Freud hat seine 1910 veröffentlichte Leonardo-Studie später einmal »die einzige hübsche Sache« genannt, die er je geschrieben habe. Es ist tatsächlich so, als habe jenes berühmte »berückende und rätselhafte Lächeln« der Mona Lisa den gesamten Text verzaubert. Wenn jemand, so heißt es am Schluß, ihm vorwürfe, das Ganze sei nicht mehr als »ein psychoanalytischer Roman«, wolle er gerne einräumen, daß auch er »die Sicherheit dieser Ergebnisse gewiß nicht überschätze«.Fasziniert vom Doppelgenie seines Helden, nämlich zugleich Forscher und Künstler gewesen zu sein, benutzte er eine von Leonardo mitgeteilte Kindheitserinnerung, um mit deren schrittweiser Deutung dessen gefährdete Produktivität und gehemmte Homosexualität verständlich zu machen sowie das Geheimnis des »leonardesken« Lächelns zu ergründen. Im Brennpunkt der Deutung steht Leonardos frühe Beziehung zur überzärtlichen Mutter, die ihn, den nichtehelichen Sohn, »zur erotischen Frühreife emporgeküßt« habe, während der Vater fehlte.Neben den erzählerischen Momenten enthält der Text eine Fülle bedeutender theoretischer Ausführungen: u. a. über den Charakter von Kindheitserinnerungen bzw. Kindheitsphantasien überhaupt, die infantilen Sexualtheorien, also die forschenden Gedanken der kleinen Kinder über die Herkunft der Kinder, ferner über die Genese eines bestimmten Typus von Homosexualität und die Bedingungen der Sublimierung.Selbst renommierte Forscherin auf diesem Gebiet, skizziert Janine Chasseguet-Smirgel in ihrer fesselnden Einleitung u. a. die jüngsten psychoanalytischen Theorien zur Kreativität sowie über die infantile Sexualität und die Entstehung der Perversionen; dabei gelangt sie zu einer anderen Auffassung von Leonardos Doppelproduktivität als Freud.