Eine kleine Geschichte Brasiliens bietet einen fundierten und vorzüglich gegliederten Überblick über die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes von seiner Entdeckung durch die Portugiesen im Jahr 1500 bis zur unmittelbaren Gegenwart - ein Standardwerk für jeden, der das Brasilien von heute verstehen möchte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2000nach brasilien wuld ich laik du go
Dem lyrischen Ich kann geholfen werden: Walther L. Bernecker, Horst Pietschmann und Rüdiger Zoller sind kundige Reiseführer
Obwohl Brasilien sowohl nach Fläche als auch nach Einwohnerzahl der fünftgrößte Staat der Erde ist, blieb das Land lange Zeit ein Stiefkind der historischen Forschung. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten widmeten sich die Historiker verstärkt der brasilianischen Geschichte und schlossen mit einer Flut von Publikationen zahlreiche Forschungslücken. Walther L. Bernecker, Horst Pietschmann und Rüdiger Zoller haben auf der Basis dieser neuen Studien die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Brasiliens von seiner Entdeckung durch die Portugiesen im Jahr 1500 bis zur unmittelbaren Gegenwart nachgezeichnet.
Schon in dem ersten, von Horst Pietschmann geschriebenen Kapitel, das von den Ursprüngen der portugiesischen Seefahrt bis zum Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus Ende des achtzehnten Jahrhunderts reicht, wird deutlich, daß der Buchtitel - "Eine kleine Geschichte Brasiliens" - eine bescheidene Untertreibung ist. Denn Pietschmann beschränkt sich nicht darauf, die Geschehnisse aus der innerbrasilianischen Perspektive zu beleuchten; vielmehr bettet er die einzelnen Ereignisse in den größeren internationalen Kontext. So beginnt seine Darstellung beispielsweise nicht wie die meisten anderen Bücher über die brasilianische Geschichte mit der Landung Cabrals im Jahre 1500, sondern mit einer inhaltlich dichten Beschreibung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, welche die Entdeckung dieses Landes erst ermöglichten (Entstehung der maritimen Tradition Portugals, Fortschritte in der Nautik, Entwicklung Lissabons zu einer internationalen Handelsmetropole, Aufteilung der kolonialen Einflußsphären zwischen Portugal und Kastilien). Dieses Bestreben, möglichst alle Facetten der Entwicklungen zu erfassen, kennzeichnet auch Pietschmanns weitere Ausführungen, sei es über den Aufbau der Verwaltung in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, über den niederländisch-portugiesischen Krieg in Brasilien (1624 bis 1654) oder über die zahlreichen Aufstände einheimischer Bevölkerungsgruppen gegen die Kolonialherren. Durch diese umfassende Betrachtungsweise gelingt es Pietschmann, dem Leser auch mit wenigen Worten bedeutende Personen nahezubringen, so den ersten portugiesischen Generalgouverneur in Brasilien, Tomé de Sousa, oder den Jesuitenpater António Vieira, einen der brillantesten Intellektuellen des kolonialen Brasilien.
Ebenso informativ, wenngleich aus einem etwas engeren Blickwinkel geschrieben, ist der Beitrag von Walther L. Bernecker über Brasilien im neunzehnten Jahrhundert. Darin schildert er insbesondere die ökonomische Entwicklung des Landes, um in intensiver Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur die wirtschaftliche Rückständigkeit erklären zu können. Als wesentliche Gründe für das Ausbleiben der Industrialisierung Brasiliens im neunzehnten Jahrhundert werden die ungleiche Einkommensverteilung, das Fehlen einer protektionistischen Hochzollpolitik, der Mangel an dynamischen Unternehmerpersönlichkeiten und vor allem die geringe Aufnahmefähigkeit des brasilianischen Marktes für Industriegüter angeführt. Ein weiterer Schwerpunkt in Berneckers Beitrag sind der brasilianische Konstitutionalismus und der teilweise erbittert geführte Kampf zwischen Liberalen und Konservativen sowie zwischen Föderalisten und Zentralisten. Wenngleich also die Innenpolitik im Mittelpunkt der Darstellung steht, werden außenpolitische Großereignisse wie der Tripelallianzkrieg (1865 bis 1870) zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay auf der einen und Paraguay auf der anderen Seite angemessen berücksichtigt. Vor allem der Abschnitt, in dem Bernecker die internationalen Komplikationen im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien beschreibt, ist beispielhaft dafür, wie innen- und außenpolitische sowie wirtschaftliche Entwicklungen in ihrer Wechselwirkung dargestellt werden sollten.
Das dritte Kapitel von Rüdiger Zoller trägt die Überschrift "Präsidenten - Diktatoren - Erlöser: Das lange zwanzigste Jahrhundert". Angesichts der bedeutenden Rolle, welche die Armee im zwanzigsten Jahrhundert in Brasilien spielte, ist es naheliegend, daß die Entstehung des sogenannten tenentismo - der Leutnantsbewegung in den zwanziger Jahren, die sich für die Errichtung eines starken Staates zur Behebung der wirtschaftlichen Rückständigkeit einsetzte - einen Schwerpunkt bildet. Breiten Raum nimmt auch die Beschreibung der wirtschaftlichen Entwicklung ein, die mit ihren zahlreichen Krisen ein wesentlicher Grund für den häufigen Wechsel zwischen Demokratie und Militärdiktatur war. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, daß Zoller die meisten der wahrlich nicht wenigen brasilianischen Machthaber im zwanzigsten Jahrhundert mit ihren Leistungen und Verfehlungen näher beschreibt. Wenn es in diesem Kapitel vielleicht etwas zu bemängeln gibt, dann sind es die insgesamt etwas knapp gehaltenen Ausführungen zur Außenpolitik, insbesondere zur Rolle Brasiliens in den beiden Weltkriegen.
Dennoch besteht kein Zweifel daran, daß das vorliegende Buch über Jahre hinaus ein Standardwerk zur brasilianischen Geschichte sein wird. Der umfangreiche Anhang, der unter anderem eine ausführliche Zeittafel, zahlreiche Wirtschaftsdaten sowie eine Liste mit allen Staatsoberhäuptern enthält, ist ein weiterer Beleg dafür, daß die Autoren mit großer Sorgfalt gearbeitet haben.
NILS HAVEMANN
Walther L. Bernecker, Horst Pietschmann, Rüdiger Zoller: "Eine kleine Geschichte Brasiliens". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 368 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dem lyrischen Ich kann geholfen werden: Walther L. Bernecker, Horst Pietschmann und Rüdiger Zoller sind kundige Reiseführer
Obwohl Brasilien sowohl nach Fläche als auch nach Einwohnerzahl der fünftgrößte Staat der Erde ist, blieb das Land lange Zeit ein Stiefkind der historischen Forschung. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten widmeten sich die Historiker verstärkt der brasilianischen Geschichte und schlossen mit einer Flut von Publikationen zahlreiche Forschungslücken. Walther L. Bernecker, Horst Pietschmann und Rüdiger Zoller haben auf der Basis dieser neuen Studien die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Brasiliens von seiner Entdeckung durch die Portugiesen im Jahr 1500 bis zur unmittelbaren Gegenwart nachgezeichnet.
Schon in dem ersten, von Horst Pietschmann geschriebenen Kapitel, das von den Ursprüngen der portugiesischen Seefahrt bis zum Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus Ende des achtzehnten Jahrhunderts reicht, wird deutlich, daß der Buchtitel - "Eine kleine Geschichte Brasiliens" - eine bescheidene Untertreibung ist. Denn Pietschmann beschränkt sich nicht darauf, die Geschehnisse aus der innerbrasilianischen Perspektive zu beleuchten; vielmehr bettet er die einzelnen Ereignisse in den größeren internationalen Kontext. So beginnt seine Darstellung beispielsweise nicht wie die meisten anderen Bücher über die brasilianische Geschichte mit der Landung Cabrals im Jahre 1500, sondern mit einer inhaltlich dichten Beschreibung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, welche die Entdeckung dieses Landes erst ermöglichten (Entstehung der maritimen Tradition Portugals, Fortschritte in der Nautik, Entwicklung Lissabons zu einer internationalen Handelsmetropole, Aufteilung der kolonialen Einflußsphären zwischen Portugal und Kastilien). Dieses Bestreben, möglichst alle Facetten der Entwicklungen zu erfassen, kennzeichnet auch Pietschmanns weitere Ausführungen, sei es über den Aufbau der Verwaltung in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, über den niederländisch-portugiesischen Krieg in Brasilien (1624 bis 1654) oder über die zahlreichen Aufstände einheimischer Bevölkerungsgruppen gegen die Kolonialherren. Durch diese umfassende Betrachtungsweise gelingt es Pietschmann, dem Leser auch mit wenigen Worten bedeutende Personen nahezubringen, so den ersten portugiesischen Generalgouverneur in Brasilien, Tomé de Sousa, oder den Jesuitenpater António Vieira, einen der brillantesten Intellektuellen des kolonialen Brasilien.
Ebenso informativ, wenngleich aus einem etwas engeren Blickwinkel geschrieben, ist der Beitrag von Walther L. Bernecker über Brasilien im neunzehnten Jahrhundert. Darin schildert er insbesondere die ökonomische Entwicklung des Landes, um in intensiver Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur die wirtschaftliche Rückständigkeit erklären zu können. Als wesentliche Gründe für das Ausbleiben der Industrialisierung Brasiliens im neunzehnten Jahrhundert werden die ungleiche Einkommensverteilung, das Fehlen einer protektionistischen Hochzollpolitik, der Mangel an dynamischen Unternehmerpersönlichkeiten und vor allem die geringe Aufnahmefähigkeit des brasilianischen Marktes für Industriegüter angeführt. Ein weiterer Schwerpunkt in Berneckers Beitrag sind der brasilianische Konstitutionalismus und der teilweise erbittert geführte Kampf zwischen Liberalen und Konservativen sowie zwischen Föderalisten und Zentralisten. Wenngleich also die Innenpolitik im Mittelpunkt der Darstellung steht, werden außenpolitische Großereignisse wie der Tripelallianzkrieg (1865 bis 1870) zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay auf der einen und Paraguay auf der anderen Seite angemessen berücksichtigt. Vor allem der Abschnitt, in dem Bernecker die internationalen Komplikationen im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien beschreibt, ist beispielhaft dafür, wie innen- und außenpolitische sowie wirtschaftliche Entwicklungen in ihrer Wechselwirkung dargestellt werden sollten.
Das dritte Kapitel von Rüdiger Zoller trägt die Überschrift "Präsidenten - Diktatoren - Erlöser: Das lange zwanzigste Jahrhundert". Angesichts der bedeutenden Rolle, welche die Armee im zwanzigsten Jahrhundert in Brasilien spielte, ist es naheliegend, daß die Entstehung des sogenannten tenentismo - der Leutnantsbewegung in den zwanziger Jahren, die sich für die Errichtung eines starken Staates zur Behebung der wirtschaftlichen Rückständigkeit einsetzte - einen Schwerpunkt bildet. Breiten Raum nimmt auch die Beschreibung der wirtschaftlichen Entwicklung ein, die mit ihren zahlreichen Krisen ein wesentlicher Grund für den häufigen Wechsel zwischen Demokratie und Militärdiktatur war. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, daß Zoller die meisten der wahrlich nicht wenigen brasilianischen Machthaber im zwanzigsten Jahrhundert mit ihren Leistungen und Verfehlungen näher beschreibt. Wenn es in diesem Kapitel vielleicht etwas zu bemängeln gibt, dann sind es die insgesamt etwas knapp gehaltenen Ausführungen zur Außenpolitik, insbesondere zur Rolle Brasiliens in den beiden Weltkriegen.
Dennoch besteht kein Zweifel daran, daß das vorliegende Buch über Jahre hinaus ein Standardwerk zur brasilianischen Geschichte sein wird. Der umfangreiche Anhang, der unter anderem eine ausführliche Zeittafel, zahlreiche Wirtschaftsdaten sowie eine Liste mit allen Staatsoberhäuptern enthält, ist ein weiterer Beleg dafür, daß die Autoren mit großer Sorgfalt gearbeitet haben.
NILS HAVEMANN
Walther L. Bernecker, Horst Pietschmann, Rüdiger Zoller: "Eine kleine Geschichte Brasiliens". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 368 S., br., 24,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Nils Havemann ist der Ansicht, dass der Titel des Buchs eine "bescheidene Untertreibung" ist. Vielmehr ist er sich sicher, dass der Band "über Jahre hinaus ein Standardwerk zur brasilianischen Geschichte sein wird". So lobt er an dem Kapitel von Horst Pietschmann, dass er die Geschichte der Seefahrt nicht nur anhand einiger Ereignisse schildert, sondern auch die Rahmenbedingungen berücksichtigt, ohne die die Entdeckung Brasiliens nicht möglich gewesen wäre (z. B. die Geschichte Portugals, technische Fortschritte etc.). Geradezu "beispielhaft" dargestellt findet Havemann die Wechselwirkungen von Politik und Wirtschaft in Walther L. Berneckers Beitrag über Brasilien im neunzehnten Jahrhundert, in dem dieser der Frage nachgehe, wieso die Industrialisierung dort nur schleppend voran kam. An Rüdiger Zollgers Beitrag "Präsidenten - Diktatoren - Erlöser" lobt der Rezensent vor allem, dass er etliche der zahlreichen Machthaber im zwanzigsten Jahrhundert porträtiert und auch die wirtschaftlichen Ursachen für die häufigen Militärdiktaturen aufgezeigt hat. Allerdings hätte sich der Rezensent mehr Informationen über die brasilianische Außenpolitik, insbesondere zur Zeit der Weltkriege gewünscht. Zum Schluss lobt Havemann den Anhang des Buchs, der sich u. a. durch zahlreiche Daten und eine Zeittafel auszeichne.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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