ruhm buchstäblich grenzenlos. Sein Autorenfreund Hermann Kesten, der häufig mit ihm auf Reisen war, berichtete von einem arabischen Chauffeur, der ihn in Tripolis erkannte: "Sie sind Toller!" Von einem Kellner in einem Londoner Pub, der ihm freudig die Hand reichte: "Genosse Toller!" Von einem Flic in einem Pariser Café, der ihn ergriffen begrüßte: "Vous êtes Toller!" Von Studenten, die ihn auf Schultern durch Zagreb trugen. Von Geheimpolizisten Mussolinis, die ihn bei einem Italienbesuch überwachen sollten, ihm aber stattdessen Verse aus seinem Schwalbenzyklus vortrugen.
In den folgenden Weimarer Jahren, die viele Autoren an die extremen Ränder des politischen Spektrums trieb, bekannte er sich konsequent zu Gewaltlosigkeit, Demokratie und einem gemäßigten Sozialismus. Während Brecht oder Anna Seghers, Benn oder Ernst Jünger mit diktatorischen Herrschaftsformen liebäugelten, blieb Toller unbeirrbar Republikaner. Er warnte frühzeitig vor den Nazis und vor den moskautreuen Kommunisten, die er während der Münchner Revolutionskämpfe als brutale Zyniker der Macht kennengelernt hatte. Er begriff sich als ganz und gar unabhängiger Schriftsteller und verließ sowohl die USPD als auch die jüdische Gemeinde, um nur noch seinem persönlichen politischen Kompass verpflichtet zu sein.
Mit seinem hochfliegenden Idealismus und seinen eher tief empfundenen als genau durchdachten Vorstellungen von einer brüderlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung lieferte Toller exakt die deklamatorischen Stücke, nach denen das expressionistische Theater verlangte. Doch sobald die literarische Mode umschlug und betont nüchterne, neusachliche Töne Konjunktur hatten, begann Tollers Stern als Dramatiker zu sinken. Um weiterhin erfolgreich zu sein, war er nun angewiesen auf die Zusammenarbeit mit genialen Regisseuren wie Erwin Piscator oder mit Ko-Autoren wie Walter Mehring, Walter Hasenclever oder Hermann Kesten, die ihre literarischen Mittel bewusster einsetzten als der Instinkt-Schriftsteller Toller.
Seine politischen Ambitionen konnte das nicht bremsen. Im Gegenteil, je seltener seine literarischen Triumphe wurden, desto entschiedener stellte er seine Popularität in den Dienst zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ständig war er unterwegs zu Kongressen, Demonstrationen, Kundgebungen, schrieb Protestnoten, unterzeichnete Resolutionen, gab Interviews, hielt Reden und Vorträge.
In dieser Rolle des unermüdlichen Aktivisten ist Toller eine sehr gegenwartsnahe Figur. Seine weitgespannte politische Agenda und seine rhetorischen Fähigkeiten würden ihn heute zu einem Lieblingsgast aller Talkshows machen: Er engagierte sich für die Rechte der Armen, der Frauen, der Strafgefangenen. Er protestierte gegen die Lynchmorde an Schwarzen in den USA, als sei er ein früher Vertreter der Black-Lives-Matter-Bewegung, und gegen die koloniale Ausbeutung der Länder des globalen Südens, als dieses Thema noch wenig Interesse weckte.
Mit seiner Geliebten Christiane Grautoff dürfte er sich heute allerdings nicht erwischen lassen. Grautoff galt als das Theaterwunderkind von Berlin. Seit sie zwölf war, spielte sie unter Regisseuren wie Max Reinhardt an den besten Bühnen der Stadt oder in Filmen mit Henny Porten und Gustaf Gründgens. Als sie den 23 Jahre älteren Toller kennenlernte, war sie erst 14. Dennoch beschrieb sie ihre Verbindung zu Toller später in ihrer Autobiographie nicht als Missbrauch, sondern als schicksalhafte Liebe. Kurz nach Grautoffs 18. Geburtstag heirateten die beiden in London.
Im Zentrum von Tollers politischem Engagement stand der Kampf gegen die NSDAP. Manche Warnungen, die er damals notierte, sind heute mit Blick auf die AfD wieder aktuell: "Nicht nur Demokraten, auch Sozialisten und Kommunisten neigen zu der Ansicht, man solle Hitler regieren lassen, dann werde er am ehesten 'abwirtschaften'. Dabei vergessen sie, daß die Nationalsozialistische Partei gekennzeichnet ist durch ihren Willen zur Macht und zur Machtbehauptung. Sie wird es sich wohl gefallen lassen, auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie sie wieder abgeben."
Als Hitler dann tatsächlich die Macht übernahm, befand sich Toller auf einer Vortragsreise durch die Schweiz. Nur wenige Tage später brach ein SA-Trupp in seine leere Wohnung ein, wohl um ihn in ein Gefängnis oder einen ihrer Folterkeller zu verschleppen. Ob er diese Begegnung überlebt hätte, ist fraglich.
In diesen Wochen Anfang 1933 beendete er gerade die Arbeit an seiner Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland". Im Gegensatz zu seinen Theaterstücken, die mit ihrem Weltrettungs- und Menschheitspathos heute überlebt wirken, ist dieses Buch literarisch erstaunlich frisch geblieben. Der Historiker Ernst Piper hat es jetzt zusammen mit einigen umsichtig ausgewählten Dokumenten und einem ausführlichen Nachwort neu vorgelegt.
Tollers Lebensbericht reicht von seiner Geburt in einem kleinen Ort bei Posen, wo er als Sohn einer gutsituierten deutsch-jüdischen Familie aufwuchs, bis zu seiner Entlassung aus der Gefängnishaft. In einem knappen, nüchternen Ton beschreibt er die penetrant nationalistische und offen antisemitische Atmosphäre seiner Kindheit. Um den angeblichen Makel seiner jüdischen Herkunft abzustreifen, meldet er sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zum Dienst an einen der mörderischsten Frontabschnitte östlich von Verdun. Was er aus diesem Inferno schildert, erinnern an Szenen aus Erich Maria Remarques Klassiker "Im Westen nichts Neues", der vielen Veteranen überhaupt erst die Sprache lieferte, in der sie von ihren albtraumhaften Erlebnissen in den Schützengräben berichten konnten.
Die größten Qualitäten des Buches liegen in der Beschreibung des revolutionären halben Jahres in Bayern zwischen November 1918 und Mai 1919. Toller schont sich dabei nicht, selbstkritisch schildert er die Illusionen und die Unfähigkeit der aufständischen Arbeiter- und Soldatenräte und ihrer Anführer. Die Lehre aus seinen revolutionären Erfahrungen fällt ebenso skeptisch wie überzeugend aus: "Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschlicher Interessen, kämpfen will, muß klar wissen, daß Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten."
Obwohl die Nazis Tollers Bücher verboten und verbrannt hatten, wurde "Eine Jugend in Deutschland" nach seinem Erscheinen im Amsterdamer Querido Verlag ein großer Erfolg, der erste der Exilliteratur. Toller ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Sein politischer Aktivismus nahm mehr und mehr manische Züge an, unterbrochen durch depressive Phasen. Christiane Grautoff verließ ihn, weil sie seinen hektischen Lebensstil nicht mehr ertrug und auch mit ihrer Arbeit als Schauspielerin nicht vereinbaren konnte. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs brachte sich Ernst Toller in New York um. UWE WITTSTOCK
Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland."
Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Ernst Piper. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024. 345 S., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anders als viele Theaterstücke Ernst Tollers ist diese jetzt neu aufgelegte autobiografische Schrift gut gealtert, so Uwe Wittstock, dessen Rezension hauptsächlich den Lebensweg des Autors nachzeichnet, der in der Weimarer Republik zu einem Popstar der engagierten Literatur avancierte und später aus dem Exil gegen die NSDAP anschrieb. Nüchtern schreibt Toller über sein Leben, besonders wichtig ist für das Buch die kurze Zeit der Räterepublik, die Passagen zum Ersten Weltkrieg wiederum lassen Wittstock an Erich Maria Remarque denken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein Buch voller Klugheit, Witz und Action, das auf unvergleichliche Weise von Dingen erzählt, die aktueller nicht sein könnten: Krieg und Tod, Staat und Revolution, Widerstand und Poesie. Ein Geschenk!« Uli Hufen WDR 3 20240112